Corona-Impfstoff

Klassenkampf

23.11.2020   Lesezeit: 4 min

Pandemie verlängern, Ungleichheit manifestieren: G20-Staaten und Welthandelsorganisation beschließen, nichts für eine kostengünstige Herstellung und sinnvolle globale Verteilung des Coronavirus-Impfstoffs zu tun.

Von Anne Jung

Bei der Versammlung der Welthandelsorganisation (WTO) am Wochenende hatten die Regierungen von Indien (mit rund 130.000 Corona-Toten weltweit auf Platz drei) und Südafrika, das wie kein anderes afrikanisches Land von der Pandemie betroffen ist, wegen des globalen Gesundheitsnotstandes den Antrag gestellt, die generelle Aussetzung von Patentrechten für Covid-19 Produkte zu erreichen. Gebraucht werde, argumentieren die beiden Länder – die dabei u.a. von China unterstützt wurden – eine grundlegende und umfassende Aussetzung der TRIPS-Regelungen, bis die Weltbevölkerung eine Immunität gegen das Virus entwickelt hat.

Das bis heute umstrittene TRIPS-Abkommen (Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentum) wurde 1995 auf Initiative der Industrienationen und internationaler Unternehmen wie dem Pharmaunternehmen Pfizer (eines der ersten Unternehmen, das einen erfolgversprechenden Impfstoff entwickelt hat) gegen die Einwände aus Ländern des globalen Südens geschlossen. Der von Südafrika und Indien nun vorgeschlagene „Waiver“, also eine Verzichtserklärung auf Patente, ist vor dem Hintergrund vorangegangener Pandemien zu erklären. Gerade Südafrika hat aus den Erfahrungen der HIV/Aids-Pandemie gelernt, dass es tödlich sein kann, sich auf das vielbeschworene Prinzip Freiwilligkeit der Industrienationen zu verlassen – es dauerte Jahre, bis sich niedrigere Preise für HIV-Medikamente gegen die Pharmaindustrie durchsetzen ließen. Zehntausende starben wegen der hohen Kosten für Medikamente allein an Aids.

Nichts aus HIV/Aids gelernt

Das droht sich nun zu wiederholen. Die Bundesregierung und mit ihr die Regierungen aller europäischen Länder und weiterer Mitglieder der WTO lehnten den Antrag zur Aussetzung der TRIPS-Regelungen ab. Sie verhindern damit die Entwicklung und Herstellung von mehr und kostengünstigeren COVID-19-Diagnostika, -Behandlungen und -Impfstoffen. Während in der Welthandelsorganisation harte Fakten geschaffen wurden, war das Forum der G20-Staaten am Wochenende der Ort der Nebelkerzen: Im Rahmen einer Kooperation zwischen Pharmaunternehmen, Politik und  Philantrokapitalisten sollen auf freiwilliger Basis Mittel für eine bessere Verteilung des Impfstoffs bereitgestellt werden – nachdem sie sich bereits das Gros der Impfdosen gesichert haben.

Die Industrienationen und die Pharmaindustrie argumentieren weiterhin, dass ein starker Patentschutz zur Förderung von Innovationen nötig sei. Dieser Erklärungsversuch hält sich hartnäckig im öffentlichen Bewusstsein und ist wohl eine der größten Werbeerfolge der Pharmaindustrie. Dabei gibt es dafür keinerlei Evidenz. Infolge der Patentregelungen, für die TRIPS nur beispielhaft steht, musste jahrelang jede Kostensenkung in weltweit vernetzten politischen Kämpfen erstritten werden. Außerdem sind es die Regierungen der Welt, die derzeit Milliarden für Forschung und Entwicklung am Impfstoff bereitstellen, alleine die EU ist mit 6,5 Milliarden Euro dabei. Das sind größtenteils öffentliche Mittel, von denen große Summen an die Pharmaindustrie gehen, ohne dass die Preispolitik für den künftigen Impfstoff im öffentlichen Interesse geregelt wurde. Risiken werden vergesellschaftet, Gewinne privatisiert.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte als Gegenspielerin zur WTO im Vorfeld für den Vorschlag aus Südafrika und Indien geworben, nachdem sie sich selbst nicht mit einer Initiative aus Costa Rica durchsetzen konnte, Forschungsergebnisse der Impfstoffentwicklung in einen gemeinsamen offenen Technikpool einzuspeisen.

Eine Frage der Menschenrechte

Das Machtspiel um den Impfstoff wird zunehmend zu einer Frage der Menschenrechte. Die getroffenen Entscheidungen manifestieren das Prinzip, die Schutzrechte der Patente über das Menschenrecht auf den bestmöglichen Zugang zu Gesundheit zu stellen. Doch bei Arzneimitteln muss das Schutzrecht für die Menschen gelten.

Die kostengünstige dezentrale Herstellung und eine global gerechte Verteilung des Impfstoffs basierend auf den gesundheitheitlichen Notwendigkeiten wäre ein fundamentaler Beitrag für die Wahrung der Menschenrechte. Die Blockadepolitik der Industrienationen indes und ihr Drängen auf freiwillige spendenbasierte Lösungen, sind – so das European Center for Constitutional Rights (ECCHR) – eine Form neokolonialen Verhaltens. Die armen Länder werden auf Mechanismen verwiesen, die Abhängigkeiten schaffen und globale strukturelle Ungleichheit massiv verschärfen.

Und auch wenn sich eine Erkenntnis gerade politisch nicht durchsetzen lässt, bleibt sie doch richtig  und muss weiter eingefordert werden: Arzneimittel müssen als globale öffentliche Güter behandelt und die Macht von Pharmaunternehmen im öffentlichen Interesse begrenzt werden. Nur so lässt sich eine Politik, die an den Gesundheitsbedürfnissen der Menschen ausgerichtet ist, umsetzen.

Medikamente für Alle

Der von medico gemeinsam mit Organisationen aus über 30 Ländern lancierte Aufruf "Patente töten" fordert von den Regierungen eine an den Gesundheitsbedürfnissen der Menschen ausgerichtete Politik, die Arzneimittel als globale öffentliche Güter behandelt und die Macht von Pharmaunternehmen im öffentlichen Interesse begrenzt. Jetzt beteiligen!

Anne Jung (Foto: medico)

Anne Jung leitet die Öffentlichkeitsarbeit bei medico international. Die Politikwissenschaftlerin ist außerdem zuständig für das Thema Globale Gesundheit sowie Entschädigungsdebatten, internationale Handelsbeziehungen und Rohstoffe.

Twitter: @annejung_mi


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