Covid-19

Mehr Impf-Ungerechtigkeit

13.09.2021   Lesezeit: 5 min

Die Förderung von Booster-Impfungen vor einem gerechten Zugang für alle ist unethisch. Von Dr. Louis Reynolds.

Die Habgier und das unethische Verhalten der Pharmaindustrie, mit der Komplizenschaft mehrerer Regierungen im Globalen Norden, verfestigt den Impfstoff-Nationalismus, vertieft die Ungleichheit beim Zugang zu Impfstoffen und verschlimmert die Covid-19-Pandemie.

Pharmazeutische Unternehmen üben Druck auf EU-Länder und die USA aus, um Auffrischungsimpfungen gegen Covid-19 für Menschen zuzulassen, die bereits vollständig geimpft sind. Diese Marketingkampagnen stehen im Widerspruch zu der Forderung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Auffrischungsimpfungen derzeit zugunsten der Ungeimpften zu unterlassen. Mehrere Länder, darunter das Vereinigte Königreich, Frankreich, Deutschland, Schweden, Israel, die Vereinigten Arabischen Emirate und die USA, werden bald Auffrischungsimpfungen für Teile ihrer Bevölkerung verfügbar machen.

Die Pharmaunternehmen beharren darauf, dass Auffrischungsimpfungen notwendig sind, weil die Impfimmunität im Laufe der Zeit nachlässt, was zu einem Risiko der Wiederansteckung führt. Dies mag bis zu einem gewissen Grad zutreffen, aber in einer Welt, in der unnötigerweise eine extreme Impfstoffknappheit und Ungleichheit herrscht und in der die meisten Menschen ihre erste Dosis noch nicht erhalten haben, wirft der Vorstoß, bereits geimpften Menschen Auffrischungsimpfungen zu geben, wichtige moralische und ethische Fragen auf.

Ein kürzlich im Journal of the American Medical Association veröffentlichter Kommentar wirft einen kritischen Blick auf dieses Thema. Die Autor:innen argumentieren, dass es angesichts des begrenzten weltweiten Angebots unethisch ist, Auffrischungsimpfungen anzubieten, solange die bestehenden Impfschemata einen wirksamen Schutz gegen Varianten bieten.

Hier ist eine Zusammenfassung der wichtigsten Punkte, die sie anführen.

Die derzeitigen Impfschemata funktionieren gut. Untersuchungen zeigen, dass sie zu mehr als 85 % vor Krankenhausaufenthalten, schweren Verläufen und Todesfällen durch die Covid-19-Infektion schützen. Zu den getesteten Impfstoffen gehören Johnson & Johnson, Pfizer-BioNTech, Astra-Zeneca (und Moderna, die Red.). Sie schützen gegen alle gefährlichen Varianten, einschließlich Delta.

Das Ausmaß der weltweiten Ungleichheit bei den Impfstoffen ist enorm.

Bislang wurden weltweit mehr als 4,72 Milliarden Impfdosen verabreicht - 61 Dosen für jeweils 100 Menschen. Von all diesen Impfungen wurden 83 % in Ländern mit hohem und mittlerem Einkommen verabreicht. Nur 0,3 % der Dosen wurden in einkommensschwachen Ländern verabreicht. Von allen Kontinenten weist Afrika die niedrigste Impfrate auf. Einige afrikanische Länder haben noch nicht einmal mit Massenimpfkampagnen begonnen.

Die Ungleichheit bei der Impfung besteht zwischen und innerhalb der Länder.

In Südafrika zum Beispiel ist die Wahrscheinlichkeit, geimpft zu werden, zwei- bis dreimal höher, wenn man eine private Krankenversicherung hat, als wenn man keine besitzt. In der Provinz Western Cape schwankt die Impfrate bei den über 60-Jährigen zwischen 34 % in Mitchells Plain (ein Township vor Kapstadt) und mehr als 90 % in Overstrand (eine wohlhabende Küstengemeinde), was zum Teil den ungleichen Zugang und die ungleiche Inanspruchnahme in Vororten mit unterschiedlichem sozioökonomischem Status widerspiegelt.

Groß angelegte Auffrischungsimpfkampagnen verstärken daher die Ungleichheit beim Zugang. Wenn Impfstoffe bereits vollständig geimpften Menschen in wohlhabenden Ländern und versicherten Bevölkerungsgruppen verabreicht werden, werden Impfstoffe verbraucht, die ärmere Länder und Bevölkerungsgruppen dringend brauchen. Dadurch wird ungeimpften Menschen in ärmeren Ländern die Chance auf eine erste Impfung geraubt.

Niedrige Impfraten bedeuten, dass mehr Menschen sehr krank werden und unnötig sterben. Die bereits überlasteten Gesundheitsdienste werden zusammenbrechen. Derzeit (Mitte August 2021) sind in sechs der zehn Länder mit den höchsten Pro-Kopf-Todesraten durch Covid-19 (Tunesien, Georgien, Botswana, Eswatini, Namibia und Südafrika) weniger als 10 % der Bevölkerung vollständig geimpft. Die Ungleichheit bei der Impfung begünstigt auch das Auftreten einer größeren Anzahl von Virusvarianten, vor allem an Orten mit dem schlechtesten Zugang zu Impfungen.

Je mehr Viren es in einem Gebiet gibt und je öfter sie übertragen werden, desto mehr Varianten entstehen. Zumindest einige dieser Varianten werden wahrscheinlich virulenter, infektiöser und durch Impfstoffe weniger kontrollierbar sein als die älteren. Und diese neuen Varianten werden sich um die ganze Welt verbreiten, da Viren keine Rücksicht auf internationale Grenzen nehmen. Infolgedessen werden alle Menschen und alle Volkswirtschaften, einschließlich der Länder mit hohem Einkommen, die unverhältnismäßig viele Impfstoffe verbraucht haben, indem sie ihrer Bevölkerung Auffrischungsimpfungen verabreichten, einem neuen Risiko ausgesetzt sein.

Außerdem bieten Auffrischungsimpfungen nur einen eingeschränkten zusätzlichen Nutzen für die Bevölkerung, wenn sie bereits geimpften Menschen verabreicht werden: Mehr als 99 % der Menschen, die in den ersten sechs Monaten dieses Jahres in den USA an Covid-19 starben, waren nicht geimpft. Fast alle diese Todesfälle wären durch die Standardimpfung mit einer oder zwei Dosen vermeidbar gewesen.

All dies bedeutet, dass – abgesehen von Menschen mit geschwächtem Immunsystem – die Vorteile einer gezielten Impfung von Ungeimpften die Vorteile einer Auffrischungsimpfung für bereits Geimpfte bei weitem überwiegen. Die Pharmaindustrie setzt jedoch seine unethischen Marketingkampagnen im Interesse massiver Profite fort. Aus einem Bericht der „People's Vaccine Alliance“ vom Juli 2021 geht hervor, dass Pfizer/BioNTech und Moderna den Regierungen bis zu 41 Milliarden US-Dollar mehr als die geschätzten Produktionskosten in Rechnung stellen. Kürzlich gab Pfizer bekannt, dass es für seinen Covid-19-Impfstoff in diesem Jahr einen Umsatz von etwa 33,5 Mrd. US-Dollar erwartet. Das sind 30 % mehr als noch vor drei Monaten prognostiziert.

Dies verdeutlicht, dass Covid-19 von den Pharmaunternehmen als Geschenk des Himmels betrachtet wird. Ihr oberstes Ziel ist es, so viel Geld wie möglich in so kurzer Zeit wie möglich zu verdienen. Dass sie zu unethischen Massenmarketingkampagnen greifen, um die Nachfrage nach ihren Produkten auf Kosten der Zugangsgerechtigkeit zu steigern, zeigt eine eklatante Missachtung der katastrophalen Folgen. Sie haben ein ureigenes Interesse an Krankheit und schlechten Gesundheitszuständen.

Wann wird Gier zu einem Verbrechen? Fatima Hassan und ihre Kollegen von der „Health Justice Initiative“ legen überzeugende Argumente dafür vor, dass das Profitieren aus der Ungleichheit bei Impfstoffen einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichkommt. Wir stimmen ihnen zu.

Was ist zu tun, und von wem?

Aus der Ungerechtigkeit bei Impfstoffen zu profitieren ist nur ein Aspekt einer viel umfassenderen globalen Gesundheitskrise. Der "freie Markt" dient vorrangig den Eliten der Welt. Viele Regierungen scheinen nicht in der Lage oder nicht willens zu sein, im besten Interesse ihrer Bevölkerung zu handeln, während andere auf Impfstoff-Nationalismus setzen.

Wir, die Menschen - die Zivilgesellschaft - müssen die Scherben aufsammeln. Wir müssen mobilisieren und Solidarität um eine Vielzahl von lokal relevanten Kampagnen herum aufbauen, und uns bewusst machen, dass die Pandemie wie auch die Gier der Unternehmen globale Probleme sind.

Übersetzung: Nele Eisbrenner
Der Artikel wurde zuerst von der südafrikanischen Zeitung „Maverick Citizen“ veröffentlicht.

Dr Louis Reynolds

Dr. Louis Reynolds ist Mitglied des Vorstands des People's Health Movement South Africa. Bis zum Ruhestand war er als Intensivmediziner im Kinderkrankenhaus des Roten Kreuzes und an der Universität Kapstadt tätig.


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