Kommentar

Im falschen Film

20.10.2022   Lesezeit: 4 min

Der World Health Summit und die globale Gesundheitskrise.

Von Anne Jung

Vielleicht erinnern Sie sich an einen der Schlüsselmomente aus dem Roman 1984, in dem Big Brother mit sanfter Stimme auf den überall angebrachten Bildschirmen vermeintliche Gewissheiten negiert, die tags zuvor als absolute Wahrheit verkündet wurden. Diese Szene kam mir während der Eröffnungszeremonie des World Health Summit in Berlin in den Sinn: Bundeskanzler Scholz lobte den guten Umgang Deutschlands mit der Covid-19-Pandemie. Er sprach darüber, wie hervorragend die Bundesregierung, eingebunden in ein Netzwerk aus wissenschaftlicher Expertise, der Pandemie begegnet sei. Man muss nicht Gesundheitsreferentin bei medico international sein, um zu wissen, dass Menschen in Hunderten Ländern im Globalen Süden zu einer anderen Einschätzung gelangen würden. Würde man sie fragen.

Denn der Bundeskanzler lässt unerwähnt, dass Millionen Menschen schlagartig arbeitslos wurden, nachdem deutsche und europäische Textilunternehmen ihre bestellten Waren in Bangladesch und anderswo nicht abholten und auch nicht bezahlten, nachdem die Geschäfte hierzulande lockdownbedingt schlossen. Er blendet aus, dass Vertreter:innen der Bundesregierung und der EU-Kommission in TV-Ansprachen zwar mit sanfter Stimme betonten, dass die globale Gesundheit und damit auch die Impfstoffe ein universelles, globales Gut seien, im gleichen Atemzug jedoch dafür sorgten, dass die Herstellung und der Vertrieb der Impfstoffe unter privatwirtschaftlicher Kontrolle blieben. Hierzulande wurde gehortet, während die Länder des globalen Südens in die Position der Hilfsabhängen gebracht wurden, die auf Spenden warten mussten anstatt selbst zu produzieren.

Das Rechercheportal Abgeordnetenwatch hat kürzlich darauf hingewiesen, dass die Bundesregierung in der Frage der Impfstoffpatente ihre Politik ganz am Interesse der Pharmaindustrie ausgerichtet hat. Nach einem nicht protokollierten Gespräch schrieb Biontech-Mitgründer Şahin an die damalige Bundeskanzlerin: „Haben Sie herzlichen Dank für Ihre Unterstützung. Anbei der Text, den wir derzeit in unserer Kommunikation verwenden, mit den Argumenten, warum eine Freigabe von Patenten nicht sinnvoll ist.“ Kurz darauf ließ die Kanzlerin verlauten: „Eine politisch erwirkte Freigabe der Patente halte ich für den falschen Weg.“ Stattdessen führte sie die Argumente der Pharmaindustrie an.

„Mit bis zu 850 Millionen Euro unterstützen wir Länder in Afrika und im Nahen Osten, damit sie gespendete Impfstoffe auch wirklich verimpft bekommen“, sagt der Bundeskanzler zur Eröffnung des World Health Summit. Er sagt nicht, dass das Problem der Verteilung entstand, weil aus Deutschland Impfdosen kurz vor Ablauf des Verfallsdatums exportiert wurden, die hier keiner mehr haben wollte und dann die Zeit für deine flächendeckende Verteilung nicht ausreichte.

Er erwähnt die eigene Impfstoffproduktion in Afrika, ohne zu sagen, dass das Wissen zur Herstellung weiter in Europa und dem Globalen Norden verbleibt, wo die Gewinne der Pharmaunternehmen die Milliardengrenzen zigfach überschreiten. Die vielen Initiativen aus den Ländern des globalen Südens für eine Veränderung der globalen Gesundheitsarchitektur im Ganzen bleiben unerwähnt.

Eine Eröffnungsrede ist nicht gleichzusetzen mit einem Kongress. Aber sie setzt den Ton. Es lohnt ein Blick zurück, um zu verstehen, was dieser World Health Summit ist, bei dem auf Einladung der Berliner Charité 2022 erstmalig auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) selbst als Mitveranstalterin dabei ist. Als diese Konferenz 2009 zum ersten Mal stattfand, wurde sie von kritischen Stimmen in der WHO und einem Bündnis von Gesundheits-NGOs noch kritisch begleitet. Joseph Ackermann, damals Chef der Deutschen Bank, hielt die Auftaktrede – ein wenig subtiler Hinweis darauf, dass es darum ging, die Zusammenarbeit mit der Industrie bei Fragen der globalen Gesundheit auszuweiten. Bereits damals warnten viele Stimmen davor, dass die offenkundigen Interessenskonflikte zwischen den Gesundheitsbedürfnissen der Menschen und den Profitinteressen der Industrie große Risiken mit sich bringen. Weil Freihandelsabkommen nicht auf die gesundheitlichen Auswirkungen hin überprüft werden, weil Pharmakonzerne an Patenten festhalten, weil externe Geldgeber die Agenda bestimmen.

Der Offenheit der Kongressverantwortlichen für Kooperationen mit der Pharmaindustrie hat das keinen Abbruch getan. Die Liste der diesjährigen Sponsoren liest sich wie das Who is Who der Branche: Johnson & Johnson. Pfizer. Roche. Sanofi. Bayer. Abbott. Irritierend, dass die WHO Mitveranstalterin des Summit geworden ist. Haben sich mit der hier zum Ausdruck kommenden  Nähe zwischen WHO und Industrie schlicht die Kräfte durchgesetzt, die den vielfach beschriebenen Interessenkonflikt konsequent ignorieren und damit entpolitisieren? Oder ist es als Konsequenz der bisher vergeblichen Bemühungen zu lesen, Regierungen in der Pandemie zu der Regulierung von Pharmaunternehmen zu bewegen? Denn der von der WHO zum Beginn der Pandemie vorgeschlagene Technologietransfer (C-Tap) ist krachend am Widerstand der Pharmaindustrie und der großen Industrienationen gescheitert.

Das schreibt sich so lapidar. Aber es geht hier nicht um eine x-beliebige Sportveranstaltung, sondern um globale Gesundheitspolitik. Natürlich kommen in Berlin auch kritische Stimmen zu Wort, der Kongress hat sich in den letzten Jahren auch gegenüber seinen Kritiker:innen geöffnet. Ist dies mehr als eine Umarmungstrategie? Wo ist der Ort, um die Pharmaindustrie offen mit der Forderung nach einer Regulierung ihrer Macht im öffentlichen Interesse zu konfrontieren? Wo wird darüber gestritten, wie eine global gedachte Gesundheitspolitik nach menschenrechtlichen Prinzipien und nicht nach privatwirtschaftlichen Interessen ausgerichtet werden kann?

In Zeiten von Pandemie, Kriegen und Klimakrise wäre es eigentlich höchste Zeit, über Gesundheitspolitiken im Spiegel großer Entwürfe global gerechteren Zusammenlebens nachzudenken. Nicht unwahrscheinlich, dass diesen Forderungen vor der Tür des World Heath Summit mehr Nachdruck verleihen werden könnte als auf dem Kongress selbst.

Anne Jung (Foto: medico)

Anne Jung leitet die Öffentlichkeitsarbeit bei medico international. Die Politikwissenschaftlerin ist außerdem zuständig für das Thema Globale Gesundheit sowie Entschädigungsdebatten, internationale Handelsbeziehungen und Rohstoffe.

Twitter: @annejung_mi


Jetzt spenden!