medico: Bereits seit 2016 arbeitet ihr in Nordwestens Syriens. Wer seid ihr und was macht ihr?
Anas Al-Rawy: Der Ort an dem wir arbeiten war lange unter Daesch (ISIS) Kontrolle. Unsere Arbeit hat deswegen damit begonnen, diesen Ort für uns zurückzugewinnen, indem wir kulturelle und intellektuelle Räume weiten und wiederbeleben, aber auch zu politischer und gesellschaftlicher Partizipation einladen. Der Nordwesten Syriens ist die Endstation für viele verschiedene Menschen aus Syrien, die aus anderen Orten des Landes oder Nachbarregionen wie zum Beispiel aus Palästina vertrieben worden sind. Auch wir, die Gründer:innen, Mitarbeiter:innen und Freiwillige unserer Organisation sind sehr verschieden. Zusammen versuchen wir Rahmenbedingungen und einen Ort zu schaffen, den all diese Menschen als den ihren ansehen können. Deswegen haben wir uns auch dazu entschieden unser Zentrum Hooz zu nennen, denn es bedeutet im Arabischen „Menschen“ oder „Leute“.
Für unsere Arbeit haben wir drei Stränge identifiziert. Im Strang „Fekr“, was grob übersetzt, Denkweisen heißt, kümmern wir uns um Kunst und Kultur, aber auch um die Fragen von Rechten und theoretischen Zugängen. Uns beschäftigten Fragen wie wir leben wollen, was wir unter Revolution verstehen oder was es bedeutet Bürger:in zu sein. Das ist wichtig für die Wiederaneignung von Gesellschaft und Politik hier.
Im Strang „Entwicklung“, „Tanmeya“, arbeiten wir vor allem mit Jugendlichen, damit sie ihre Fähigkeiten erweitern können und bieten unterschiedliche Workshops an. Wir glauben, dass Bildung und Ausbildung zentrale Schlüssel für demokratische Prozesse bilden.
In „Mowatna“, dem Strang „Bürger:innenschaft“, arbeiten wir mit Personen, aber auch mit Kollektiven und Institutionen. Hier geht es darum, eine Praxis der politischen Partizipation zu schaffen. Wir unterstützen, dass Gewerkschaften und Verbände sich formieren können. Uns geht es darum, die Bürger:innen mit ihren Rechten in den Mittelpunkt zu stellen und die Vorstellungen und Konzepte von Beteiligungsmöglichkeiten zu erweitern. Dafür organisieren wir Workshops, in denen wir das gemeinsam erlernen können und haben das „Handbuch der Bürger:innenschaft“ herausgebracht. Im Moment gibt es für sechs Monate noch zusätzlich einen neuen Strang „Fazaa“. Darunter leisten wir Nothilfe für die Betroffenen des Erdbebens.
Was inspiriert euch, in welche Vision ist eure Arbeit einbettet?
Der bekannte arabische Philosoph Nasr Hamed Abou Zeid hat es einmal so formuliert: „Mein Tod ist, wenn ich aufhöre Fragen zu stellen“. Wir sind aus der syrischen Revolution entstanden und davon inspiriert. Uns geht es darum, ein Syrien für alle zu schaffen, in dem jede:r einen Platz hat und gleiche Rechte wahrnehmen kann. Natürlich wissen wir, dass der von uns geschaffene Raum klein ist und auch die von uns gewonnen Kämpfe begrenzt.
Selbstverständlich braucht es für wirkliche Veränderung eine tiefgreifende, radikale politische Transformation. Hooz sehen wir aber als einen kleineren Ort, der den größeren Traum bergen kann, deswegen ist es uns so wichtig den Raum für das Politische zu weiten und zu vertiefen. Wir unterstützen Kollektive und Institutionen darin, ihre Forderungen zu formulieren, sich ein breites politisches Verständnis zu erarbeiten und beraten sie in Taktik und Methoden. Aber wir zwingen niemanden, eine bestimmte Ideologie zu übernehmen.
Das Erdbeben war überraschend und kam mitten in diese Arbeit. Welche Auswirkung hat die neu entstandene Situation für euch?
Im Moment sind alle noch dabei, sich wieder zu sortieren. Aber das Syrien vor dem Erdbeben ist nicht vergleichbar mit dem Syrien nach dem Erdbeben. Alle auf der Straße sprechen darüber, dass sich die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage ändern muss. Wie aber soll der erste Schritt in diese Richtung aussehen? Die Region in der wir arbeiten ist unter türkischer Kontrolle. Die Türkei hat bereits unter Beweis gestellt, dass sie nicht willens oder in der Lage ist, eine für die Bevölkerung zielführende Syrien-Politik umzusetzen. Auch auf der Ebene der Hilfe ist mehr als deutlich geworden, dass es so nicht weiter gehen kann.
Die UN-Unterstützung soll zahlenmäßig die größte Hilfe gewesen sein, doch haben wir nur sehr wenig davon zu Gesicht bekommen. Die UN-Organisationen haben die humanitäre Lage hier nie ansatzweise abgedeckt. Wir haben eigentlich kein Vertrauen mehr in die UN-Organisationen oder zu den Partnern, mit denen sie arbeiten.
Anders ist es bei der Hilfe von den NGOs der internationalen Zivilgesellschaft, die hier schon gearbeitet haben. Von denen haben wir mehr gespürt. Sie waren flexibel und haben direkt versucht mitanzupacken. Wir selbst gehören zur dritten Kategorie: der Hilfe durch lokale Strukturen. Obwohl diese finanziell am geringsten ausgestattet sind, haben sie einmal mehr gezeigt, wie stark die Fähigkeit zu Selbstorganisation, Solidarität und gegenseitiger Hilfe bei Syrer:innen immer noch ausgeprägt ist.
Mit unserem bereits genannten Programm „Fazaa“ leisten wir selbst Nothilfe, in der die Würde der Menschen im Vordergrund steht. Wir gestalten unsere Nothilfe gezielt und auf die Bedürfnisse der Menschen zugeschnitten. Wir bauen nicht pauschal Zelte oder kaufen pauschal Lebensmittel, sondern fragen, wer was braucht und helfen, indem wir die Miete bezahlen, ermöglichen über cash-Programme, dass Menschen selbst darüber entscheiden können, was sie am drängendsten brauchen. Wir stellen Hygieneartikel für Frauen und Mädchen zur Verfügung, sammeln Rezepte und holen die benötigten Medikamente, verteilen Wasser und Lebensmittel. Im Rahmen unserer Möglichkeiten, erhalten alle, die sonst keine Hilfe bekommen, von uns gleichermaßen Unterstützung.
Ihr habt vor dem Erdbeben nicht in Jindayris (Afrin) arbeiten wollen, jetzt leistet ihr dort Hilfe, wie kam es zu dieser Verschiebung?
Seit Afrin vom türkischen Militär besetzt ist, haben wir die Arbeit dort abgelehnt. Als politisch aktive Menschen hier in der Gegend von Rif-Aleppo ist es für uns wichtig zu sagen: Was in Afrin passiert ist, ist nicht normal und darf nicht normalisiert werden. Deshalb haben wir die Arbeit dort boykottiert.
Wir fordern die Anerkennung, dass dort ein Verbrechen und aktuell eine Besatzung stattfindet. Die Rückkehr der Vertriebenen muss erlaubt werden und möglich sein. Kurdische Organisationen und Initiativen können in Afrin nicht zivilgesellschaftlich aktiv sein, da sie Verhaftung, Entführung oder auch Ermordungen riskieren.
Es ist diese Marginalisierung und Ausgrenzung, die uns die Arbeit in Afrin ablehnen ließ. Es ist derselbe Grund, der uns in der Situation der jetzigen Katastrophe bewegt hat, dort doch zu helfen. Kurd:innen werden dort von der Hilfe aktiv ausgeschlossen. Die Situation ist dringlich: Durch die Zerstörung sind die Straßen nicht mehr zu erkennen, um zu erfahren, was die Menschen brauchen, muss man dort zeitaufwendig von Tür zu Tür gehen.
Gleichzeitig muss Vertrauen aufgebaut werden. Gerade war ich selbst vor Ort. Ein Mann sagte mir mit leiser Stimme, wir sollen doch lieber nichts tun. Irritiert fragte ich, warum. Er meinte, dass wenn Hilfslieferungen ankommen, würden die türkisch unterstützten Milizen darauf aufmerksam und er rechnete damit die Güter weggenommen zu bekommen. Er und seine Nachbarn wäre wieder Gewalt ausgesetzt. Im Ergebnis haben wir dann mit ihnen zusammen Wache gehalten.
Du hast gesagt „Syrien vor dem Erdbeben ist nicht Syrien nach dem Erdbeben“. Was müsste jetzt passieren?
Die Kräfte auf der aktuellen politischen Bühne haben sich im Moment einfach überholt. Ein paar Tage nach dem Erdbeben hatten wir ein Treffen mit Vertretern der Regierung und der Ortschaft. Ein Mitarbeiter aus der zivilen Feuerwehr hat seine Anklage an sie prägnant auf den Punkt gebracht: „Wir arbeiten eh so, als wärt ihr nicht da. Ihr seid für uns ein Hindernis, keine Hilfe“. Das zeigt exemplarisch die tiefe Kluft.
Aus unserer Perspektive muss die Bevölkerung – die Initiativen von unten – in Entscheidungsfindungsprozesse eingebunden werden. Dabei geht es aber nicht nur um Partizipation, sondern um Umstrukturierung. Das politische Leben muss von und mit der Perspektive von unten neu aufgebaut werden. Auch die wegen Corona so strikt gezogen Grenzen müssen aufgehoben und die bestehenden Abkommen als Mindeststandards eingehalten werden.
Wir wollen lokale Räte, und nicht ausländische Geopolitik, die nicht in unserem Sinne agiert. Wenn die Welt überhaupt mal Notiz von uns nimmt, sieht sie uns nur als Menschen, die ein Recht auf humanitäre Hilfe haben. So werden wir auf diese Rolle reduziert. Doch wir haben mehr als nur ein Recht auf humanitäre Hilfe. Wir haben ein Recht auf Bildung, auf politische Partizipation, auf ein würdevolles Leben.
Das Interview führte Radwa Khaled-Ibrahim.
Seit den verheerenden Erdstößen am 6. Februar mobilisieren unsere lokalen Partner:innen in der syrischen Region Idlib all ihre Kräfte, um Menschen in Not zu unterstützen. Sie sichern die Grundversorgung der Überlebenden indem sie Trinkwasser, Lebensmittel, Decken, Matratzen, Windeln, Babynahrung und Hygieneartikel verteilen. Sie koordinieren medizinische Hilfe für Verwundete und organisieren Schmerzmittel, Medikamente und weiteres medizinisches Material. Sie organisieren Notunterkünfte, koordinieren freiwillige lokale Helfer:innen und errichten provisorische Sanitäranlagen in schnell errichteten Camps.
In Kooperation mit Adopt a Revolution unterstützen wir in Idlib das „Women Support & Empowerment Center“, die Frauenorganisation „Change Makers“, das zivilgesellschaftliche Zentrum „Hooz“ und die Hilfsorganisation Sawa bei ihrer lebenswichtigen Arbeit.