Türkei

Kinderrechte im Erdbebengebiet

19.04.2023   Lesezeit: 10 min

Noch am Tag des verheerenden Erdbebens in der Türkei gründete sich ein Netzwerk von Traumapädagog:innen und Aktivist:innen für Kinderrechte. Wir haben mit ihnen über ihre Arbeit gesprochen.

medico: Bitte erzählt uns von eurer Arbeit. Wie sieht die Lage in Diyarbakır und Umgebung zwei Monate nach dem Erdbeben aus?

Diyarbakır Çocuk Hakları Odaklı Kriz Yönetim Ağı: Wir bestehen aus 18 Organisationen und unser Fokus liegt vor allem auf Diyarbakır und Adıyaman. Es ist das erste Mal, dass nach einer Krise wie dieser ein Netzwerk gegründet wurde, das sich speziell um die Rechte von Kindern kümmert. 

Rengarenk Umutlar Derneği (Verein Bunte Hoffnungen)Çocuk Çalışmaları Derneği (Verein zur Arbeit mit Kindern und Derûnnasên Mezopotamyayê (Der-Mez; Initiative der Psychotherapeut:innen Mesopotamiens) sind die Gründungsmitglieder. In Diyarbakır haben wir sofort danach die Situation und Unterbringung von Kindern in den vorübergehenden Unterkünften, in den Zeltstädten untersucht und drei Berichte dazu veröffentlicht. Wir haben dafür mit vielen Kindern gesprochen. Weil Diyarbakır von der Gesellschaft her prinzipiell gut organisiert ist, konnten wir direkt nach dem Erdbeben sofort und sehr strukturiert aktiv werden.

In Diyarbakır gab es eine Zelt- und eine Containerstadt, in der vom Erdbeben betroffene Familien untergebracht wurden. Die Zeltstadt wurde in direkter Nähe des Tigris errichtet, obwohl es Warnungen von Ökologievereinen gab. Aber darauf wurde nicht gehört. Leute, die mit der Regierung in Kontakt stehen, haben diese Flächen zu hohen Beträgen vermietet. Als dann nach starkem Regen der Fluss über die Ufer stieg und es eine Flut gab, bestand für die Menschen, die schon durch das Erdbeben geschädigt waren, Lebensgefahr. Nach den Überschwemmungen wurde die Zeltstadt geräumt und die Familien in Studentenwohnheimen untergebracht. Bis heute ist jedoch keine sichere und angemessene Unterbringung der betroffenen Kinder gewährleistet.

Als die meisten Familien noch in Hochzeitssälen, in Sporthallen, in Schulen, in Cafés und Moscheen untergekommen sind, war es für uns als Netzwerk leichter, sie zu erreichen. Jetzt wissen wir nicht, in welcher Situation die Kinder und ihre Familien sind, denn wir haben zu ihnen keinen Zugang mehr. Der Staat erlaubt uns nicht, sie zu besuchen und mit ihnen zu sprechen. Es ist interessant: manche Einrichtungen haben eine Erlaubnis erhalten, die Unterkünfte zu besuchen und mit den Menschen zu arbeiten. Aber wir als Netzwerk für Kinderrechte haben keine einzige Genehmigung bekommen. Der Staat hat Angst, weil 18 verschiedene Organisationen gemeinsam Seite an Seite agieren. Die Grundlage unserer Arbeit besteht eigentlich aus psychosozialer Unterstützung, aber das konnten wir in Diyarbakır noch nicht realisieren. Wir haben zu Beginn in den vorübergehenden Unterkünften mit Freiwilligen Spielräume und -gruppen zusammen mit den Kindern aufgebaut, aber nachdem diese Unterkünfte geräumt wurden, ist uns auch diese Arbeitsgrundlage entzogen worden.

Am 3. Tag des Erdbebens haben wir eine erste Gruppe nach Adıyaman geschickt und erst dann die Katastrophe in ihrem ganzen Ausmaß verstanden und gesehen, wie viel Hilfe dort benötigt wird. Seitdem sind wir dort aktiv. In Adıyaman gibt es kein einziges Haus, das nicht beschädigt ist. Die Hilfe, die die Stadt erreicht hat, ist bis zum heutigen Tag nicht ausreichend. In Hatay und Maraş ist die Unterstützung internationaler Hilfsorganisationen größer, aber in Adıyaman sind nur zivilgesellschaftliche Organisationen aus Kurdistan aktiv. Die Unterstützung des Staates fokussiert sich vor allem auf Dörfer, in denen Sunnit:innen leben. Dörfer, in denen alevitische Familien leben, erreicht nicht genug Hilfe.

Wenn man es von außen betrachtet, sieht es so aus, dass einige Zeltstädte, die vom staatlichen Katastrophenschutzamt AFAD betrieben werden, gut laufen. Aber weil komplette Familien in der Gesamtheit ihre Häuser verloren haben und draußen leben müssen, sind die Zeltstädte leider nicht ausreichend ausgestattet. Auch wir haben eine eigene Zeltunterbringung in Adıyaman mit aufgebaut, die von der HDP und der örtlichen Zivilgesellschaft organisiert wird. Dort kommen etwa 300 Menschen unter, die am vulnerabelsten sind: Roma-Familien, Geflüchtete aus Syrien und Alevit:innen. Wir haben dort ein Spielzelt errichtet. Zugleich versorgen wir die Kinder in zwölf Dörfern in der Umgebung.

Am 14. Mai finden in der Türkei Wahlen statt – der Wahlkampf ist in seiner heißen Phase, die Opposition konnte sich mit Kemal Kilicdaroglu auf einen gemeinsamen Gegenkandidaten zu Recep Tayyip Erdoğan einigen – wie wirkt sich der Wahlkampf auf die Erdbebenregion aus?

Der Staat konnte in den vom Erdbeben betroffenen Regionen nicht mal sauberes Wasser bereitstellen. Es waren AFAD und der türkische Rote Halbmond, die im Erdbebengebiet vor allem eingesetzt wurden und wir dachten, sie kämen mit Unterstützung des Staates. Aber als wir hörten, dass sie zum Beispiel Zelte gegen Geld verkauft haben, die eigentlich für die Betroffenen waren, wurde uns so einiges klar. Die Regierung hat schon im Vorfeld des Erdbebens sämtliche Ressourcen des Landes aufgebraucht. Deshalb geben die anstehenden Wahlen den Menschen auch nicht wirklich Hoffnung. Es gibt nichts mehr, dass der von der AKP kontrollierte Staat den Menschen versprechen könnte, sie haben keine Fähigkeit mehr, solche Krisen zu lösen. Es war die Zivilgesellschaft, die bis heute die Missstände und Lücken versucht zu füllen. Und sie wird dabei noch vom Staat behindert.

Die direkt vom Erdbeben betroffenen Menschen haben gerade auch keine Zeit, sich um die Wahlen zu kümmern, weil sie gerade andere Sorgen haben, etwa wie sie ein Dach über dem Kopf finden. Bei den Menschen hier entsteht aber auch der Eindruck, dem Staat nicht besonders wichtig zu sein: Schon am dritten Tag wurde aus den Lautsprechern der Moscheen das Totengebet gerufen, während noch zahlreiche Überlebende unter den Trümmern lagen. Die einzige Hoffnung, die die Menschen haben, ist, dass das Erdbeben dazu führt, dass die Regierung abtreten muss.

Ihr habt gerade selber berichtet, dass staatliche Hilfe zu spät, eingeschränkt oder gar nicht eingetroffen ist. Gleichzeitig verspricht Präsident Erdoğan jetzt im Wahlkampf günstige Kredite und einen schnellen Wiederaufbau. Wie ist die Stimmung dazu in den betroffenen Regionen?

Niemand glaubt, dass der Wiederaufbau von allen betroffenen Städten und Gegenden – so wie versprochen – innerhalb eines Jahres stattfinden wird. Der Schutt der eingestürzten Häuser ist nicht mal abgetragen, noch heute werden tagtäglich neue Leichen geborgen. In Diyarbakır sind nur wenige Häuser eingestürzt und selbst dort wird der Schutt noch heute, mehr als zwei Monate nach dem Beben, abgeräumt. Diese Ankündigung von Erdoğan war mediale Propaganda. Bei einem Ereignis mit bis zu 200.000 Toten, ist es ein Ding der Unmöglichkeit alles in so kurzer Zeit wieder aufzubauen. Es gibt keinen Architekten, der an so etwas glaubt. Das Land hat nicht mal ausreichende wirtschaftliche Kapazitäten, um so etwas gewährleisten zu können. Die Untersuchungsergebnisse der Architekten- und Ingenieurskammer (TMMOB) sagen das Gleiche.

Die Erdbeben-Kredite, die jetzt vom Staat vergeben werden, sind extrem hoch verzinst. Auch einige unter uns mussten welche aufnehmen. Es handelt sich dabei um sehr niedrige Beträge, 100.000 Lira, also in etwa 5000 Euro. Viele haben nicht einmal diesen Betrag erhalten. Der Kredit muss in drei Jahren zurückgezahlt werden, und zwar mit einem extrem hohen Zinssatz. Am Ende sind es 130.000 Lira, die zurückgezahlt werden müssen. Der Staat nutzt die Situation aus, um mittelfristig selber an Geld zu kommen. Der Staat wird wie ein Konzern regiert. Kurz nach dem Erdbeben wurde bereits Werbung dafür gemacht, nun neue Häuser zu kaufen. Die kurdische Region steht dabei nicht mehr im Fokus des Interesses, die Gegend ist vom Staat abgeschrieben. Das alles wurde veranstaltet, um die nicht vom Erdbeben betroffenen Gebiete des Landes zu beeinflussen und Aktivitäten vorzutäuschen.

Wir sind uns zudem bewusst, dass die vor uns stehenden Wahlen nicht sauber sein werden: Wählerregistrierungen in leerstehenden Häusern, syrische Geflüchtete, die wählen können und die Gefahr, dass beim Erdbeben Getötete auf einmal auf den Wähler:innenlisten auftauchen. Es gibt verschiedene Pläne, um den Ausgang der Wahlen zu beeinflussen und zu manipulieren. Wir rechnen damit, dass so bis zu einer Million Stimmen in der Gegend gestohlen werden könnten und fürchten, dass die Tage vor den Wahlen in Kurdistan sehr chaotisch ablaufen. Aber wir hoffen natürlich, dass das nicht eintritt.

Inwiefern könnte das Erdbeben dafür genutzt werden, dass sich die Zusammensetzung der Menschen vor Ort verändert?

Umsiedlungspolitiken sind tief verankert im türkischen Staat. Das gab es in den letzten Jahrzehnten immer wieder. Während und nach den Auseinandersetzungen in Sur, der Altstadt von Diyarbakır, in den Jahren 2015/2016 wurde eine ähnliche Umsiedlungs- und Assimilationspolitik durchgesetzt. Und deshalb liegt eine solche Politik auch jetzt wieder nahe, diesmal in den Städten Hatay, Maraş, Adıyaman. Es gab auch dort schon in den Jahren zuvor Versuche, die Zusammensetzung dieser mehrheitlich alevitischen Gebiete durch die Ansiedlung von sunnitisch-islamischen Geflüchteten aus Syrien zu verändern. Und auch jetzt wird Religion wieder als Werkzeug eingesetzt. Während wir nicht mehr in Kontakt treten dürfen, mit den Betroffenen, gehen der Staat und die AKP mit ihren eigenen Einrichtungen zu ihnen, zum Beispiel mit der AKP-Jugend oder der staatlichen Religionsbehörde Diyanet. So versuchen sie, die Menschen zu beeinflussen. Während wir Spielplätze eröffnen wollten, wurde den Kindern in den Zeltstädten Korankurse angeboten.

Die Politik wird auch daran deutlich, dass die Zahl der Toten viel zu niedrig angesetzt ist. Wir gehen von bis zu 200.000 Toten aus. In Diyarbakır sind acht Häuser eingestürzt, aber es wird erwartet, dass bis zu 5000 Häuser abgerissen werden müssen. Das wird eine große Welle der Binnenmigration auslösen. In Diyarbakır gibt es Pläne der HDP, der Ökologie-Vereine und der TMMOB im Umfeld der Stadt ökologische Dörfer aufzubauen, um den Menschen eine Möglichkeit zu geben, zu bleiben.

Die Trümmer sind teilweise geräumt, aber was wird diese Katastrophe langfristig für Konsequenzen haben?

Durch das Erdbeben haben sich ganz grundlegende Ordnungen verändert und das wird langfristige Auswirkungen auf die Menschen haben, auch wenn das heute noch nicht so sichtbar ist. Denn noch sind nicht einmal die grundlegenden Bedürfnisse der betroffenen Menschen befriedigt: eine sichere Unterbringung, Essen und Trinken. Erst wenn das geschehen ist, werden die langfristigen Auswirkungen des Erdbebens deutlich zutage treten. Die bisher geleistete Hilfe hat immer noch nicht alle Menschen erreicht. Deshalb fürchten zum einen viele um ihr Leben und haben gleichzeitig Angst und ökonomische Zukunftssorgen, wie sie ihr Leben danach weiterführen sollen. Sie wissen nicht, was morgen sein wird. Sie haben kein Vertrauen mehr und bekommen auch vom Staat keine Zusicherungen.

Auch wenn es sich krass anhört: In den kurdischen Gebieten sind wir Traumata gewöhnt. Und deshalb wurde damit ein Umgang gefunden und Mechanismen zur Bearbeitung entwickelt. In den vom Erdbeben betroffenen Gebieten wie Maraş oder Hatay, die nicht in dem Gebiet liegen, welches wir als Kurdistan definieren, werden die Traumata von uns als noch schwerer eingeschätzt, weil sie an solche Ereignisse nicht gewöhnt sind.

Habt ihr Hoffnung?

Wir sind Kinder, deren Häuser in den 1990er Jahren von der türkischen Armee zerstört wurden. Es gibt eine systematische Unterdrückung durch den Staat. Unsere Hoffnung liegt in den Kräften der Opposition, die den Kampf nicht aufgibt. Wir haben schon oft verloren, aber nach jeder Niederlage ist der Widerstand weitergegangen. Deshalb haben wir unsere Hoffnungen nicht aufgegeben – der Kampf geht weiter.

Das Gespräch führte Kerem Schamberger.


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