435 Kilometer. So weit ist die mexikanisch-guatemaltekische Grenze von der Stadt Juchitán im Bundesstaat Oaxaca entfernt. 435 Kilometer haben der 30jährige Jaime und seine 22jährige Frau Marlene bereits mit ihren kleinen Kindern Isaia und Naomi auf mexikanischem Boden zurückgelegt. Ihr Ziel: Die 2500 Kilometer entfernten USA. Zusammen mit sechs anderen Erwachsenen und einem weiteren Kind haben sie vor einigen Wochen in Usulután, El Salvador alles stehen und liegen gelassen, um sich der Karawane der honduranischen Migrant_innen anzuschließen, die Mitte Oktober in San Pedro Sula gestartet war. Inzwischen umfasst die Karawane rund 7000 Menschen, zwei weitere große Gruppen folgen. Das erste Paar Schuhe der Salvadorianer_innen ist längst abgenutzt, die Füße sind voll Blasen und sie freuen sich über einen Tag Auszeit in Juchitán.
Nach Stationen in Chiapas und kleineren Orten in Oaxaca ist die Karawane am 30. Oktober in Juchitán de Zaragoza angekommen. Schon bevor ich in die Propellermaschine steige, die zwei Mal täglich von Mexiko-Stadt nach Juchitán fliegt, werde ich von einem Kollegen gewarnt, der in Oaxaca lebt: Die Stadt ist unter den Top Ten der gefährlichsten Städte Mexikos. Mit 95 Morden auf 100.000 Einwohner_innen liegt sie noch über den Zahlen der mittelamerikanischen Länder, aus denen die Teilnehmer_innen der Karawane flüchten. In Deutschland lag die Mordrate im Jahr 2016 bei 1,2.
Sengende Hitze und erschöpfte, aber hoffnungsvolle Menschen
Gemütlich wirkt Juchitán nicht, aber sichtbar war diese Gewalt für mich nicht. Vor allem nicht auf dem improvisierten Camp, das die Stadtverwaltung auf dem Gelände des nie fertiggestellten neuen Busbahnhofs errichtet hat. Tausende Menschen nutzen hier jeden sich bietenden Schatten. Unter selbst gebastelten kleinen Tarps aus Plane oder Decken und Stöcken, unter dutzende Meter langen Zeltbahnen und in den Durchgängen des Bus-Terminals suchen die Menschen Schutz vor der brennenden Sonne und Temperaturen von bis zu 35 Grad.
Familien, händchenhaltende Paare, Gruppen und allein Reisende werden hier in Juchitán das erste Mal seit Beginn ihrer Reise improvisiert, aber professionell versorgt: Es gibt eine Ambulanz, eine Apotheke, die Stadtverwaltung liefert regelmäßig Wasser für die Duschen und zum Waschen des Wenigen, das die Menschen an Kleidung haben. Immer wieder bilden sich lange Schlangen vor Pick-Ups, von denen Essensportionen oder Hygieneartikel verteilt werden. Fast immer bilden sich zwei Schlangen, eine lange von jungen Männern und eine kürzere von Frauen und Kindern. Diszipliniert warten sie auf die Ausgabe von manchmal nur einem kleinen Sandwich, rufen immer wieder „¡fila!“, „Stell dich in die Reihe!“, wenn sie den Eindruck haben, es drängelt doch jemand vor. Eine Gruppe junger Männer spielt trotz der sengenden Hitze über Stunden Fußball, andere vertreiben sich die Zeit mit Kartenspielen, die Kinder werden von Mitarbeiter_innen einer NGO mit Hula Hoop-Reifen versorgt und zu Spielen animiert. Im geöffneten Laderaum eines LKW ist sogar ein Friseursalon eingerichtet.
Wer steht hinter der Karawane?
Der 24jährige Yesman aus Honduras sitzt mit seinen Freund_innen in einem Durchgang des Bus-Terminals. Sie haben sich auf der Reise kennen gelernt und sind jetzt gemeinsam unterwegs. Ihr Ziel, wie das Ziel aller hier sind die USA, egal wo dort. Yesman, der sich den Spaß nicht nehmen lässt, seinen Namen ins Spanische zu übersetzen („Si, Señor“) erzählt, dass er von den maras in San Pedro Sula bedroht worden ist nachdem sie ihn als halcón, als Späher, anwerben wollten. Hals über Kopf ließ er seine Frau und seinen 3jährigen Sohn zurück. Doch auch er nennt die schlechten Verdienstmöglichkeiten als zweiten Fluchtgrund: 20 Dollar für einen langen Arbeitstag an einer Kartonmaschine reichten einfach nicht zum Leben für eine Familie. Yesman, wie alle mit denen wir sprechen, nennt die Hoffnung auf eine bessere, sichere und lebenswerte Zukunft als zentrale Motivation für die Reise. Wie er auf die Karawane aufmerksam wurde? „Über die Medien.“ Wer den Aufruf zum gemeinsamen Aufbruch in Honduras gestartet hat, bleibt im Dunkeln. Spekulationen gibt es viele. Bis hin zu der These, dass die CIA dahinter stecke, um Trump Futter für den Midterm-Wahlkampf zu geben. Doch selbst wenn: Die Verdichtung der ohnehin stattfindenden Migration aus Mittelamerika zu einer großen Karawane schafft eine Öffentlichkeit für die Lage in den Ländern des „Triángulo Norte“ – Honduras, Guatemala und El Salvador – wie sie in den letzten Jahren selten geworden ist.
Unklar bleiben nach einem Tag in Juchitán auch die Entscheidungsstrukturen der Karawane. Immer wieder wird die Organisation „Pueblos Sin Fronteras“ genannt, die für die Strategie verantwortlich sei, während gleichzeitig aber alle wichtigen Entscheidungen auf abendlichen basisdemokratischen Versammlungen getroffen würden. De facto wurde heute allerdings zwei Stunden vor der angekündigten asamblea die nicht unerhebliche Information verbreitet, wann und wohin morgen gelaufen würde: Aufbruch sei um 3 Uhr morgens in Richtung Santa María Jalapa del Marqés, 40 Kilometer in Richtung von Oaxaca-Stadt gelegen.* Auf einem Facebook-Video der Organisation von heute sagt eine Sprecherin, „Wir gehen voran, Gott geht mit uns. Wir sind das Volk Israels.“ Die Rolle der Evangelikalen ist unklar, auf den Versammlungen spielen sie eine wichtige Rolle, einer unserer Gesprächspartner wähnt sie als Strippenzieherinnen hinter der Karawane. Im Endeffekt gilt aber das gleiche wie für die CIA-These: Egal wer sie instrumentalisiert, die Aufmerksamkeit nutzt den Migrant_innen, die Größe der Karawane schützt sie und ihre Fluchtgründe sind real.
Karawane? Exodus!
In Juchitán haben die Menschen das erste Mal seit dem Übertritt der mexikanischen Grenze einen vollen Tag Auszeit, die meisten nutzen ihn zur Erholung von den Strapazen der langen Fußmärsche, waschen ihre Wäsche und pflegen ihre kaputten Füße. Und wer wirklich Langeweile hat, kann sich bei den ebenfalls gelangweilt herumsitzenden Leuten des Grupo Beta, den good cops der Migrationspolizei, über die Möglichkeiten der Rückreise ins Herkunftsland informieren. In manchen Artikeln war zu lesen, dass bis zu 2000 Menschen bereits davon Gebrauch gemacht hätten, aber Edgar Corzo, Beauftragter für Migration bei der mexikanischen Menschenrechtskommission CNDH sagt uns, es seien eher 500, die umgekehrt seien, weil sie selbst oder ihre Kinder nicht mehr durchgehalten haben.
Corzo beschreibt die Teilnehmer_innen der Karawane als extrem entschlossen. Die Meisten könnten einfach nicht zurück, zu groß sei das Elend, zu real die Bedrohungslage. Dafür würden sogar Amputierte, Menschen im Rollstuhl und Schwangere den beschwerlichen Weg mit der Karawane auf sich nehmen. Karawane? Marta Sánchez Soler von der medico-Partnerorganisation Movimiento Migrante Mesoamericano spricht wie viele andere von einem Exodus, der hier vor sich geht. Im Jahr 2017 haben laut UNHCR 294.000 Menschen aus Guatemala, Honduras und El Salvador in den benachbarten Ländern und den USA eine Anerkennung als Flüchtling beantragt – das bedeutet eine Verdopplung der Zahl von 2016 und das sind ganze 16 Mal so viele wie 2011.
Selbstorganisation gegen Trump
Unter einer Plane gibt der Arzt Manuel Valenzuela nummerierte Westen an Freiwillige aus und teilt sie in Gruppen bestimmten Schichten zu. Von der Beseitigung des Mülls über eine Begrenzung des Wasserverbrauchs, die Sicherheit an der Einfahrt, die Ermahnung zum Händewaschen und das Sauberhalten der Dixie-Klos werden viele notwendige Aufgaben von den Migrant_innen selbst organisiert. „Unser größter Feind ist nicht Trump, sondern sind Krankheiten, die hier ausbrechen können“, ruft der 49jährige Kinder- und Notarzt ins Mikrofon und ermahnt noch einmal, diesmal an die große Zuhörer_innenschaft außerhalb der schattenspendenden Plane gerichtet, zum Händewaschen auf.
Eine Woche hilft der US-Bürger mit mexikanischen Wurzeln bei der Karawane aus. Auf seinem Weg zurück zum Gesundheitsposten wird er ständig angehalten, muss Fragen beantworten, Tipps geben. Für die Migrant_innen hat er nur gute Worte: Physisch und psychisch seien die Menschen hier außerordentlich stark, niemand dürfe sie Verbrecher nennen, was Trump über ihnen ausschütte sei einfach unmenschlich. Zumal die USA auch eine Mitschuld an der Migration aus Mittelamerika hätten.
Warum verlassen die Menschen ihre Länder?
„Ich steckte in einer Sackgasse“, erzählt Jaime als ich ihn und seine Familie zusammen mit dem Journalisten Klaus Ehringfeld am Eingang des Busbahnhofs kennenlerne. Weil er im salvadorianischen Militär gelernt habe, wollten maras – die berüchtigten mittelamerikanischen Banden – ihn zwingen, ihre Leute an der Waffe auszubilden. „Vor die Wahl gestellt zwischen der Todesstrafe wegen Landesverrats und dem sicheren Todesurteil bei einer Verweigerung der Mitarbeit bei den maras entschieden wir uns für die Flucht“, sagt er. Die ökonomische Situation der Familie – Jaime verdiente in der Herstellung von Baumaterialien knapp 10 Dollar pro Tag – erleichterte die Entscheidung, das Land zu verlassen. Jetzt sind Jaime und Marlene mit ihren Kindern und Freund_innen unterwegs, dabei haben sie einen Buggy und einen Rucksack, darin vor allem Kinderkleidung und eine Erste-Hilfe-Tasche. Stolz erzählt Jaime, dass er sowas wie der Sanitäter ihrer kleinen Gruppe ist. Die Medikamente darin haben sie gemeinsam gekauft.
In Jaimes Geschichte wie in der Geschichte vieler anderer Gesprächspartner_innen des heutigen Tages tauchen die zwei Ursachen auf, die die Meisten hier zum Aufbruch bewegten: Die Perspektivlosigkeit aufgrund der ausweglosen ökonomischen Situation in Mittelamerika und eine konkrete Bedrohungslage durch die extrem gewalttätigen Gangs. Wer soll hier unterscheiden zwischen denen, die aufgrund von Verfolgung fliehen und jenen, die wegen der Perspektivlosigkeit migrieren?
Ebenso spontan wie die Familie von Jaime und Marlene hat sich die 58jährige Gloria Argentina aus dem honduranischen San Pedro Sula mit ihrem Mann und ihrer 14jährigen Tochter der Karawane angeschlossen: „In den Nachrichten haben wir vom Aufbruch erfahren. Nachdem wir den ganzen Tag hin und her überlegt hatten, ob wir es wagen sollen sind wir abends schließlich in den Bus gestiegen und der Karawane hinterher gefahren.“ Seitdem die maras vor einigen Jahren versucht hatten, ihren Sohn zu rekrutieren und er in die USA geflohen ist, sei die Familie als intern Vertriebene in Honduras von einer Stadt zur nächsten gezogen. „Wir hatten immer Angst“, sagt Gloria Argentina. Zur Polizei seien sie gar nicht erst gegangen, alle wüssten schließlich, dass Polizist_innen mit den maras kooperierten. Doch auch für ihre Familie spielt die Ausweglosigkeit der ökonomischen Situation in Honduras eine Rolle: „Unser Land bietet keine Zukunft. Das ändert sich einfach nicht, selbst wenn eine Regierung gute Intentionen hat.“
Die Gruppe bietet Schutz
Der Karawane hat sich Gloria Argentina auch angeschlossen, weil die Reise so sicherer ist als allein. Die Alternative hat sie noch vor Augen: Der Sohn ist auf seiner Reise von einem coyote, einem Schmuggler, einfach ausgesetzt worden und wurde von einer Schlange gebissen. Schutz und gegenseitige Hilfe, das versprechen sich alle hier von der gemeinsamen Reise in der Karawane. Dass das funktioniert bestätigt Marcelino Nolasco vom Menschenrechtszentrum von Tepayec: „Die große Gruppe wird von der Migra, der Polizei zur Bekämpfung der sogenannten illegalen Einwanderung, in Ruhe gelassen. Gefährdet sind die Eiligen, die dem Tross vorausgehen und diejenigen, die aufgrund von Verletzungen, Behinderungen oder Kindern zu langsam sind.“
Um letztere kümmert sich Marcelino mit einer Gruppe aus verschiedenen anderen sozialen Organisationen, die die Karawane in Oaxaca begleiten. Neben dieser unmittelbaren Hilfe für die Schwächsten verfassen die lokalen Aktivist_innen tägliche Berichte über die Situation der Karawane und fassen ihre Forderungen an die Behörden zusammen. Die aktuell wichtigste Forderung neben einer primären Versorgung besteht im Ruf nach Bussen, die die Karawane in die mexikanische Hauptstadt bringen. Dafür wurde heute eine Kommission gebildet, die darüber mit der Bundesregierung verhandeln soll. Bislang allerdings ohne Erfolg. Etwa 100 Reisebusse – das wäre auch eine logistische Leistung, die nicht von heute auf morgen zu erwarten wäre, schon gar nicht in Mexiko.
Aktivismus auf dem Isthmus, auch jenseits der Karawane
Wenn gerade keine größere Karawane von Migrant_innen den Isthmus – also die schmalste Stelle Mexikos – durchquert, klärt Marcelinos Organisation die Menschen hier über die Menschenrechte auf und verteidigt das Territorium gegen Megaprojekte. Seit fast zwanzig Jahren bedeutet das auf der Pazifikseite des Isthmus den Kampf gegen die Konzerne, die hier riesige Windkraftparks betreiben, um die starken Winde in der Region zu nutzen. Nichts davon kommt uns zugute, sagt Marcelino. „Die Gemeinden können nicht wachsen, weil sie von den Parks umgeben sind, der ausgetrocknete Boden zwischen den Windrädern taugt nicht mehr für die Landwirtschaft und der Strom ist ohnehin nur Exportgut.“
Nach den Erdbeben vom September 2017 (das erste hatte auf dem Isthmus verheerende Auswirkungen), sind in Juchitán noch immer viele Ruinen und abgebrochene Häuser zu sehen. Auch in San Dionisio del Mar, vierzig Kilometer von Juchitán auf einer Landzunge in der Lagune gelegen, wurden die Menschen systematisch beim Wiederaufbau benachteiligt. Die Gemeinde ist bekannt für ihren jahrelangen Widerstand gegen die Windkraftparks. Zusammen mit medico Schweiz unterstützt medico international in beiden Städten den selbstorganisierten Wiederaufbau der lokalen Komitees.
„Die Solidarität hat hier Tradition“, sagt Marcelino. „Jetzt kommt sie den Migrant_innen zugute.“ Zwar gebe es hier wie überall auch Anfeindungen, aber im Großen und Ganzen seien die Menschen extrem hilfsbereit. Im Camp der Karawane in Juchitán äußern alle unsere Gesprächspartner_innen Dankbarkeit für Geld, Wasser und Essen, das sie auf der gesamten Reise geschenkt bekommen haben.
Vielevon ihnen fragen wir, ob sie daran glauben, die USA tatsächlich erreichen zu können. Fast alle antworten mit einem unbezwingbaren Optimismus und einem fast schon sturen Glauben daran, dass Gott ihr Schicksal schon richtig lenken wird. Am schönsten hat das Jaime zusammengefasst: „Wir hören, was Trump uns an den Kopf wirft“, sagt er, „aber da stehen wir drüber. Denn das letzte Wort hat Gott.“
In wenigen Stunden brechen die Migrant_innen aus Mittelamerika wieder auf zur nächsten Etappe. Mexiko-Stadt ist noch weit, die USA noch weiter. Aber der Glaube daran, dass es möglich ist, wird die Menschen in der Karawane noch eine ganze Weile tragen.
* Am späten Abend wird eine andere Zeit und ein anderes Ziel bekanntgegeben.
Kurz-Update I, 1.11.2018 Juchitán - Matías Romero (Oaxaca)
Kurz-Update II, 2.11.2018 Matías Romero - Sayula de Alemán (Veracruz)