Interview

Lehren aus der Corona-Politik

29.03.2022   Lesezeit: 9 min

Über staatliche Panikreaktionen, Zero-Covid und die Deregulierung des Gesundheitswesens. Ein Gespräch mit Karl Heinz Roth.

medico: Dein Buch „Blinde Passagiere – die Corona-Krise und die Folgen“ enthält eine provokante und streitbare These: Lockdowns hätte es nicht geben müssen. Wie begründest du das?

Karl-Heinz Roth: Lockdowns hätte es nicht geben müssen, wenn nicht vorher entscheidende Fehler gemacht worden wären, die zu einer Panikreaktion der politischen und wissenschaftlichen Entscheidungs- und Beratungszentren geführt haben. Zum einen haben die Frühwarnsysteme versagt, und zwar nicht nur in China, sondern weltweit. Zum anderen gab es keine Vorräte an Instrumenten und Materialien der Basishygiene, um mit infektionshygienischen und Public-Health-Maßnahmen in einem guten epidemiologischen Sinne vorzugehen. Als klar wurde, dass diese Pandemie nicht mehr aufzuhalten ist, geschah etwas, was ich sehr bestürzend fand: Statt adäquate Gegenmaßnahmen zu entwickeln, wurde eine Holzhammermethode angewandt. Man führte einen allgemeinen Shutdown, Mobilitäts- und Kontaktbeschränkungen, Schul- und Universitätsschließungen bis hin zur Schließung nichtessenzieller Betriebe durch, obwohl diese Pandemie – und das war schon seit Februar 2020 klar – ganz andere Prioritäten verlangt hätte.

Dabei war es eigentlich eine Pandemie mit Ansage. Du hast in deinem Buch sehr genau nachvollzogen, wie sich die Staaten und globalen Institutionen auf solche Pandemien vorbereit haben. Weshalb kam es trotzdem zu einer solchen Panik?

Zu Beginn der 2000er-Jahre waren die Länder gut vorbereitet. Damals waren im Rahmen der Weltgesundheitsorganisation Szenarien entwickelt, die zur Gründung und Etablierung nationaler Pandemiepläne führten. Diese sahen Maßnahmen der Epidemiologie, der Infektionshygiene, Schutzmaßnahmen, die Bevorratung von Schutzkleidung, Masken, Desinfektionsmitteln usw. vor. Trotz der begrenzten Pandemien SARS-1 2002/03 und MERS-Pandemie 2012/13 verlor die Vorhaltung spezifischer Infektionsmaßnahmen im Laufe der Jahre an Bedeutung. Stattdessen setzte man auf sinnlose Medikamente und Impfstoffplanung. Die Pharmaindustrie und auch die Großstiftungen haben sich immer stärker eingemischt und eine Asymmetrie hergestellt, die am Ende völlig ineffizient war.

In deinem Buch schreibst du, dass die Pandemiepläne immer auf Worst-Case-Szenarien basierten. Wie erklärst du dir das?

Das hatte mit der Tradition des Kalten Krieges zu tun. Zum Teil waren Katastrophenschutzinstitutionen, die zuvor für den Atomkriegsfall zuständig waren, in den Pandemieschutz übergewechselt. Sie brachten dieses Denken in großen Zahlen mit. Obwohl klar war, dass eine Pandemie ganz anders verlaufen würde, rechnete man mit 30 bis 50 Millionen Toten. Das alles führte zu einem Tunnelblick. Eine konkrete gesundheitspolitische Vorsorge fand nicht statt. Das Scheitern der Pandemievorsorge hat also strukturelle Gründe: mentale Gründe und vor allem ökonomische Gründe, nämlich der wachsende Einfluss der Pharmaindustrie und der Großstiftungen auf das Gesundheitswesen.

Ist diese Pandemievorsorge exemplarisch für viele Katastrophenszenarien, die heute kursieren? Es wird nicht mehr über die Möglichkeit der Ursachenbekämpfung nachgedacht?

Ich glaube, dass bei den zentralen Akteur:innen unbewusst ein Ohnmachtsgefühl vorliegt. Ich habe mir einige der Handelnden in den USA und auch im Robert Koch-Institut genauer angesehen. Sie agierten ohne eine Perspektive, sie hatten keine Bodenhaftung. Das Ohnmachtsgefühl rührte meines Erachtens daher, dass sie wussten, dass ein kommerzialisiertes und ökonomisiertes Gesundheitswesen ohne Reservekapazitäten in einer Pandemie überfordert ist. Ein dereguliertes Krankenhauswesen arbeitet im Normalfall bereits am Limit. Was darüber hinausgeht, ist bereits eine Katastrophe. Und so ist es eingetreten. Die Planspiele hätten eigentlich zur Konsequenz haben müssen, dass die Weichen neu gestellt werden und die Kommerzialisierung des Gesundheits- und Krankenhauswesens gestoppt wird. In der Vorbereitung auf eine kommende Pandemie gab es jedoch eine Vermeidungsstrategie, eine Art Verdrängungsmechanismus. Deshalb die Ohnmacht, als die Pandemie tatsächlich eintrat.

In welchem Zusammenhang steht die Corona-Pandemie mit der kapitalistischen Produktionsweise?

Der heutige Kapitalismus produziert und verursacht eine immer größere Zerstörung von Naturressourcen und von Ökosystemen. Die Gesellschaften rücken stetig näher an den Rand dieser Ökosysteme und es entstehen „zoonotische Grauzonen“, in denen Übertragungen von Viren stattfinden können wie die Coronaviren von Fledermäusen über Zwischenwirte auf den Menschen. Das ist auch eine Folge der Massentierhaltung. Die Klimakatastrophe ist ein weiterer Beschleuniger. Aktuelle Forschungserkenntnisse zeigen, dass sich die Fledermauspopulationen in Südostasien aufgrund des Klimawandels verlagert und ausgebreitet haben. In der Tat befinden wir uns in einer epochalen Situation. Wie das weitergeht, ist völlig offen. Nehmen wir das Beispiel China: China hat einen brutalen Lockdown gefahren und damit eine unglaublich effiziente epidemiologische Bekämpfungsstrategie verbunden. Es hat die individuellen sozialen Freiheitsrechte systematisch beseitigt, gleichzeitig die Menschen geschützt und versorgt. So entsteht eine ganz neue Variante des Kapitalismus. Ich nenne sie, etwas hilflos, einen „absolutistischen Kapitalismus“, wo eine Kaderpartei ganz neue Dimensionen gesetzt hat. Das Problem besteht darin, dass die Zero-Covid-Strategie Chinas angesichts von Omikron und seinen unkontrollierbaren Subvarianten möglicherweise ziemlich bald an ihre Grenzen gerät.

Wie konnte China für viele, unabhängig von der politischen Haltung, zum „heimlichen“ Vorbild werden?

China hat eine Trigger-Funktion für die herrschenden Eliten, aber leider auch für einen Großteil der Linken. In den ersten Papieren, die ich von den Initiator:innen der Zero-Covid-Kampagne in Deutschland gelesen habe, wird China als Bezug offen benannt. Dann kam die vehemente Kritik wegen der extrem autoritären und entmündigenden Formen der Cordons sanitairs, weswegen dann lieber Australien und Neuseeland genannt wurden, wo die Betriebe ebenfalls in den Shutdown einbezogen waren. Man muss sich auch die Folgen der Strategie Chinas ansehen. Das Land hat sich nach außen vollkommen abgeschottet. Es hat in der Auseinandersetzung um die Entstehung und Ausbreitung der Pandemie einen extremen Nationalismus in Gang gesetzt. Das hat weltweit dramatische Folgen.

Zwischen „laufen lassen und Lockdown“ skizzierst du in deinem Buch eine Art dritten Weg. Hätte es diesen realistischerweise geben können?

Es wäre dringend notwendig gewesen, von Anfang an die Alten- und Pflegeheime sowie die Krankenhäuser zu schützen, weil dort die alten Menschen und chronisch Kranken und Schwerkranken in den Krankenhäusern und Heimen mit Hochinfizierten zusammengepfercht wurden. Es gab aber auch einige Alten- und Pflegeheime, in denen besonnene Ärztinnen und Ärzte Vorratslager für Masken und Schutzausrüstung angelegt hatten. Dort sind nur sehr wenige gestorben. Wir sprechen immer über die Lockdown-Probleme in Deutschland. Viel drastischer sind diese zum Beispiel in Südafrika, wo die Townships mit brutaler Polizeigewalt abgesperrt wurden. Das war ein Pandemiebeschleuniger ersten Ranges. Der Grund war, dass es zwar Konzepte für eine National-Health-Insurance gab, aber keine Ressourcen für die besonders gefährdete Armutsbevölkerung. Das gilt auch für Indien und für Brasilien, auch sie Epizentren der Pandemie. Überall gab es nur ein rudimentäres, skelettiertes öffentliches Gesundheitswesen. Und statt sofort eine basishygienische Infrastruktur aufzubauen, hat man einfach alle Armutsviertel abgesperrt. Meine These ist: Es wäre trotz des Mangels an Schutzausrüstung möglich gewesen, radikal umzusteuern und die Produktion von Schutzkleidung, Schutzmasken und Mitteln der Basishygiene sofort massiv hochzufahren. Stattdessen hat man sich weiter auf die internationalen Güterketten verlassen und dann kam es zu einem Wettlauf um die Importe dieser Güter.

An die Lockdown-Debatte schließt sich direkt die Frage nach der Impfpflicht an. Hältst du eine Impfpflicht für ein geeignetes Instrument, um durch diese Pandemie zu kommen?

Ich spreche nicht von Impfpflicht, sondern von Impfzwang. Für die Betroffenen ist das Impfen ein Eingriff in die körperliche Integrität. Es ist eine Körperverletzung. Ich denke, jeder Mensch hat das Recht, darüber zu entscheiden, ob er diesen Eingriff akzeptiert oder nicht. Dann kommt das Problem derer, die impfen sollen. Es gibt einen ethischen Grundsatz in der Medizin, der lautet informed consent: Der Patient und die Patientin muss zustimmen. Und für Mediziner:innen gilt das hypokratische Prinzip des nil nocere, keinen Schaden anzurichten.

Hinzu kommt die Tatsache, dass es keine globale Impfkampagne gegeben hat.

Dieser Impfnationalismus hat sich mittlerweile in einen rigorosen Impfimperialismus entwickelt. Eine Pandemie, die global verläuft, die global unberechenbar, nicht linear, wellenförmig verläuft, kann nur global mit Impfstoffen und Medikamenten angegangen werden. Wenn diese Impfstoffe aber nicht global gleichzeitig, simultan weltweit angewandt werden, werden die Virusvarianten immer wieder ausweichen können. Von daher ist es völlig absurd, einen Impfzwang zu verlangen, wo es sowieso nur noch darum geht, fünf bis maximal zehn Prozent der Bevölkerung zu impfen. Ich bin sehr bestürzt darüber, dass die Politik mit dem Impfzwang noch einmal einen strategischen Fehler macht. Die Folgen sind unabsehbar, die Effizienz ist minimal.

Steckt im Kern der Debatte um die Pandemiebekämpfung die Demokratiefrage?

Nach meinem Dafürhalten haben wir durchaus einen Vorlauf an demokratischen und sozialistischen Initiativen. Ich erinnere an die Gesundheitsbewegung Anfang der 1980er-Jahre, an die Arbeitsschutzkampagnen und die sozialen Kämpfe in Italien gegen die Zerstörung der arbeitenden Menschen in der Produktion, Medicina Democratica u.a. Es gab damals überall auf der Welt solche Ansätze und interessanterweise in einem Moment, in dem die Linke in eine sehr starke Krise geraten war. Wir brauchen ein Programm des „dritten Weges“, eine neue Gesundheitsbewegung, die alle Akteur:innen im Gesundheitswesen zusammenbringt und gleichzeitig die legitimen Interessen der Bezieher:innen von Gesundheitsleistungen, der Kranken und Pflegebedürftigen einbezieht. Nötig ist ein Aktionsprogramm zur Rekommunalisierung des Gesundheitswesens. Das Ganze bräuchte auch die globale Ebene. Auch da haben wir einiges vorzuweisen. medico international und andere NGOs agieren global. Hier liegt das Wissen, wie eine demokratische Impfkampagne aussehen kann, längst vor. Dazu würde auch eine globale Initiative zur Beseitigung der durch das Kapital, die Pharmaindustrie, die Impfstoff- und Biotech-Konzerne bedingten Restriktionen des Gesundheitswesens gehören: also von Patent- und Urheberrechten sowie von privilegierten Know-how-Konzepten.

Bräuchte es nicht auch einen Bruch mit der kapitalistischen Logik, der über diese Reformen hinausginge?

Ich denke, der Bruch ist überfällig. Das Problem ist nur, dass wir Wege finden müssen, um die Menschen, die durch die deregulierten Überlebensstrukturen, die sich ständig verschärfenden Existenzkämpfe und ein Leben am Limit geprägt sind, abzuholen. Aber wenn wir den Bruch nicht denken und wenn Millionen Menschen den Bruch nicht für sich antizipieren können, dann kommen wir nicht weiter.

Interview: Steen Thorssen und Katja Maurer, Transkription: breakisolation.net

Eine längere Fassung des Interviews gibt es in Folge 3 „Pandemie und Versagen“ des medico-Podcasts Global Trouble – zu hören auf Spotify, iTunes und überall, wo es Podcasts gibt.

Ein Beitrag aus dem medico-Rundschreiben 1/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


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