Libanon-Krieg

Zurück zu Assad?

10.10.2024   Lesezeit: 5 min

1,2 Millionen Menschen sind auf der Flucht vor den israelischen Angriffen im Libanon. Hunderttausende Syrer:innen fliehen in ihr Heimatland, wo sie ebenfalls bedroht werden.

Von Imad Mustafa

Der Libanon erlebt die schwersten Bombardements seit Jahrzehnten, nun sind auch israelische Bodentruppen in das Land eingedrungen. Besonders betroffen vom Krieg sind der Süden, die an Syrien grenzende Bekaa-Ebene sowie die südlichen Bezirke der Hauptstadt Beirut. Aber auch andernorts gibt es immer wieder israelische Angriffe. Ganze Dörfer im Süden des Landes liegen in Schutt und Asche, erinnern mehr und mehr an Gaza. Bislang wurden mehr als 2000 Menschen getötet und über 10.000 verletzt.

Über 130 Städte und Dörfer im Süden des Landes wurden durch das israelischen Militär zum Sperrgebiet erklärt und ihre Bewohner:innen aufgefordert, die Orte zu verlassen. Auch die palästinensischen Flüchtlingslager el-Buss und Rashidiyeh im Süden des Libanon sind von der Räumungsorder betroffen, Zehntausende sind auch hier auf der Flucht. Zusätzlich ist die Küste zwischen der libanesischen Stadt Saida und der israelischen Grenze auf einer Länge von 60 Kilometern zum Sperrgebiet erklärt worden, was besonders die lokalen Fischer trifft: Allein in Saida ist der Lebensunterhalt von über 5000 Familien weggebrochen.

Die Krankenhäuser des Landes arbeiten nach Jahren einer verheerenden Wirtschaftskrise am Limit. Der Krieg und die massenhafte Flucht belasten das Gesundheitssystem zusätzlich. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Krankenhäuser, Ambulanzen und Gesundheitszentren durch israelische Bombardements zerstört oder außer Betrieb sind. Auch Dutzende Gesundheitsarbeiter:innen wurden getötet. Die WHO warnt vor einer weiteren Verschlechterung der Lage. Zwar wurden Trauma-Kits und besonders wichtige medizinische Ausrüstung von WHO und Ärzte ohne Grenzen ins Land gebracht, doch wenn der Krieg länger andauern sollte, ist eine Versorgung schwierig, so Mohammed al-Zayed von der medico-Partnerorganisation AMEL, die sich mit ihren Gesundheitszentren an den Hilfsmaßnahmen beteiligt. Eines ihrer Zentren in Nabatieh, im Süden des Landes, wurde vor einigen Tagen durch israelische Bombardements in der Nähe stark beschädigt.

Ungleichbehandlung der Flüchtenden

Doch nicht nur das Gesundheitssystem steht am Rande des Kollapses. Der Libanon, der schon immer Geflüchtete aufgenommen hat, zuerst Palästinenser:innen, dann Millionen Syrer:innen, erlebt nun seine eigene, tragische Geschichte von Entwurzelung und Flucht. Über eine Million Menschen aus vom Krieg besonders betroffenen Landesteilen sind auf der Flucht – sie schlafen in Schulen, bei Verwandten oder am Strand. Und täglich werden es mehr. Laut offiziellen Angaben der Vereinten Nationen sind fast alle 1000 Notunterkünfte des Landes voll belegt. Da sich so gut wie alle in Schulen befinden, wurde der Beginn des neuen Schuljahres auf Anfang November verlegt.

Alle zivilgesellschaftlichen Kräfte arbeiten seit Wochen rund um die Uhr, damit die Versorgung der meist mit nur Wenigem geflüchteten Menschen in den Notunterkünften aufrechterhalten werden kann. Auch die palästinensische medico-Partnerorganisation Nashet Association hilft in Saida bei der Versorgung und der psychosozialen Unterstützung geflüchteter Familien aus dem Süden. Ihr Leiter, Dr. Zafer al-Khateeb, berichtet, dass die Verhinderung von Krankheiten und die dauerhafte Versorgung der Geflüchteten mit Wasser und Essen die größten Herausforderungen seien. Auch die Dringlichkeit psychosozialer Versorgung traumatisierter Menschen nehme von Tag zu Tag zu.

Während die Bomben nicht zwischen Libanes:innen, Syrer:innen, migrantischen Arbeiter:innen oder Palästinenser:innen unterscheiden, wird sehr wohl unterschieden, wenn es um den Zugang zu Hilfe geht. In die große Hilfsbereitschaft und das gesellschaftliche Zusammenrücken mischen sich Vorbehalte und Diskriminierung. Berichte über Ungleichbehandlungen bei der Zulassung zu Unterkünften mehren sich. Libanes:innen werden privilegiert behandelt, für Palästinenser:innen wurden nach einigen Tagen zumindest die UNRWA-Schulen geöffnet.

Zurück in Assads Syrien?

Syrer:innen, die bereits vor der jüngsten Eskalation des Krieges von zum Teil pogromartiger Verfolgung, Abschiebungen nach Syrien und extrem prekären ökonomischen Verhältnissen bedroht waren, ist die Lage am Schlimmsten. Den eineinhalb Millionen Syrer:innen im Land wurden lediglich sechs Schulen in der Bekaa-Ebene als Notunterkunft zur Verfügung gestellt. Manche Familien waren tagelang unterwegs, bis sie eine Unterkunft gefunden haben. Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge sahen sich deswegen bis Ende September 170.000 Syrer:innen gezwungen, in ihr Heimatland zurück zu fliehen. Angaben der libanesischen Regierung zufolge sind es sogar 375.000 Menschen, die nach Syrien geflohen sind, rund die Hälfte davon Kinder, Frauen und Jugendliche. Und obwohl Masnaa, der Grenzübergang auf der Strecke zwischen Beirut und Damaskus, von der israelischen Luftwaffe bombardiert wurde, reißt der Strom von Geflüchteten nicht ab.

Alles scheint besser, als den israelischen Bombardements ausgesetzt zu bleiben, ohne Aussicht auf ausreichende Versorgung und Schutz. Doch für viele Menschen ist die Rückkehr in Assads Syrien mit hohen Risiken verbunden. Noch immer werden Menschen dort verschwunden gelassen, willkürlich inhaftiert, gefoltert oder hingerichtet, wie ein kürzlich erschienener Bericht zur Menschenrechtslage und den grausamen Haftbedingungen bestätigt. Um dem Regime zu entgehen, schlagen sich diejenigen, die etwas Geld haben, mithilfe von Fluchthelfern bis nach Rojava durch, wo heute annähernd 20.000 Geflüchtete aus dem Libanon von der medico-Partnerorganisation Kurdischer Roter Halbmond medizinisch und psychologisch betreut werden. Besonders Männer, die vor dem Wehrdienst in Syrien geflohen waren, nutzen diese Möglichkeit.

Gegenüber den Fliehenden, die über die reguläre Grenze nach Syrien kommen, zeigt sich das Assad-Regime aus naheliegenden Gründen hilfsbereit, verzichtet auf die obligatorischen 100 US-Dollar, die sonst an der Grenze in die Landeswährung gewechselt werden müssen und kooperiert mit dem UNHCR. Politisch bedeutet die Situation eine enorme Aufwertung des syrischen Regimes, das seit Jahren – und zunehmend mit Erfolg – versucht, seine Beziehungen zur Staatengemeinschaft zu normalisieren.

Auch für die libanesische Politik kommt die erzwungene Rückkehr Hunderttausender Syrer:innen gelegen; seit Monaten hetzen Politiker gegen sie, um von den selbst verursachten wirtschaftlichen und sozialen Krisen im Land abzulenken. Die „Das-Boot-ist-voll Politik“ fand ihren vorläufigen Höhepunkt in Aussagen des libanesischen Innenministers und libanesischer Medien, die behaupten, die erzwungene Rückkehr der Syrer:innen zeige, dass Syrien doch offensichtlich als sicher deklariert werden könne. Zu befürchten ist, dass es im gegenwärtigen politischen Klima nur eine Frage der Zeit ist, bis auch hierzulande mit Verweis auf die Situation im Libanon wieder nach Syrien abgeschoben wird. Dabei werden kritische Stimmen in Syrien weiter unterdrückt, die Menschenrechtslage ist katastrophal und in vielen Regionen wird immer wieder gekämpft. Eine Perspektive gibt es hier für die Flüchtenden aus dem Libanon auch nicht.

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Imad Mustafa (Foto:medico)

Imad Mustafa ist Referent für Menschenrechte bei medico. Außerdem ist der Politologe und Islamwissenschaftler für die Öffentlichkeitsarbeit zu Afghanistan sowie Nordafrika und Westasien zuständig.

Twitter: @imadmustafa_


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