Von Wiebke Judith (Pro Asyl) und Kerem Schamberger
Als Gegenleistung für eine mögliche Zustimmung zum NATO-Beitritt Schwedens ließ die schwedische Regierung im Dezember 2022 Mahmut Tat nach Istanbul abschieben. Sein Asylantrag war im März 2020 abgelehnt worden, obwohl ihm wegen angeblicher Verbindungen zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) eine mehrjährige Haftstrafe in der Türkei droht. Nach der Abschiebung wurde er in Istanbul sofort inhaftiert.
Im Zuge der Bemühungen Schwedens und Finnlands um den NATO-Beitritt hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Länder als Zufluchtsorte für Terrorist*innen kritisiert und Auslieferungen von PKK-Unterstützer*innen gefordert. Die gleiche Kritik richtete er auch an Deutschland.
Auch in der Bundesrepublik kommt es regelmäßig zu Abschiebungen in die Türkei – laut Bundespolizei von Januar bis November 2022 in 437 Fällen. Die WDR-Sendung Monitor berichtete im Mai 2022 über einen ehemaligen türkischen Polizisten der nach seiner Abschiebung aus Deutschland in der Türkei inhaftiert wurde. Im deutschen Asyl- und Gerichtsverfahren war ihm nicht geglaubt worden, dass es aufgrund von Vorwürfen, er gehöre der Gülen-Bewegung an, zur Inhaftierung kommen würde. Ein im Verfahren vorgelegtes türkisches Gerichtsurteil zu acht Jahren Haft wegen Terrorismus wurde als „Fälschung“ abgetan.
In den letzten Jahren ist die Zahl von Asylsuchenden aus der Türkei stark gestiegen: Von 1500 im Jahr 2015 auf mehr als das Dreifache im Jahr des Putschversuchs 2016. Danach blieben die Antragszahlen weiter hoch, mit über 11 000 Anträgen im Jahr 2019, 6500 bzw. 7800 Anträgen in den Jahren 2020 und 2021. Bis Ende des Jahres 2022 suchte mit fast 24 000 türkischen Staatsangehörigen eine Rekordzahl Schutz in Deutschland. Damit steht die Türkei nach Syrien und Afghanistan an dritter Stelle der Hauptherkunftsländer der in Deutschland Schutzsuchenden.
Unterschiedliche Chancen im Asylverfahren
Die Lage der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei hat sich in den letzten Jahren zunehmend verschlechtert. Es gibt gute Gründe für viele Menschen, vor den politischen Repressionen zu fliehen. Seit 2001 regiert die AKP-Partei von Präsident Erdoğan das Land. Insbesondere seit dem Putschversuch im Juli 2016, der der Gülen-Bewegung zugeschrieben wird, wird die Regierung immer autokratischer und geht gegen ihre politischen Gegner*innen rabiat vor. Ein häufiger Vorwand hierfür ist der Vorwurf des Terrorismus oder seiner Unterstützung. Eine entsprechende Anklage kann jeden in der Türkei treffen, der die AKP oder ihren Vorsitzenden kritisiert. In den Jahren 2016 bis 2020 gab es gegen 1 576 000 Menschen Ermittlungsverfahren wegen Terrorismusvorwürfen.
Während Anhänger*innen der Gülen-Bewegung erst seit 2016 verfolgt werden, ist die Verfolgung und Unterdrückung der kurdischen Minderheit seit Langem ein prägender Bestandteil des türkischen Staatsprojekts. In der jüngeren Geschichte der Türkei werden Aktivitäten für Bürger*innen- und Freiheitsrechten von Kurd*innen als gleichbedeutend mit der Unterstützung der kurdischen Arbeiterpartei PKK gesehen. Zwischen der PKK und dem türkischen Staat gibt es seit den 1980er Jahren einen bewaffneten Konflikt. Laut Schätzungen der früheren Abgeordneten der Demokratischen Partei der Völker HDP, Sibel Yiğitalp, die seit 2019 selbst im Exil leben muss, sind etwa 40 000 Menschen aus dem Umfeld der kurdischen Freiheitsbewegung und der türkischen Linken inhaftiert. Die meisten von ihnen sitzen wegen Terrorvorwürfen ein. Mehrere Tausend sind zu lebenslanger Haft verurteilt. Allein bis Ende Juni 2022 wurden 1800 Politiker*innen und Aktivist*innen aus dem Umfeld der demokratischen und linksorientierten HDP, die vor allem von Kurd*innen unterstützt wird, in Polizeigewahrsam oder Untersuchungshaft genommen.
Die Chancen auf Schutz stehen statistisch gesehen jedoch sehr unterschiedlich für die erfassten Geflüchtetengruppen aus der Türkei: Während Personen, die beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) angaben, der Volksgruppe der Türk*innen anzugehören, im Jahr 2022 (Jan. bis Okt.) in 81 Prozent der inhaltlich entschiedenen Fälle einen Schutzstatus bekommen haben, waren es laut BAMF nur 12 Prozent der Kurd*innen. Ein Trend, der sich in den letzten Jahren verschärft hat. Wie kann es zu einem solchen eklatanten Unterschied kommen?
Legitime Strafverfolgung der PKK?
Ein Grund für die unterschiedlichen Erfolgschancen von Gülen-Anhänger*innen oder nicht-kurdischen Oppositionelle im Gegensatz zu Kurd*innen ist, dass deutsche Behörden die Verfolgung von kurdischen Oppositionellen immer wieder als legitime Strafverfolgung von »Terrorismus« in der Türkei bewerten. Wie das Bundesverfassungsgericht in regelmäßiger Rechtsprechung festhält, ist Terrorismusbekämpfung ein legitimes staatliches Ziel und strafrechtliche Verfolgung deswegen zunächst nicht asylrelevant. Dies ändert sich, wenn die Bestrafung aufgrund eines asylerheblichen Merkmals – zum Beispiel politische Meinung oder Religion – härter ist als sonst üblich (sogenannter Politmalus). Damit stellt sich in Asylverfahren kurdischer Personen aus der Türkei häufig die Frage: Ist ihre Anklage wegen Terrorismus politisch bedingt? Während eine solche Frage bezogen auf Gülen-Anhänger*innen häufig bejaht wird, wird sie bei Kurd*innen oft verneint.
Auch in Deutschland ist die PKK seit 1993 verboten (siehe hierzu auch Heiming im Grundrechte-Report 2023) – und deutsche Behörden wie das BAMF übernehmen häufig die Logik des türkischen Staats, wenn sie etwa ein Mitglied der HDP im Asylverfahren ablehnen und Tätigkeiten für die kurdische Freiheitsbewegung im Ablehnungsbescheid als »Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung« bezeichnen.
Falsche Annahme von Rechtsstaatlichkeit in der Türkei
Der vielfach dokumentierte weitreichende Abbau von Rechtsstaatlichkeit in der Türkei wird in der Entscheidungspraxis dabei oft verkannt. In dem Ablehnungsbescheid eines HDP-Mitglieds von 2021 geht das BAMF etwa davon aus, dass sich in der Türkei »[p]olitische Oppositionelle […] prinzipiell frei und unbehelligt am politischen Prozess beteiligen« können, »wichtige rechtsstaatliche Prinzipien im gerichtlichen Verfahren beachtet wurden« und es zugleich nicht Aufgabe des Bundesamtes sei, Urteile auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen.
Das steht im starken Kontrast zur Realität: So hält das World Justice Project in seinem Rechtsstaatlichkeitsindex fest, dass sich der Wert der Türkei in den letzten Jahren immer weiter verschlechtert hat. Im Jahr 2021 stand die Türkei mit Platz 117 von 139 Ländern auf den hintersten Rängen. Besonders schlecht fiel die Bewertung des Strafrechtssystems aus. Anwält*innen sprechen von Verfahren, die auf den ersten Blick rechtstaatliche Züge wahren, bei genauerer Betrachtung aber erhebliche Mängel aufweisen. Selbst im Lagebericht des Auswärtigen Amts wird darauf hingewiesen, dass die türkische Justiz nicht unabhängig ist. Das wird im Vorfeld der türkischen Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 besonders deutlich: Im Dezember 2022 wurde der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, der als potenzieller Herausforderer von Erdoğan gehandelt wird, wegen Beleidigung zu einer Haftstrafe verurteilt und mit einem Politikverbot belegt.
Wenig Hoffnung auf mehr Schutz
Auch unter der Ampelregierung stehen die Zeichen nicht auf mehr Schutz für politisch Verfolgte in der Türkei. Im Juli 2022 reiste Generalbundesanwalt Peter Frank in die Türkei, im November folgte Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Beide trafen sich mit hochrangigen Regierungsvertretern, wobei davon auszugehen ist, dass auch das Thema »Terrorismus« diskutiert wurde – kritische Worte blieben aber zumindest in der Öffentlichkeit aus.
Je mächtiger die türkische Regierung (geo-)politisch ist, desto schlechter steht es demnach nicht nur in der Türkei um Oppositionelle, sondern auch in Ländern wie Deutschland, in denen sie Schutz suchen.
Dieser Beitrag erschien zuerst im Grundrechte-Report 2023. Herausgegeben von: Benjamin Derin, Rolf Gössner, Wiebke Judith, Sarah Lincoln, Rebecca Militz, Max Putzer, Britta Rabe, Rainer Rehak, Lea Welsch, Rosemarie Will ISBN: 978-3-596-70882-6. 224 Seiten. E-Book und Taschenbuch. S. Fischer Verlag.
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