Feminismus

Mut zur Komplexität

08.12.2022   Lesezeit: 9 min

Von der (Un-)Möglichkeit einer feministischen Entwicklungszusammenarbeit.

Von Radwa Khaled-Ibrahim

und Karoline Schaefer

Die neue Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass sie in ihrer Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik dem Leitbild einer »Feminist Foreign Policy«, also einer feministischen Außenpolitik, folgen wird. Damit möchte sie die »Ressourcen und Repräsentanz von Frauen und Mädchen weltweit stärken und gesellschaftliche Diversität fördern«. Besonders die Entwicklungszusammenarbeit soll dafür »die gleichberechtigte politische, wirtschaftliche und soziale Teilhabe [von Frauen], die Stärkung sexueller und reproduktiver Gesundheit und Rechte von Frauen und Mädchen sowie [den] uneingeschränkte[n] Zugang zu gleichwertiger Bildung und Gesundheitsversorgung« weltweit fördern.

Diese Zielsetzungen sind nicht wirklich neu in der deutschen Entwicklungspolitik, neu ist aber die Überschrift einer feministischen Außenpolitik, die auf Leitbilder wie Empowerment oder Gender-Mainstreaming folgt. Doch kann man bisherige und aktuelle Ansätze deutscher Entwicklungspolitik wirklich als feministisch bezeichnen, nur weil sie bessere Lebensbedingungen und vermehrte Repräsentanz von Frauen und Mädchen weltweit fordern?

Um diese Frage zu beantworten, wollen wir zunächst einmal beleuchten, wie sich die Bekämpfung von Geschlechterungerechtigkeit in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit etabliert hat. Schon seit den 1970er Jahren stellt die deutsche Entwicklungspolitik die Bekämpfung von globaler Geschlechterungerechtigkeit und Frauen als Subjekte von Hilfe immer wieder in den Fokus ihrer Arbeit.

Zu Beginn der 1980er Jahre verfolgte die Entwicklungspolitik dabei einen liberalen Gleichstellungsansatz. Ein liberaler Gleichstellungsansatz ist einer, der stark das leistungswillige Individuum in den Vordergrund stellt und vor allem die (ökonomische) Selbstverwirklichung fördert. Mit Women In Development (WID) Ende der 80er Jahre mussten Projekte u.a. nachweisen, dass Frauen von ihnen profitieren. Darüber hinaus wurden Frauen als Mitarbeiterinnen in der Entwicklungshilfe gefördert. Es wird bemängelt, wie paternalistisch die Einbindung war. Unter einem Modernisierungspaternalismus wurden Frauen im Süden nur als Opfer der Umstände gelesen, die emanzipiert werden müssten. Jedoch ohne die Machtstrukturen zu verändern, die diese Ungleichheiten global produzieren. Frauen wurden als vulnerable, diskriminierte Subjekte, die keine Handlungsmacht hatten, dargestellt und verstanden. Vor diesem Hintergrund verstand es die Entwicklungshilfe als ihre Aufgabe, den Frauen zu »helfen«.

Diese Sichtweise auf Frauen in der Entwicklungshilfe änderte sich in den 90er Jahren. Das Gleichstellungsparadigma der 80er verschob sich zum Empowerment-Paradigma der 90er Jahre. Die Idee war, Frauen nicht nur als Empfängerinnen von Hilfsmaßnahmen zu sehen, sondern sie als wichtige Akteurinnen für die Stärkung ökonomisch schwacher Staaten anzuerkennen. Durch Maßnahmen der Entwicklungshilfe sollten sie mit dem Ziel des Empowerments in die Arbeitsmärkte des Globalen Südens integriert werden. Eines der bekanntesten Beispiele für solche entwicklungspolitischen Maßnahmen waren die Mikro-Kredite, die an Frauen für die Gründung von small-scale-businesses vergeben wurden. Diese sollten Frauen helfen, ökonomisch unabhängig zu werden – erzielten aber im Endeffekt das Gegenteil. Da sich die ökonomische Struktur nicht verschob, wurden die betroffenen Frauen in einen nicht endenden Schuldenkreislauf und damit in verstärkte ökonomische Abhängigkeiten getrieben. Ein weiteres Beispiel ist die Förderung der Beschäftigung von Frauen, meist in exportorientierten Industrien, die für die Märkte im Norden produzieren. Zwar waren mehr Frauen nun in Arbeitsverhältnissen angestellt, aus der Armutsfalle kamen sie dadurch jedoch nicht. Stattdessen wurden sie zum primären Subjekt ökonomischer Ausbeutung.

Zu Beginn der 2000er Jahre sollte dann ein neues Paradigma den Weg in eine feministische Entwicklungszusammenarbeit ebnen, das Gendermainstreaming. Mit der Berücksichtigung dieser Norm in entwicklungspolitischen Vorhaben sollten Frauen und Männer von diesen gleichermaßen profitieren und sollte die Gleichstellung der Geschlechter endlich erreicht werden. Bereits 1995 wurde auf der Weltfrauenkonferenz in Bejing formuliert, dass Gender-Mainstreaming »[den] Prozess der Bewertung der Auswirkungen einer geplanten Maßnahme auf Frauen und Männer, einschließlich Rechtsvorschriften, Politiken oder Programmen, in allen Bereichen und auf allen Ebenen [bedeutet]. Es ist eine Strategie, um die Anliegen und Erfahrungen von Frauen und Männern zu einem integralen Bestandteil der Konzeption, Umsetzung, Überwachung und Bewertung von Politiken und Programmen in allen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen zu machen, sodass Frauen und Männer gleichermaßen profitieren und Ungleichheit nicht aufrechterhalten wird.

Oberstes Ziel ist es, die Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen« (Report of the Economic and Social Council for 1997). Auch in den letzten Jahren blieb das Gender-Mainstreaming ein übergeordnetes Ziel der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Vor diesem Hintergrund hat das BMZ im Jahr 2014 ein »übersektorales Konzept zur Gleichberechtigung der Geschlechter in der deutschen Entwicklungspolitik« verabschiedet. Auch dieses definiert Gender-Mainstreaming, und damit die »Integration einer Geschlechterperspektive in alle entwicklungspolitischen Strategien und Vorhaben« als grundlegende Säule des deutschen entwicklungspolitischen Engagements.

Wurde damit nun die Entwicklungszusammenarbeit endlich auch feministisch? Nicht wirklich.

Zwar war und ist die Solidarisierung mit Frauen* weltweit, die für ihre Rechte und Unabhängigkeit kämpfen, auf jeden Fall richtig. Wenn Entwicklungspolitik aber wirklich einem umfassenden feministischen Anspruch gerecht werden will, dann reicht es nicht, Gender-Mainstreaming als Grundsatz zu definieren und Frauen und Mädchen in den Zielgruppenbeschreibungen entwicklungspolitischer Vorhaben zu priorisieren. Denn eine feministische Perspektive sieht nicht nur Geschlecht, sondern muss vielmehr intersektional gedacht werden. Das heißt, die Arbeit für Geschlechtergerechtigkeit muss unweigerlich mit einer Kritik und Veränderung der Herrschaftsstrukturen des globalen Kapitalismus einhergehen, die zutiefst rassifiziert und vergeschlechtlicht sind. Solange sich die Entwicklungszusammenarbeit jedoch außerhalb ihrer spezifischen Vorhaben für Geschlechtergerechtigkeit für sicherheits-, migrations- und wirtschaftspolitische Zielsetzungen instrumentalisieren lässt, kann sie nicht feministisch sein.

Auch die Vorhaben deutscher Entwicklungspolitik zur Stärkung von Frauenrechten, zur Verurteilung von Gewalt gegen Frauen oder zum »wirtschaftlichen Empowerment« (BMZ 2014) von Frauen weltweit selbst können zudem durchaus paternalistisch sein. Darüber hinaus lässt sich kritisieren, dass Frauen (und Männer) bislang als eine einheitliche Kategorie gedacht wurden. Dabei wurde die Komplexität von Kontexten missachtet und jegliche Differenzen zwischen Frauen als irrelevant relativiert, da Empowerment als ein universelles Ziel gedacht und nicht weiter hinterfragt worden ist.

Aus den postkolonialen Feminismen geboren, stützen sich transnationale Feminismen gegen die Idee der globalen Schwesterlichkeit (Global Sisterhood), die davon ausgeht dass Frauen nur aufgrund ihres Geschlechts, und abgesehen von anderen Differenzen in Solidarität stehen können. Dabei werden Hierarchien zwischen Frauen verkannt und globale Zusammenhänge nicht analysiert. Der Ausgangspunkt ist, dass Frauen*/Menschen in unterschiedlichen Positionalitäten zwar von den verschiedenen Achsen der Macht unterschiedlich betroffen sind, dass Solidaritäten jedoch nicht trotz, sondern in diesen Differenzen und über sie hinweg ausgehandelt werden.

Transnationale Feminismen stehen für Bewegung und Transformationen und haben das Potenzial, sich immer wieder neu zu formieren und Analysen und Handlungsoptionen auszuhandeln. Der Mut, nicht vor Komplexitäten zurückzuschrecken, ermöglicht ein besseres Verständnis von Verwobenheiten und Betroffenheiten. So können verschiedene Kämpfe zusammengedacht und in ihrer Verbindung mit einer transnational feministischen Perspektive angegangen werden. Daraus entstehen Herausforderungen und Konflikte, aber auch neue Formen der Handlungsmacht.

Auf die Entwicklungszusammenarbeit übertragen würde dies bedeuten, dass entwicklungspolitische Vorhaben durch die Verwobenheit von Patriarchat, Kapitalismus und Neokolonialismus intersektional gedacht werden müssen, um wirklich feministisch sein zu können. Das heißt, Entwicklungspolitik sollte sich nicht mehr nur auf Maßnahmen im Globalen Süden konzentrieren, sondern genauso auch unsere Lebensweisen im Globalen Norden in den Blick nehmen. Denn die imperiale Lebensweise und das wirtschaftliche Wachstumsparadigma hängen untrennbar zusammen mit Ausbeutung, Klimaungerechtigkeit und der Aufrechterhaltung globaler patriarchaler und rassistischer Strukturen.

Dabei sind Nord und Süd keine fixen Kategorien. Die postkoloniale Denkerin Mohanty beschreibt auch, wie der Globale Norden im Süden zu finden ist und andersrum. Eine imperiale Lebensweise der Minderheit der Welt, die Mohanty »Ein-Drittel-Welt« nennt, kombiniert mit einem Wachstumsmodell, das autoritär und unterdrückend auch in den sogenannten Schwellenländern agiert, in einem internationalen System, wo Entwicklungszusammenarbeit diese Verhältnisse befestigt, beschreibt die Schieflage der Welt.

Diese Bewegungsperspektive, die das Lokale und das Globale zusammendenkt, ist eine, die wir dringend in unserer heutigen Zeit brauchen. Die Welt um uns herum ist aktuell geprägt von multidimensionalen Krisen, die sich aus dem Zusammenwirken von u.a. der Klimakrise mit ihren immer häufigeren und bedrohlicheren Auswirkungen, von der Corona-Pandemie mit ihren gravierenden sozialökonomischen Folgen und der globalen Impfungsgerechtigkeit, von wachsender Ungleichheit weltweit, von Krisen der Demokratie und dem Erstarken rechtsnationalistischer Bewegungen und Parteien und von auf Rassismus und neokolonialen Machtasymmetrien beruhenden Weltmarktdynamiken ergeben. Vor dem Hintergrund multidimensionaler Krisen ist all das, was wir tun, unvermeidlich mit dem Globalen verbunden – unser Handeln hat einen direkten Einfluss auf die Lebensbedingungen von Menschen weltweit.

Vor diesem Hintergrund scheint immer noch mehrheitlich bilateral gedachte Entwicklungszusammenarbeit nicht mehr die zeitgemäße Antwort zu sein. Ohne eine umfassende Adressierung von Ungleichheit und radikales Aufbrechen rassistischer und neokolonialer Strukturen werden Abhängigkeiten und Machtungleichheiten weiter verfestigt und nur die Symptome der aktuellen Krisen gelindert. Es braucht eine radikalere Form von internationaler Zusammenarbeit, die nicht nur Symptome, sondern zugleich auch die Ursachen der multidimensionalen Krisen bekämpft: eine transnationale Solidarität.

Aber inwieweit lässt sich transnationale Solidarität in einem System der Entwicklungszusammenarbeit etablieren, das paternalistisch, kapitalistisch und modernistisch agiert?

Um die aktuellen Praktiken der Entwicklungszusammenarbeit so weiterzuentwickeln, dass sie als global solidarische Praktiken funktionieren, braucht es vor allem die gleichwertige Beteiligung von unterschiedlichen Perspektiven auf die Welt. Denn, transnationale Solidarität funktioniert nicht nur von Norden nach Süden. Das Verhältnis von Globalem Norden und Süden muss neu gedacht werden, ohne dabei jedoch historische und aktuelle Ausbeutungserfahrungen unsichtbar zu machen.

Solidarität heißt, lokale, nationale und globale Kämpfe zusammenzudenken und miteinander zu verbinden. Dafür reicht es nicht, verschiedene Stimmen aus dem Globalen Süden beispielsweise vermehrt als Gastredner:innen auf Konferenzen im globalen Norden einzuladen, sie an Podiumsdiskussionen zu beteiligen oder sie vermehrt in den lokalen Repräsentanzen von westlichen Entwicklungshilfeorganisationen zu beschäftigen. Zwar waren die Bemühungen um vermehrte Beteiligung innerhalb der letzten Jahre wichtig und richtig, jedoch noch lange nicht ausreichend. Vielmehr braucht es strukturelle Veränderungen wie einen gleichberechtigten Zugang zu multilateralen Institutionen und Politikprozessen, globalen Märkten und finanziellen Ressourcen.

Das bedarf nicht nur kurzfristig eines gesamten Umbaus der aktuellen entwicklungspolitischen Verhältnisse und Strukturen, sondern langfristig sogar ihrer Abschaffung. Denn, eine reformistische Entwicklungszusammenarbeit, die Missverhältnisse und Schieflagen, in denen sie agiert, befestigt und verschönert, ist nicht zukunftstragend. Vor allem vor den sich jetzt anhäufenden Poly- und Synkrisen braucht es eine feministische und dekoloniale Solidarität, die strukturelle Ungleichheiten umfassend und auf den unterschiedlichen Handlungsebenen bekämpft. Entwicklungszusammenarbeit, auch eine feministische Entwicklungszusammenarbeit, die, wenn sie existieren könnte, nur liberal sein kann, ist nicht die Antwort, die wir heute dringender denn je brauchen, um unser aller Recht auf ein gutes und würdevolles Leben zu verwirklichen.

Der Text erschien zuerst in OXI 2/2022.

Radwa Khaled-Ibrahim

Radwa Khaled-Ibrahim ist Referentin für Kritische Nothilfe in der Öffentlichkeitsarbeit von medico.


Jetzt spenden!