Interview

In aller Ungewissheit revolutionär

14.09.2023   Lesezeit: 8 min

medico-Menschenrechtsreferent Thomas Rudhof-Seibert geht in Rente. Ein Gespräch über Untergrund-Universitäten in Afghanistan, Philosophie und die revolutionäre Kraft der Menschenrechte.

medico: Thomas, in über 25 Jahren bei medico bist du viel herumgekommen. In deiner prominenten Doppelrolle als medico-Referent und als Philosoph bleibt ein Ereignis besonders in Erinnerung: die Untergrund-Universität, die ihr 2017 in Afghanistan veranstaltet habt.

Thomas Rudhof-Seibert: Ich erinnere mich besonders an eine Veranstaltung in Bamiyan, in der Provinz der Hazara. In der kleinen Universität saßen 300 Leute im Raum, mucksmäuschenstill, totale Aufmerksamkeit. Alle hatten Blöcke auf den Knien, alle schrieben mit. Hadi Marifat von unserer Partnerorganisation AHRDO führte mich ein und ich sprach wie verabredet über die Kritische Theorie, auch über Einzelpersonen wie Walter Benjamin. Ich habe in etwa erzählt: Benjamin war ein undogmatischer Marxist mit einem durchgängigen Interesse an Theologie und hat versucht, einen messianisch aufgeladenen Materialismus auszuarbeiten. Weil ich ihn und die anderen nur vorstellen wollte und deshalb nicht ins Detail ging, begann ein regelrechter Beschuss mit Fragen. Nach drei Stunden haben wir schließlich gesagt: Wir können nicht mehr. Daraufhin gab es einen Aufstand unter den Studierenden. Sie haben gefragt, was wir am folgenden Tag vorhätten. Wir wollten eigentlich Pause machen und an den großen Band-e-Amir-See in der Nähe fahren, aber dann haben sie uns überredet, am nächsten Tag wiederzukommen.

Und dann?

Es waren wieder 300 Leute da und die Diskussion ging einfach weiter. Eine Studentin stand auf und sagte: „Ich bin eine linke Muslima. Mich interessiert, was Sie über Benjamin gesagt haben. Wie genau ist die Verbindung zwischen Marxismus und theologischem Messianismus bei Benjamin?“ Ich war überhaupt nicht auf diese Frage vorbereitet, habe versucht, so gut ich konnte darauf einzugehen, denn die Studierenden fragten in einem tiefen Ernst, den du hier an den Unis so nicht findest. Ich rang mir also eine Antwort auf die Frage nach Marxismus und Messianismus bei Benjamin ab. Die Frau hörte ruhig zu, blickte mich unverwandt an und antwortete mit fester Stimme kurz und knapp: „Gut. Das denken wir ganz genauso wie Benjamin.“

Dass die Kritische Theorie mit ihrer unverkennbaren Geschichte im Afghanistan des Krieges funktioniert und sich übersetzen ließ, ist eigentlich schwer vorstellbar.

In Bamiyan verdankte sich das Professor Karimi, der dort Professor für Politische Wissenschaften war und sich wie unsere Partner:innen von AHRDO nach Kanada retten konnte. Karimi hatte ein völlig zerfleddertes Exemplar der Dialektik der Aufklärung auf Englisch. Obwohl das Exemplar sein einziges war, lieh er es Studierenden immer wieder aus. Sein politisch-theoretischer Bezugspunkt Kritische Theorie war auch von der afghanischen Situation geprägt: Wie alle afghanischen Linken musste Karimi mit dem kompletten Fiasko der einstigen Democratic People‘s Party zurechtkommen, also mit dem gescheiterten Sozialismus und dem sowjetischen Einmarsch, mit dem Krieg vor und nach 2001, dann mit den Taliban. Die große Frage war: Wie kann man angesichts dieses Fiaskos links sein und bleiben? Solche Fragen hat die Kritische Theorie in einem völlig anderen Kontext auch gestellt: Was ist eine linke Positionierung jenseits der Sowjetunion, Chinas, des Marxismus-Leninismus, aber auch jenseits des Westens? Genau das war für die Leute in Afghanistan interessant: Wie kann man in Afghanistan Demokratie denken, mit allem was dazugehört, ohne einfach prowestlich zu sein?

Nicht zuletzt wegen Begegnungen wie der in Kabul bist du immer skeptisch geblieben gegenüber bloß partikularen Identitätspolitiken, auch gegenüber vorgeblich privilegierten Subjekten von Politik, egal, ob es Bürger:innen, Arbeiter:innen, die Jungen, die Frauen oder die Kolonisierten sind. Du hältst fest an einem Universalismus, den du programmatisch in den Menschenrechten verkörpert siehst. In einer Broschüre, die du medico gewissermaßen als Erbe hinterlässt, plädierst du dafür, das Selbstverständnis als Menschenrechtsorganisation zu stärken. Darin sprichst du sogar von einer permanenten Revolution. Ehrlich gesagt fühlt es sich gerade nicht danach an.

Natürlich sind alle Revolutionen von bestimmten sozialen Situationen geprägt, man spricht historisch ja nicht zu Unrecht von den bürgerlichen, den proletarischen, den antikolonialen Revolutionen und dann von den diversen Revolutionen ab 1968. Das ist nicht willkürlich. Das eigentlich Interessante ist aber das Kontinuum über die lokalen Revolutionen hinaus oder eben die Permanenz der Revolution. Und die hat Zug um Zug ihren Niederschlag im Menschenrecht gefunden, auch in deren fortlaufender Erweiterung. Die Menschenrechte bergen, was über das jeweilige Scheitern aktuell bleibt und uns alle deshalb weiter zur Umsetzung verpflichtet, jede und jeden Einzelnen.

Aber sind nicht gerade die Menschenrechte, anders als du sagst, eine ziemlich westliche Sache und damit alles andere als universell?

Gerade wegen der Inanspruchnahme von allen Seiten ist die kritische Arbeit an den Menschenrechten so wichtig, theoretisch und praktisch. Die Erklärung der Menschenrechte ist eben kein beliebiges und letztlich bedeutungsloses Papier, ihre Geschichte bilanziert die Geschichte der modernen Revolutionen. Nehmen wir die nicht zu bestreitende, aber auch wohlfeile Behauptung vom Scheitern der modernen Revolutionen nicht einfach hin, sehen wir vielmehr eine Kompatibilität zwischen dem Selbstverständnis der jeweiligen historischen Ereignisse und den stetig erweiterten, wenn auch nirgendwo voll verwirklichten Menschenrechten. Alle diese Revolutionen haben Menschenrechtserklärungen verfasst oder Erklärungen, die ihnen ähnlich sind, wie sehr früh schon die Verfassung der USA. Sie ist zwar keine Menschenrechtserklärung, beginnt aber menschenrechtlich, indem sie in ihren Grundrechten festhält, dass alle Menschen frei und gleich geboren sind und das Streben nach Glück gemeinsam haben. So haben wir uns in und mit diesen Revolutionen gegenseitig unsere Rechte erklärt und unser gemeinsames politisches Leben an deren Verwirklichung gebunden.

Was bedeutet das für eine Menschenrechtsorganisation wie medico, die ja zugleich eine Hilfsorganisation ist?

Was sind wir, was ist die Rolle einer NGO? Für diese Fragen müssen wir in die eigene DNA hineinschauen. Und da liegt medico – das hat viel mit den Ideen der Gründer:innen zu tun – noch immer komplett richtig. medico hat den Internationalismus, den Universalismus zum zentralen Bezugspunkt emanzipatorischen Handelns gemacht. Das ist für uns wie für unsere Partner:innen nach wie vor zentral. Programmatisch konnten und können wir das auch heute noch über die Menschenrechte angehen. In den Kämpfen, auf die wir uns beziehen, kämpfen die Leute zunächst immer, um ihr konkretes Leben zu verbessern. Ihren politischen Punkt aber setzen sie, indem sie sich dabei aufs Menschenrecht berufen, ihren besonderen Fall damit politisch zum Fall aller machen und andersherum.

Hannah Arendt hat in ihren Ausführungen zum „Recht auf Rechte“ darauf bestanden, dass es Menschenrechte ohne die Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft nicht geben kann. Sie hat also bezweifelt, dass möglich ist, was du mit medico jahrelang versucht hast: Mit dem Menschenrechtsbegriff quasi die Staatsbürgerschaft und die Nation zu überschreiten. Wenn du heute diese Arbeit bilanzierst: Hatte sie nicht doch recht?

Arendt sah zu ihrer Zeit ganz richtig, dass das Problem der Rechtsdurchsetzung unumgänglich an den Nationalstaat gekoppelt war. Das ist in vielem auch heute noch so. Doch haben wir jetzt auch Kämpfe, die um andere Rechtsformen kreisen. medico hat sich an verschiedenen solcher Auseinandersetzungen beteiligt. Ein zentraler Punkt auch in meiner Arbeit der letzten Jahre sind die Auseinandersetzungen um den sogenannten Binding Treaty, also um die Verrechtlichung der globalen Herstellungs- und Lieferketten. Mit ihm wird letztlich ein transnationales Recht begründet, ein Recht, das dann auch durch internationale Institutionen garantiert und durchgesetzt werden muss. Das sind natürlich alles ungelöste Problematiken, die aber über das hinausweisen, was Arendt vor Augen hatte. Doch bleibt, dass sie mit dem „Recht auf Rechte“ auf das eine Grundrecht verwiesen hat, das der Vielzahl der Rechte einbeschrieben ist, die wir uns bisher historisch erklärt haben. Das eine Recht auf Rechte gibt den Sinn der Vielzahl einzelner Rechte an, das, was sie von innen zusammen[1]hält. Die Fragen der Durchsetzung des einen wie der vielen Rechte ist aber nicht nur Sache der Theorie, sondern auch der politischen Praxis. Organisationen wie medico kämpfen deshalb heute an vielen einzelnen Punkten um internationalisierte, um transnationale Formen der Verrechtlichung.

Siehst du darin eine zentrale Aufgabe medicos für die Zukunft?

Das wird immer wichtiger werden, gerade angesichts zunehmender Ungewissheit. Wir nehmen an dramatischen Veränderungen teil, deren Ausgang völlig offen ist. Zu Beginn dieses Jahrhunderts waren wir noch sicher, in einer sich tatsächlich globalisierenden Weltordnung zu leben. Wir haben die Globalisierung bejaht, weil es uns darum ging, diese Ordnung menschenrechtlich um- und auszugestalten. Wir haben uns dabei besonders auf den Paragraphen 28 der Menschenrechtserklärung berufen. Er hält den Anspruch eines und einer jeden auf eine „soziale und internationale Ordnung“ fest, in der „die in der vorliegenden Erklärung angeführten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können“ – voll, wie es ausdrücklich heißt, nicht teilweise oder nur für bestimmte Leute. Heute können wir nicht einmal mehr sicher sein, ob es in ein paar Jahren noch eine Weltordnung geben wird und die Welt nicht in regionale Blöcke zerfällt, die sich vielerorts auch bekriegen werden.

Als Menschenrechtsorganisation aber wird medico auch dann noch für das Recht aller auf ihre Rechte streiten. Wir werden auch für neue, heute noch nicht erklärte Rechte kämpfen müssen, zum Beispiel um das Recht eines und einer jeden auf Ankunft am Ort einer Reise, die sie oft gar nicht frei angetreten haben. Ohne ein solches Recht aber macht das Menschenrecht auf Freizügigkeit keinen Sinn, das wir uns schon lange erklärt, aber nirgendwo wirklich durchgesetzt haben. Die Freizügigkeit aber wird noch wichtiger sein, als sie es heute schon ist, und die Forderung nach einem Freizügigkeit erst ermöglichenden Recht auf Ankunft wird revolutionär sein. Das ist ein schöner Grund, um weiterzumachen, trotz bleibender Ungewissheit. Die junge Frau aus Bamiyan, wo immer sie jetzt ist, würde wahrscheinlich sagen: „Gut. Das sehen wir ganz genauso.“

Das Interview führten Ramona Lenz und Mario Neumann.

Vor 25 Jahren bei medico als „Referent für Kultur- und Gesellschaftskritik“ eingestellt, hat Thomas Rudhof-Seibert später dann auch als Menschenrechtsreferent medico geprägt. Zu seinem Abschied erscheint die 40-seitige Broschüre „Es geht ums Ganze, für alle und jede Einzelne, überall.“ mit einem Text von ihm darüber, was „es heißen könnte, eine Menschenrechtsorganisation zu sein“.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


Jetzt spenden!