Israel

Im Schatten des Krieges

28.05.2024   Lesezeit: 6 min

medico-Partnerorganisationen gehen gegen Folter und unmenschliche Haftbedingungen in Israel vor.

Von Birte Brodkorb

Ununterbrochen gefesselt und den extremen Temperaturen der Wüste ungeschützt ausgeliefert, werden sie unter freiem Himmel in Käfigen gehalten. Sie müssen auf dem Boden schlafen, bekommen nur geringe Mengen an Nahrung und müssen in Windeln defäkieren. Amputationen von Körperteilen als Folge der engen Fesseln sind an der Tagesordnung. Das jedenfalls geht aus dem Brief eines Militärarztes hervor, den die israelische Tageszeitung Haaretz Anfang April veröffentlichte. Der Arzt beschreibt darin die Haftbedingungen für seit dem 7. Oktober 2023 festgenommene Personen aus dem Gazastreifen im israelischen Militärlager Sde Teman in der Wüste Negev. Vor Ort überprüft werden konnten dieser und ähnliche Berichte bislang nicht, da Anwält:innen, Journalist:innen und sogar dem Internationalen Roten Kreuz (IKRK) der Zugang zu Militärlagern wie diesem verweigert wird.

Doch einige der Gefangenen wurden bereits wieder in den Gazastreifen entlassen, da sich der Verdacht terroristischer Handlungen nicht bestätigt hat. Anhand ihrer Berichte kommt der Horror dieser Militärlager nach und nach ans Licht: Die Ex-Häftlinge berichten von routinemäßigen Akten schwerer Folter. Adnan Al-Barsh, ein zuvor im Gazastreifen tätiger Arzt, kam in der Haft ums Leben. Augenzeugen berichten, dass er aufgrund der Inhaftierung in schlechter Verfassung gewesen sei. Er ist einer von mindestens 27 palästinensischen Gefangenen, die Medienberichten zufolge seit dem 7. Oktober in israelischen Gefängnissen und Militärlagern gestorben sind. Über die genauen Todesumstände geben die Behörden nichts bekannt.

Menschenrechtsverletzungen mit System

Auch wir vom Public Committee against Torture in Israel (Öffentliches Kommittee gegen Folter in Israel, kurz PCATI) bekommen keinen Zugang zu den Militärlagern. Auf der Grundlage unserer jahrelangen Erfahrung halten wir die Berichte des Militärarztes und der ehemaligen Häftlinge jedoch für glaubwürdig. PCATI leistet seit 1990 Rechtsbeistand in Folterfällen. Denn die Situation vor allem palästinensischer Gefangener hat sich zwar nach dem 7. Oktober noch einmal dramatisch verschlechtert. Doch bereits seit Jahrzehnten dokumentieren Organisationen wie PCATI Menschenrechtsverletzungen an Gefangenen in israelischen Haftanstalten. Ein Anwaltsteam von PCATI besucht regelmäßig Häftlinge, die möglicherweise Folter oder anderen Misshandlungen ausgesetzt sind. Es nimmt Opferaussagen auf, begutachtet die Häftlinge und deren Haftbedingungen und bringt substanziierte Fälle vor Gericht. PCATI hält sich dabei strikt an die Definition der UN-Antifolterkonvention von 1984, die auch Israel unterschrieben hat.

Daten, die in jahrzehntelanger Arbeit von PCATI gesammelt wurden, zeigen, dass Verletzungen grundlegender Menschenrechte von Palästinenser:innen in israelischen Einrichtungen System haben. Die regelmäßige Inhaftierung von Bewohner:innen der besetzten palästinensischen Gebiete ist ein Instrument der israelischen Besatzung, um die Kontrolle und Unterordnung der palästinensischen Zivilbevölkerung zu erzwingen. Bei den Inhaftierten handelt es sich hauptsächlich um junge Männer im Alter von 19 bis 30 Jahren, aber auch Ältere, Frauen und Minderjährige ab zwölf Jahren sind darunter. Oft werden die Festnahmen während traumatisierender nächtlicher Razzien in Familienhäusern durchgeführt.

Gefangene erhalten nicht erst seit dem 7. Oktober nur eine eingeschränkte medizinische Versorgung, die oft langfristig nachteilige Auswirkungen auf ihre körperliche und geistige Gesundheit hat. Sicherheitsgefangenen ist nur sehr begrenzter Kontakt zur Außenwelt erlaubt, sie sind nahezu isoliert. Telefongespräche sind untersagt und Familienbesuche selten. Dass palästinensische Sicherheitsgefangene in Gefängnissen innerhalb der Grenzen Israels festgehalten werden, verstößt gegen das internationale Völkerrecht und erschwert es Familienmitgliedern zusätzlich, sie zu besuchen. Viele Gefangene befinden sich in absoluter Isolationshaft. Nach einer Militärverordnung kann es palästinensischen Sicherheitsgefangenen bis zu 60 Tagen lang verweigert werden, einen Anwalt zu sehen. Nicht wenige der Festgenommenen werden gefoltert und misshandelt. Minderjährige werden grundsätzlich unter denselben Bedingungen wie Erwachsene inhaftiert und sind ebenfalls Misshandlungen ausgesetzt.

Rechtskämpfe

1999 erzielte PCATI ein wegweisendes Urteil des höchsten israelischen Gerichtshofes, das die Verwendung verschiedener Foltermethoden untersagte, die bis dahin systematisch von der Israelischen Sicherheitsagentur (ISA – auch bekannt als Schabak oder Schin Bet) angewendet worden waren. Dieses Urteil wurde jedoch allmählich ausgehöhlt. Die ISA setzt bis heute unter dem Vorwand des „rechtfertigenden Notstands“ sogenannte verstärkte Verhörmethoden bei Sicherheitsgefangenen ein. Sie werden bedroht, geschlagen, über Stunden hinweg in schmerzhafte Stresspositionen gezwängt und langwierigem Schlafentzug ausgesetzt, um Informationen über mutmaßliche terroristische Aktivitäten zu erhalten oder ein Geständnis zu erzwingen. Es handelt sich dabei nicht um Einzelfälle, sondern um ein staatlich gestütztes System.

Seit 2001 haben PCATI sowie andere Menschenrechtsorganisationen und Anwält:innen mehr als 1.450 Beschwerden wegen Folter beim israelischen Justizministerium eingereicht. In nur drei der Fällen wurden Ermittlungen eröffnet und keine der Beschwerden hat je zu einer Anklage geführt. Diese Daten legen eine pauschale und staatlich gewollte Straflosigkeit für Foltertaten nahe, die durch Staatsbedienstete verübt werden. Dadurch wird die Begehung solcher Taten immer weiter begünstigt. Die Regierung Israels hat bisher auch kein absolutes Folterverbot erlassen, obwohl sich Israel durch die UN-Antifolterkonvention von 1984 dazu verpflichtet hat.

Seit dem Angriff der Hamas auf israelische Gemeinden am 7. Oktober 2023 haben sich die Haftbedingungen palästinensischer Inhaftierter in israelischen Einrichtungen noch einmal deutlich verschlechtert. Eine Verhaftungswelle im Westjordanland hat die Anzahl der Sicherheitsgefangenen mehr als verdoppelt: von durchschnittlich etwa 4.000 auf nunmehr über 9.500 – darunter etwa 80 Frauen und 200 Minderjährige. Dies führt zu enormen Überbelegungen und katastrophalen sanitären Bedingungen. Der israelische Gefängnisdienst (Israel Prison Service – IPS) hat zudem einen Ausnahmezustand verhängt mit der Folge, dass die Strom- und Wasserversorgung der Zellen zum Teil gesperrt und Zugang zu dringend benötigter medizinischer Versorgung beschränkt ist. In Zusammenarbeit mit anderen Menschenrechtsorganisationen hat PCATI Ende 2023 deswegen Beschwerde beim Obersten Gerichtshof eingereicht. Sie wurde mit Verweis auf die aktuelle Kriegssituation abgelehnt.

Zudem wird eine unbekannte Anzahl (wahrscheinlich mehrere Hundert, möglicherweise sogar Tausende) von Personen aus Gaza unter den eingangs geschilderten Bedingungen in Militärlagern auf israelischem Staatsgebiet festgehalten. Das israelische Militär hält die Identität der Gefangenen geheim, was möglicherweise den Tatbestand des gewaltsamen Verschwindenlassens erfüllt. Sämtliche Personen, die im Gazastreifen festgenommen werden, gelten automatisch als „illegale Kombattanten“. Das geht auf ein Gesetz aus dem Jahr 2002 zurück, das den Inhaftierten den Kriegsgefangenenstatus und damit einen gewissen Schutz nach den Genfer Konventionen abspricht. Eine von PCATI eingereichte Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz und eine Gesetzesverschärfung vom Dezember 2023, die es ermöglicht, sogenannte illegale Kombattanten 45 Tage ohne Haftbefehl, 75 Tage ohne richterliche Überprüfung und 90 Tage ohne Zugang zu einem Anwalt festzuhalten, ist anhängig.

Ein israelisches Guantanamo?

Für PCATI liegt nach allem, was über die Situation Gefangener aus Gaza in israelischen Militärlagern bekannt ist, der Vergleich mit Guantanamo nahe. Auch wenn sich Israel im Krieg befindet, muss klar sein: Das Verbot der Folter ist absolut – das heißt, es gilt uneingeschränkt. Selbst dann, wenn israelische Zivilist:innen seit Monaten als Geiseln im Gazastreifen festgehalten werden. Israel hat sich in mehreren internationalen Abkommen – etwa der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte oder der UN-Antifolterkonvention – zu diesem absoluten Verbot verpflichtet. Die internationale Staatengemeinschaft ist mitverantwortlich dafür, dass das Verbot eingehalten wird. Wenn sie es unterlässt, gegen diese schwersten Menschenrechtsverletzungen vorzugehen, macht sie sich mitschuldig.

In Israel setzen sich unsere Partner:innen gegen Folter und für die Rechte von Inhaftierten ein. Das taten sie auch schon vor dem 7. Oktober 2023. In den letzten Monaten häufen sich jedoch Berichte von illegalen Massenverhaftungen, dem Aushungern Gefangener, von Misshandlungen und Verschwindenlassen. medicos Partnerorganisationen wie der Human Right Defenders Fund, die Physicians for Human Rights oder PCATI gehen rechtlich gegen Verbrechen in den regulären israelischen Gefängnissen und den Militäreinrichtungen vor. Sie verfassen Petitionen, sprechen mit Abgeordneten und organisieren Rechtsbeistand. Auch die Organisation HaMoked geht gegen Rechtsbrüche vor, wie beispielsweise die Vorenthaltung des Rechts auf Familienzusammenführung.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Birte Brodkorb

Birte Brodkorb ist Volljuristin und Kriminologin. Seit 2020 leitet sie den Bereich Internationale Beziehungen bei der medico-Partnerorganisation Public Committee against Torture in Israel (PCATI). (Foto: Privat)


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