Covid-19

Pandemisches Systemversagen

29.11.2021   Lesezeit: 11 min

In diesen Wochen feiert das Covid-19-Virus seinen zweiten Geburtstag, gerade in Gestalt der neuen Variante Omikron. Nach wie vor findet das Virus beste Voraussetzungen, um sich weltweit zu verbreiten.

Von Anne Jung

Bereits die Frühwarnsysteme ließen das Virus durch, weil die chinesische Regierung die Weltgesundheitsorganisation WHO viel zu spät informierte und dem Mediziner Li Wenliang, der als einer der ersten vor dem neuen Coronavirus warnte, den Mund verbot – er verstarb kurz darauf im Alter von nur 34 Jahren selbst an Covid-19.

Das Virus traf auf Weltverhältnisse, die aus einer Pandemie eine Polypandemie machten. Monate bevor das Virus die ersten Länder des globalen Südens erreichte, verloren Millionen Menschen ihre Jobs und stürzten in Armut. H&M, Mango und Co. kündigten Lieferverträge und holten – als hier die Läden schlossen – nicht einmal mehr bereits bestellte Waren ab. In Bangladesch und Pakistan standen die Näher:innen vor verschlossenen Fabriktoren, ohne Sozialversicherung, ohne Rücklagen und oftmals ohne ausreichende Mittel, um die Heimreise in ihre Dörfer anzutreten. Die Polypandemie hat wirtschaftliche Insolvenzen ausgelöst, die Ernährungsunsicherheit wurde durch die Verbindung von Corona und Klimakatastrophe vergrößert und bestehende Hungersnöte verschärften sich. Weltweit leiden heute 811 Millionen Menschen an chronischem Hunger – das ist jeder Zehnte.

Im Gepäck internationaler Reisetätigkeiten und durch die konsequente Weigerung Europas und der USA, rasche Gegenmaßnahmen zu ergreifen – Wahlkampfveranstaltungen, Karneval, Ischgl… – konnte sich das Virus in rasanter Geschwindigkeit ausbreiten. Die maroden Gesundheitssysteme vieler Länder und nationalistische Politiken trugen ihr Übriges zur Ausbreitung bei. In Indien, Südafrika und vielen anderen Ländern hungerten und hungern die Menschen im Lockdown, den die Regierungen auch deshalb verhängten, weil sie um die maroden Gesundheitssysteme wussten, auf die das Virus treffen würde. Die globalen Behandlungsprogramme für Tuberkulose und HIV sind durch die Pandemie wesentlich eingeschränkt worden, viele Massenkrankheiten, die besonders Arme treffen, grassieren wie selten zuvor, weil die Menschen wegen Corona keine Behandlungsmöglichkeiten mehr haben. Je ausgeprägter diese Krisen werden, desto schwieriger wird es, die Pandemie zu beenden.

Um dem Virus Einhalt zu bieten machte die Weltgesundheitsorganisation im Mai 2020, kurz nach dem ersten Lockdown in vielen Ländern Europas und anderen Teilen der Welt, einen weitreichenden und von der Idee globaler Solidarität getragenen Vorschlag: Sie rief den Covid-19 Technologie-Zugangspool (C-TAP) ins Leben, um den rechtzeitigen, gerechten und erschwinglichen Zugang zu Covid-19-Gesundheitsprodukten zu erleichtern. Der C-TAP könnte ein Fokuspunkt sein für die Entwickler:innen von Covid-19-Therapeutika, -Diagnostika, -Impfstoffen und anderen Gesundheitsprodukten, die ihr geistiges Eigentum, ihr Wissen und ihre Daten mit qualitätsgesicherten Herstellern durch freiwillige und transparente Lizenzen teilen.

Impfstoff-Nationalismus statt Solidarität

Doch es geschah: nichts. Genau in den Wochen, als sich ganz Europa über den vom damaligen US-Präsidenten Trump angekündigten Austritt aus der WHO mokierte und empört von den USA das Bekenntnis zum Multilateralismus einforderte, versagten vor allem die Industrienationen, in denen die großen Pharmaunternehmen ansässig sind, der WHO und mehr als 40 Ländern primär des globalen Südens, die sich für den Pool einsetzten, kollektiv die Unterstützung. Kanzlerin Angela Merkel, EU-Ratspräsidentin Ursula von der Leyen und viele andere Machthaber:innen Europas sprachen zwar ständig von Gemeinsinn und Solidarität. Doch in der Praxis verfolgten sie (wie in der Migrationspolitik) die Strategie eines National-Neoliberalismus, indem sie mit der Pharmabranche Exklusivverträge schlossen (der Impfstoff war noch gar nicht entwickelt) und ihr das Versprechen gaben, im Interesse der Gewinnmaximierung für die Unternehmen die Patente unangetastet zu lassen, sie schon gar nicht mit den Vorschlägen der WHO zu belästigen.

Die Idee, das Wissen um Covid-19 als global verfügbares, öffentliches Gut zu betrachten, wurde infolge der niederschmetternden Absage auch von der WHO kaum mehr weiterverfolgt. WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus blieb wenig anderes übrig, als in den reichen Ländern um finanzielle Unterstützung für den Ankauf von Impfdosen zu betteln und in dringlichen Worten Verteilungsgerechtigkeit einzufordern. Ein erster Lichtblick ist in diesen Tagen erkennbar, nachdem die spanische Regierung erklärt hat, sich für eine nicht-exklusive Lizenzierung von neuen Gesundheitstechnologien im Rahmen des C-TAP einzusetzen.

Organisiert wird die Verteilung der Impfstoffe über die an die WHO angedockte Initiative Covax, die einen weltweit gleichmäßigen Zugang zu Covid-19-Impfstoffen gewährleisten soll. Sie basiert auf freiwilligen Zuwendungen von Staaten, der Pharmaindustrie (lächerliche 1% der Summe hat sie bisher beigesteuert!) sowie von Stiftungen, allen voran der Bill & Melinda Gates-Stiftung, die ihrerseits auf die Aufrechterhaltung des Patentsystems pocht. Covax ist ein klassisches Projekt privat-öffentlicher Zusammenarbeit, mit der die globale Governance einer massiv fragmentierten Gesundheitsarchitektur fortgesetzt wird. Alle sollen nun immer von Anfang an dabei sein – auch die Industrie. Interessenkonflikte werden übertüncht. Und einmal abgesehen davon, dass nur ein Bruchteil der benötigten Mittel für Covax eingegangen ist, wird diese Hilfe überhaupt erst durch die Verweigerung von verantwortlichem politischem Handeln nötig. Covax hält die armen Länder in Abhängigkeit von den Industrienationen und eröffnet keine Perspektive für strukturelle Veränderungen, weil weder der Aufbau von eigenen Produktionsanlagen priorisiert ist, noch die Überwindung oder Aussetzung des Patentsystems vorgesehen ist, das massiv zur künstlichen Verknappung des Impfstoffs beiträgt. Hilfe ersetzt das Recht.

Verlängerung der Pandemie

Doch um in der Chronologie der vermeidbaren Katastrophe zu bleiben, müssen wir über Handelsinteressen sprechen. Nachdem es also unmöglich war, die Konzepte zur Bewältigung der größten Gesundheitskrise der letzten 100 Jahre bei der Weltgesundheitsorganisation durchzusetzen, wandten sich die Länder des globalen Südens – nach einer Initiative von Südafrika und Indien – an die Welthandelsorganisation (WTO). Gebraucht werde eine global vereinbarte Verzichtserklärung auf Rechte des geistigen Eigentums für alle Covid-19-Medizinprodukte in der Zeit der Pandemie, einen sogenannten Waiver. Er folgt der Idee, dass eine globale Zusammenarbeit in den Bereichen Forschung und Entwicklung, Herstellung und Bereitstellung von Covid-19-Produkten befördert werden und mehr Unternehmen die Produktion aufnehmen können. Er könnte die Produktion der dringend benötigten Impfstoffe massiv beschleunigen und die Länder des globalen Südens vor Klagen durch die Pharmaindustrie schützen.

Die Versorgung mit Impfstoffen und anderen notwendigen medizinischen Gütern zur weltweiten Bewältigung der Pandemie würde zudem nicht mehr von nur wenigen Pharmakonzernen kommerzialisiert und kontrolliert, sondern wäre viel breiter aufgestellt. Der Waiver-Antrag von Südafrika und Indien gilt nicht nur für Impfstoffe, sondern auch für Diagnostika, Therapeutika und Medizinprodukte. Gerade wenn (ärmere) Länder aktuell noch nicht ausreichend Impfdosen erhalten, ist es unerlässlich, dass sie ihre Teststrategien ausweiten können. Auch der Einsatz von Medizinprodukten wie zum Beispiel Beatmungsgeräten muss möglich sein. Im Moment mangelt es in vielen Ländern an allem Notwendigen. Den verantwortlichen Regierungen stünden mehr Möglichkeiten zum Ankauf oder zu staatlicher Produktion offen, die Verteilung könnte global koordiniert und müsste nicht dem Marktinteresse unterworfen werden.

Doch in der Realität senden die Industrienationen erneut ein klares Signal: Multilateralismus hat nur dann einen Stellenwert, wenn sie die gleicheren unter den gleichen sind. Mehr als 120 Regierungen, Aktivist:innen und soziale Bewegungen aus aller Welt, mehr als 140 frühere Regierungschefs und Nobelpreisträger:innen, das Europäische Parlament und unzählige Fachleute fordern die Freigabe der Patente. Doch, Überraschung, die EU mauert.

Warum halten Länder wie Deutschland auch angesichts 250 Millionen Infizierter und mehr als fünf Millionen Toter weltweit weiter an dem Patentsystem fest und versuchen nicht alles, um die Pandemie einzudämmen? Es ist unübersehbar: In der Pandemie zeigen sich die systemischen Rahmenbedingungen des globalen politischen Arrangements neoliberaler Globalisierung auf unerträgliche und unannehmbare Weise. Um den Kapitalismus unangetastet zu lassen, wird die Verlängerung der Pandemie mit Millionen Toten durch die direkten und indirekten Folgen der Pandemie billigend in Kauf genommen.

Gegen jede epidemiologische Vernunft

Der Ausschluss wird sogar gegen jede epidemiologische Vernunft verteidigt. Die Bundesregierung schmeißt lieber Millionen Impfdosen auf den Müll, weil ein Export in den Verträgen mit den großen Pharmafirmen, deren Gewinnspanne alleine mit den Covid-Impfstoffen in diesem zweiten Pandemiejahr wohl die 50 Milliarden-Euro-Grenze übersteigen wird, untersagt ist. In Verträgen, die Deutschland und andere Länder mit der Industrie verhandelt haben. Die Industrienationen haben die politischen Rahmenbedingungen dafür geschaffen, dass die Pharmaindustrie entscheiden kann, wer Zugang zum Impfstoff hat und wer nicht. Sie liefern die Gesundheit dem Markt aus. Dies ist seit Jahrzehnten Teil neoliberaler Ökonomie und Politik, in der die Versorgung des öffentlichen Gesundheitswesens abgebaut, im Sinne privatwirtschaftlicher Profitlogiken umgebaut und die Vorsorge in die Verantwortung der Einzelnen gelegt wurde.

Proteste gegen diese marktwirtschaftlichen Prinzipien in der globalen Gesundheitspolitik gab es schon vor der Pandemie, sie sind – hierzulande oft kaum zur Kenntnis genommen – in Zeiten globaler Krisen stärker geworden und gut vernetzt. Unter dem Motto Black Lives Matter demonstrieren zum Beispiel Aktivist:innen der C-19 People’s Coalition in Südafrika gegenüber der Weltgemeinschaft für einen Strategiewechsel in der Gesundheitspolitik. Vielen Gruppen gelang dabei etwas, woran es in Europa bis heute fehlt. Sie verfolgen einen holistischen Ansatz, der den Schutz und die Rechte auch und gerade der am härtesten von Corona Getroffenen in Südafrika einfordert und dies mit klaren Forderungen „nach oben“ verknüpft. Gemeinsam mit sozialen Bewegungen aus aller Welt fordern sie globale Impfgerechtigkeit und eine Begrenzung der Macht der Pharmaindustrie im öffentlichen Interesse.

Die fehlende Bereitschaft zu solidarischem und epidemiologisch rationalem Handeln seitens der dominanten Regierungen hat die Pandemie in eine katastrophale menschliche Krise verwandelt. Drei Milliarden Impfdosen fehlen aufgrund künstlicher Verknappung der Produktion. Und als wäre das nicht schon unerträglich genug, sind sie – vor allem in afrikanischen Ländern mit einer Vielzahl von Abwehrstrategien konfrontiert, die das politische Versagen in der Pandemie legitimieren sollen.

Mythen der Pharmaindustrie

Die großen Pharmafirmen verteidigen ihr Geschäftsprinzip, durch die Monopolisierung von Wissen hohe Gewinne zu erzielen, mit Zähnen und Klauen. Als Argument führen sie an, der globale Süden sei gar nicht in der Lage, den Impfstoff herzustellen. Das ist schlichtweg nicht wahr. Die Fabriken müssen nicht erst gebaut werden. Die Vorstellung ist rassistisch, nur die westliche Welt hätte die technische Expertise, diese Produkte herzustellen. In vielen Länder des Südens werden Impfstoffe hergestellt, andere könnten binnen weniger Monate in die Produktion einsteigen. Bangladesch, Senegal, Kuba, Argentinien, Brasilien oder Pakistan – die Liste ließe sich fortsetzen. Um Produktionskapazitäten aufzubauen, müssen die Länder es erstens dürfen und zweitens können. Das Dürfen wird durch den TRIPS-Waiver abgedeckt, das Können ist entweder bereits vorhanden oder muss durch einen Technologietransfer gewährleistet werden.

Ein weiterer Mythos – vor allem bezogen auf afrikanische Länder – ist, dass die Menschen dort den Impfstoff nicht haben wollen. Afrika will den Impfstoff, auch wenn die Skepsis dort durchaus vorhanden ist. Aber nicht nur wegen Verschwörungserzählungen, sondern wegen jahrzehntelanger negativer Erfahrungen mit pharmazeutischen Menschenversuchen, mit Arzneimitteln und medizinischem Material zweifelhafter Qualität. Für Menschen, die es sich nicht leisten können, sich zu schützen, weil ihre Familien sonst verhungern müssen, ist es nur folgerichtig, die Bedrohungen zu verdrängen.

Die in diesen Tagen erstmals auftretende Virusvariante Omikron, die von Expert:innen in Südafrika nachgewiesen wurde, zeigt erneut die Notwendigkeit einer global verankerten Strategie. Während hierzulande die Impfpflicht debattiert wird und Noch-Gesundheitsminister Jens Spahn warnt, Ende des Winters sei jeder in Deutschland entweder geimpft, genesen oder gestorben, wird den Menschen in vielen Ländern das Recht verweigert, sich zu schützen. Einfach, weil verhindert wird, ausreichend Impfstoffe zu produzieren. Bestraft indes wird dafür nun ausgerechnet Südafrika, das vor einem Jahr den Vorschlag für den Waiver einbrachte und wo infolge der jetzigen internationalen Isolation dringend benötigte Einnahmen aus dem Tourismus fehlen. Geld, das nicht zuletzt dafür gebraucht würde, um die die Folgen der Covid-19-Pandemie aufzufangen.

In diesen Zeiten berühren einander Linien sich zuspitzender Krisen und rauben der Welt den Atem: die Covid-19-Pandemie, die Klimakrise und die aus beidem resultierende grassierende soziale Ungleichheit. Wenn es nicht einmal gelingt, mit entschlossenen politischen Entscheidungen den globalen Gesundheitsnotstand zu beenden, wie soll sich in der Klimapolitik eine Politik durchsetzen, die Menschenrechte in den Mittelpunkt stellt und eine globale Perspektive einnimmt? Zwei Jahre Pandemie haben gezeigt, dass verlässliche Partner:innen in der Politik kaum zu finden sind. Es gilt weiterhin, dass diese Pandemie erst vorbei ist, wenn sie für alle vorbei ist. Umso wichtiger ist es daher, bei der WTO den Waiver durchzusetzen und hierfür auch den Druck auf die neue Bundesregierung zu erhöhen.

Zugleich müssen die über die Pandemie hinausweisenden Fragen der globalen Gesundheitspolitik im Interesse der Menschen und nicht des Kapitals beantwortet werden. Die Abschaffung der Patente auf alle essentiellen Arzneimittel über die Pandemie hinaus; der Kampf um das Ende globaler Naturausbeutung, die eine der strukturellen Ursachen für Krankheitserreger ist, die immer neue Pandemien hervorruft. Eine konsequente Dekolonisierung der globalen Gesundheitspolitik, in der die dominanten Staaten Macht und Kontrolle abgeben, Wissen und Fähigkeiten teilen; der Aufbau von öffentlichen und allen zugänglichen Gesundheitssystemen als bestes Mittel zur Verhinderung weiterer Pandemien.

Anne Jung (Foto: medico)

Anne Jung leitet die Öffentlichkeitsarbeit bei medico international. Die Politikwissenschaftlerin ist außerdem zuständig für das Thema Globale Gesundheit sowie Entschädigungsdebatten, internationale Handelsbeziehungen und Rohstoffe.

Twitter: @annejung_mi
Bluesky: @junganne


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