Debatte

Pest oder Corona?

08.02.2021   Lesezeit: 9 min

Der Aufruf ZeroCovid hat in der linken Zivilgesellschaft eine Debatte über Grundrechte, Demokratie und globale Corona-Politiken eröffnet. Diese Debatte müssen wir fortsetzen – allerdings ohne falsche Vereinfachungen.

Von Ramona Lenz

und Mario Neumann.

ZeroCovid hat in vielerlei Hinsicht recht: Es ist höchste Zeit, nicht nur Bildung, Kultur und Freizeit, sondern auch Fabriken, Büros und Baustellen bei Maßnahmen gegen die Pandemie stärker in den Blick zu nehmen. Gut auch, dass Menschen mit niedrigen Einkommen, in beengten Wohnverhältnissen, in einem gewalttätigen Umfeld, Obdachlose und Geflüchtete erwähnt werden sowie diejenigen, die besonders viel Betreuungs- und Sorgearbeit leisten. Auch dass die Privatisierungen im Gesundheitsbereich zurückgenommen und Impfstoffe global gerecht zugänglich gemacht werden müssen, sind unterstützenswerte Forderungen des Aufrufs.

Diese größtenteils sozialpolitischen Richtungsforderungen werden von ZeroCovid allerdings mit einem konkreten Appell zu »einem radikalen Strategiewechsel« in der europäischen Infektionsschutzpolitik verknüpft. Null Corona-Neuinfektionen sind das Ziel, das im Titel der Initiative und prominent direkt zu Beginn ausgegeben wird und zu dessen Erreichung das Beispiel anderer Regierungen empfohlen wird. »Das entschlossene Handeln etlicher Länder hat gezeigt, dass es möglich ist, die Verbreitung des Virus zu beenden«, wird behauptet, und zum Beleg dafür werden in der Debatte um den Aufruf häufig China, Neuseeland und Australien als Vorbilder herangezogen.

Der Preis dieser »Entschlossenheit«, ihre nationale Begrenzung sowie ihre Konsequenzen werden dabei nicht erwähnt, sondern mit einer zwar wünschenswerten, aber empirisch kaum haltbaren Behauptung überspielt: »Es gibt keinen Gegensatz zwischen Gesundheitsschutz und Pandemiebekämpfung einerseits und der Verteidigung demokratischer Rechte und des Rechtsstaats andererseits.«

Der Aufruf versucht so, zwei sehr unterschiedliche Ebenen miteinander zu fusionieren: Einen weitreichenden sozialpolitischen Forderungskatalog mit einer sofort zu realisierenden Infektionsschutz-Strategie, die sich an den erwähnten Vorbildern ausrichten soll. Die Verbindung dieser zwei Ebenen basiert auf der Grundthese des Aufrufs: dass der zentrale Konflikt in der Pandemie zwischen der »Wirtschaft« einerseits und einer staatlich durchzusetzenden »Gesundheit« andererseits bestehe und dass »etliche Länder« diesen Konflikt bereits konsequenter und erfolgreicher gelöst hätten als Deutschland und Europa.

Doch die behauptete Einheit von staatlichem Infektionsschutz, Gesundheit, Demokratie und sozialer Gerechtigkeit geht an der Realität der tatsächlich umgesetzten Corona-Politiken vorbei. Sie sind selbst dort, wo es eine relativ erfolgreiche Virus-Eindämmung gibt, von massiven Widersprüchen durchzogen, die bestehende Ungleichheiten eher verstärken, Ausschlüsse verdoppeln und Grundrechte beschränken. Die zentrale Forderung nach einem harten und baldigen Shutdown birgt daher die Gefahr, massive staatliche Durchgriffe zu stützen und zu idealisieren, ohne dass es zu den erhofften sozial- oder demokratiepolitischen Effekten kommt – sondern eher zu ihrem Gegenteil.

Der »Krieg« gegen das Virus: Gesundheitssicherheit und Kapitalismus

Eine florierende Wirtschaft und weitreichende Gesundheitsschutzmaßnahmen (im Sinne von Pandemiebekämpfung) müssen – anders als es der Aufruf nahelegt – keine Gegensätze sein. Rigide Lockdowns können sogar erfolgreiche Strategien kapitalistischer Stabilisierung sein: China mit seinen drastischen Maßnahmen zur Corona-Eindämmung hat beispielsweise als einzige Wirtschaftsnation der Welt 2020 Wachstum verzeichnen können. Und die viel zitierten Staaten Australien, Neuseeland, Vietnam, Südkorea und Japan haben sich vor wenigen Monaten mit China zur größten Freihandelszone der Welt zusammengeschlossen, während sie sich in der Eindämmung von Corona durch rigide Mobilitäts- und Migrationskontrolle auszeichnen.

Gerade am Beispiel Chinas und Wuhans zeigt sich jedoch die begrenzte Aussagekraft von Corona-Statistiken, wenn es um Gesundheit in einem weiteren Sinne geht. Die Luftverschmutzung in Wuhan ist beispielsweise im weltweiten Vergleich sehr hoch, wodurch die Wahrscheinlichkeit enorm steigt, in der Elf-Millionen-Metropole an Herz-Lungenkrankheiten zu sterben. Das ist keine Ausnahme: Das Gesundheitssystem im ganzen Land hinkt der Urbanisierung genauso hinterher wie auch die Hygienestandards, während allein während der Amtszeit von Xi Jinping die Anzahl der Überwachungskameras von etwa einer Million auf über 500 Millionen gestiegen ist. Dementsprechend sieht auch die Bekämpfung der Pandemie in China aus: Sie basiert auf massiven polizeilichen Maßnahmen des Infektionsschutzes und nicht auf einer fürsorglichen Gesundheitspolitik.

Auch in Deutschland und Europa bestimmt das Narrativ vom »Krieg« oder »Kampf« gegen Corona den politischen Diskurs und das staatliche Handeln seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie im Januar letzten Jahres. Gesundheit wird darin zum Gegenstand von Infektionsschutz- und Sicherheitspolitik.

Der Aufruf setzt dem im Grunde nichts entgegen. Vor die Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse drängt sich auch hier das Dispositiv der Gesundheitssicherheit, die von starken Regierungen herzustellen ist. Grenzschließungen, Mobilitätskontrollen, die Ausweitung polizeilicher Befugnisse und die Nationalisierung der Pandemie-Politik erscheinen dann auf einmal als Positivbeispiele der Gesundheitspolitik und die Einschränkung von Grundrechten als ihre unhintergehbare Bedingung. Anstatt auf Basis der vielen richtigen Forderungen den herrschenden Sicherheitsdiskurs zu kritisieren, versuchen die ZeroCovid-Initiator*innen, ihn mit linker Sozialpolitik zu fusionieren. Doch wenn sich neurechte Querdenker*innen in Deutschland gegen Infektionsschutzmaßnahmen auflehnen und damit zu Verteidiger*innen von Freiheit und Grundrechten stilisieren, während von Regierungen die nationale Gesundheitssicherheit mit polizeilichen Maßnahmen, der Anrufung zur »Selbstverantwortung« und mit verstärktem Grenzschutz durchgesetzt wird, ist eine linke Option gefordert, die beide Logiken zurückweist. Nur dann ist es möglich, Gesundheit und Demokratie nicht gegeneinander auszuspielen.

Natürlich wissen wir alle: Die Krise ist jetzt da, und es braucht jetzt Antworten auf das tägliche Sterben. Doch sie ist nicht vom Himmel gefallen und wird sich nicht mit nationalen Alleingängen beenden lassen. Es braucht globale Lösungen. Politische Antworten sollten sich daher auch mit den Ursachen der schwachen globalen Krisenreaktion beschäftigen. Dazu gehört nicht zuletzt die Unterfinanzierung der WHO. Ihre politische Marginalisierung durch parallel entstandene Public-Private-Partnerships, die Nicht-Einhaltung von Pandemieplänen, der allgemein desaströse Zustand der globalen Gesundheitspolitik und der nationalen Gesundheitssysteme: All das wurde jahrelang hingenommen, obwohl die drohenden Gefahren offensichtlich waren. Genau hier sollten Forderungen einer linken Gesundheitspolitik ansetzen, anstatt die Versicherheitlichung von Gesundheit einzufordern. Denn wenn wir denken, dass nur noch starke Staaten und polizeiliche Maßnahmen Schutz bieten können und nicht eine demokratische, präventive und global ausgerichtete Gesundheitspolitik, bereiten wir schon jetzt die nächste Krise mit vor.

Niemand bleibt auf der Strecke?

Die Welt ist nicht erst seit Corona krank. Jedes Jahr sterben tausende Menschen an den »großen drei« behandelbaren Krankheiten Tuberkulose, Malaria und HIV – im Corona-Jahr 2020 zusammengenommen sogar mehr als an Covid-19 –, um nur bei dem zu bleiben, was sich statistisch messen lässt. Viele andere Krankheiten, darunter Krebs, wurden nicht oder zu spät behandelt, weil die Gesundheitssysteme mit Covid-19-Patient*innen ausgelastet waren. Hinzu kommen die gesundheitlichen Folgen der Lockdowns. Sowohl die Pandemie selbst als auch die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung treffen diejenigen mit den wenigsten Ressourcen am härtesten. Global betrachtet sind das ganz sicher keine vernachlässigbaren Kollateralschäden. Nicht ohne Grund spricht man mittlerweile vielerorts von der »Polypandemie«.

Deshalb würden wir gerne festhalten: Wer die Forderung nach »entschlossenem« Handeln nicht vollumfänglich unterstützt, muss kein*e Zyniker*in sein, die über Leichen geht. Wer einem harten Lockdown kritisch gegenüber steht, denkt womöglich nicht nur über die vom Robert-Koch-Institut veröffentlichten Todeszahlen nach, sondern auch über die ungezählten Toten, Verarmten und Vereinsamten, die Lockdowns diesseits und jenseits der europäischen Grenzen mit sich bringen und schon gebracht haben. Wer sich jahrelang gegen die Militarisierung von Grenzen und die Erfassung von Bewegungsdaten ausgesprochen hat, mag sich fragen, was unter den Bedingungen eines harten Lockdowns aus diesen Forderungen würde.

Skeptisch gegenüber einem harten Lockdown wie in Australien und Neuseeland macht auch, dass diese Länder nicht erst jetzt wegen ihrer gelungenen Pandemie-Eindämmung von Europas Regierungen gelobt werden, sondern schon lange auch wegen der sogenannten »pazifischen Lösung« im Umgang mit Boatpeople: einem extrem harten, Menschenrechte missachtenden Kurs der Abwehr und Internierung von Schutzsuchenden in Elendslagern auf weit entfernten Pazifikinseln, mit dem die Voraussetzungen und Techniken für rigide Grenzschließungen erprobt wurden.

In beiden Inselstaaten zahlten Menschen ohne australischen bzw. neuseeländischen Pass einen höheren Preis für den Lockdown als andere und bekamen – mit zum Teil dramatischen Konsequenzen – deutlich zu spüren, dass sie nicht länger erwünscht waren. Und nicht nur Down Under war das so. Kurz nachdem die indische Regierung am 24. März 2020 für 21 Tage einen landesweiten Lockdown verhängt hatte, der auch Fabrikhallen, Baustellen und Transportmittel betraf, schrieb Arundaty Roy (übersetzt aus dem Englischen von R.L.): »Die Abriegelung wirkte wie ein chemisches Experiment, das plötzlich verborgene Dinge ans Licht brachte. Als Geschäfte, Restaurants, Fabriken und die Bauindustrie schlossen, als die Wohlhabenden und die Mittelschicht sich in Gated Colonies zurückzogen, begannen unsere Städte und Megastädte ihre Arbeiter*innenschaft – ihre Wanderarbeiter*innen – wie einen unerwünschten Haufen auszustoßen. Viele, die von ihren Arbeitgeber*innen und Vermieter*innen vertrieben worden waren, Millionen von verarmten, hungrigen, durstigen Menschen, junge und alte, Männer, Frauen, Kinder, Kranke, Blinde, Behinderte, die nirgendwo anders hin konnten, begannen einen langen Marsch nach Hause in ihre Dörfer. Öffentliche Verkehrsmittel standen ihnen nicht zur Verfügung. So liefen sie tagelang. Einige starben auf dem Weg.«

Ähnliche Berichte kommen auch aus anderen Regionen der Welt: Im Libanon wurden die migrantischen Hausangestellten auf die Straße gesetzt und konnten nicht ausreisen, während die Gesundheitspolitik gleichzeitig brutal militarisiert wird. In Marokko fürchteten Migrant*innen ohne legalen Aufenthaltsstatus, infolge der Ausgangssperre in ihren Unterkünften zu verhungern. Im Niger wurden unliebsame Menschenrechtsaktivist*innen unter dem Vorwand inhaftiert, sich nicht an Corona-Regeln gehalten zu halten. Gleichzeitig saßen tausende Flüchtlinge und Migrant*innen unter extremsten Bedingungen fest, weil sie weder ihre Reise fortsetzen noch in ihre Herkunftsländer zurückkehren konnten. Und wie immer, wenn sichere und legale Wege verschlossen sind, begeben sich Menschen auf gefährliche und illegale Routen, auf denen viele von ihnen ihr Leben lassen. Das ist auch dann nicht anders, wenn der Grund für die Grenzschließung die Eindämmung einer Pandemie ist und sie von der EU beschlossen wird.

ZeroCovid möchte, dass in Deutschland niemand mehr an Corona sterben muss. Da der geforderte Shutdown angesichts der Pandemieentwicklung jedoch im Grunde sofort verhängt werden müsste, ist es eher unwahrscheinlich, dass die sozialpolitischen Forderungen der Initiative gleich mit verwirklicht würden. Man müsste also Abstriche machen und sich eingestehen, dass nationaler Infektionsschutz nicht automatisch globale Gerechtigkeit schafft. Dabei kann man zu dem Schluss kommen, einiges – auch Vereinsamung, Verarmung und Sterben aus anderen Gründen – sind im Zuge eines weitgehenden Shutdown in Kauf zu nehmen, wenn dafür bald Vielen wieder ein gutes Leben ermöglicht werden kann.

Wir denken: Ein Gegenentwurf zum weltweiten Corona-Management sollte in der Lage sein, über diese gefährliche Kosten-Nutzen-Abwägung hinaus politische Alternativen aufzuzeigen. Er muss so aussehen, dass Menschenrechte, Demokratie und Gesundheit auch in Krisensituationen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Sonst verlieren am Ende wieder die, die immer verlieren.

Der Beitrag erschien zuerst am 6. Februar 2021 in der analyse & kritik.

Ramona Lenz (Foto: medico)

Ramona Lenz ist Sprecherin der Stiftung medico. Über viele Jahre war die Kulturanthropologin in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für das Thema Flucht und Migration.

Twitter: @LenzRamona


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