Von Katarzyna Czarbota und Aleksandra Łoboda der Helsinki Foundation for Human Rights [Teil unseres Partnernetzwerks der Grupa Granica)
Seit der politischen Transformation von 1989 wurde Polen als postkommunistisches Land definiert, das „auf Migration warte“. In den Folgejahren einer „Politik ohne Politik“ kam es nicht nur zu Demokratisierungs-, sondern auch zu Europäisierungsprozessen, das heißt der Anpassung der polnischen Grenzpolitik an EU-Standards. Die Auswirkungen sind nach wie vor spürbar. Bis heute gibt es in Polen keine kohärente Migrationspolitik, geschweige denn ein Integrationsmechanismus, der auf humanitären Prinzipien beruht.
Migration als Problem
Die seit der Transformation ergriffenen Maßnahmen zielten darauf, Migrant:innen davon abzuhalten, langfristig in Polen zu bleiben. Mit den EU-Beitrittsverhandlungen, die 2004 mit dem Beitritt Polens endeten, wurde ab Ende der 1990er Jahre Fragen der Migration mit dem Thema Sicherheit verknüpft. Mit dieser Versicherheitlichung der Migrationsfrage und dem politischen Druck, den Grenzschutz zu verstärken, wurde die öffentliche Debatte zum Thema immer weiter eingeschränkt und auf die Botschaft „Die Grenzen müssen verteidigt werden“ reduziert. Anstatt über eine systematische gesellschaftliche Inklusion zu sprechen, wurde in Polen das Zepter des Handelns dem Grenzschutz anvertraut. Infolgedessen wurden in den letzten drei Jahrzehnten geschlossenen Haftanstalten für Migrant:innen eröffnet, die Grenzen militarisiert und Abschiebepraxen ausgebaut. Einem Verständnis von Flucht und der Sicherstellung systemischen Schutzes für Geflüchtete wurde wenig Bedeutung beigemessen, Diskussionen über die Integration von Geflüchteten, Rassismus, Entmenschlichung und soziale Spaltung nicht geführt. Seit 2015 hat sich diese Tendenz nochmals verstärkt, ein Narrativ der Angst vor einem "Zustrom von Migranten" und der „Notwendigkeit“, sich gegen „die Anderen zu verteidigen", ist dominant geworden.
Ein Grund für die fehlende gesellschaftliche und politische Debatte liegt in der verhältnismäßig hohen ethnischen Homogenität Polens nach dem Zweiten Weltkrieg. Weniger als fünf Prozent gelten als Minderheiten, daran hat sich auch nach der politischen Transformation des Ostblocks nichts Wesentlich geändert.
Aus Sorge vor einer möglichen Polarisierung der öffentlichen Meinung wie in westeuropäischen Ländern, haben Entscheidungsträger in Polen davor zurückgeschreckt das Thema der Migration größer anzusprechen und zu politisieren. Denn in einem Punkt war man sich einig: Polens Ostgrenze soll Teil der "Festung Europa" sein und diese schützen.
Herausfordernde Verschiebungen
Der Krieg in der Ukraine und die Rolle Weißrusslands haben die politische Landschaft in Polen nun systematisch verändert. Mit der so steigenden Anzahl von in Polen lebenden und arbeitenden Migrant:innen wurden die negativen Auswirkungen der langjährig ausgebliebenen Integrationspolitik deutlich sichtbar. Von der politischen Rechten wurden diese Krisen und daraus resultierenden Spannungen, aber auch vorhandene Ängste genutzt, um an die Macht zu kommen.
Im Herbst 2021 kam es dann an der polnisch-weißrussischen Grenze zu einer humanitären Krise, während zeitgleich die „Abteilung für Migrationsanalyse und -politik“, die einzige Einrichtung innerhalb der Regierung, die sich ganzheitlich mit dem Thema Migration befasste, abgeschafft wurde. Da die Regierung seit 2015 keinerlei Dialog mit NGOs und Expert:innen in Fragen der Migration geführt hatte, lag die gesamte Verantwortung für die Bereitstellung humanitärer Hilfe für Geflüchtete plötzlich auf den Schultern der Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft. Aktivist:innen und NGOs leisten seitdem Hilfe und Unterstützung, wurden dafür aber sowohl auf individueller als auch als Organisationen systematisch kriminalisiert. Am deutlichsten wurde dies bei der Verfolgung von Menschen, die an der belarussischen Grenze versuchten Leben zu retten und den Doppelstandards im Umgang mit Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine und aus anderen Teilen der Welt. Gleichzeitig verschob sich mit Beginn des Ukraine-Krieges der Fokus der Aufmerksamkeit: Die Gewalt gegen Geflüchtete an der polnischen Grenze zu Belarus wurde unsichtbar.
Eine humanitäre Migrationspolitik in Sicht?
In den am 15. Oktober 2023 stattgefundenen Parlamentswahlen konnte nun überraschend die sogenannte demokratische Opposition der letzten acht Jahre bestehend aus der Bürgerkoalition [Koalicja Obywatelska], dem Dritten Weg [Trzecia Droga] und der Neuen Linke [Nowa Lewica] eine Mehrheit erringen. Sie wird voraussichtlich Ende Dezember/Anfang Januar 2024 eine Regierung bilden.
Schon vor den Wahlen erklärten die drei Parteien ihren Willen, in vielen Bereichen den Fragen reproduktiver Rechte, der Klimagerechtigkeit, der Unabhängigkeit der Gerichte oder der Wohnungsfrage Änderungen aus menschenrechtlicher Perspektive vorzunehmen. Auf migrationspolitische Herausforderungen fehlen allerdings damals wie heute Antworten. Dazu gehören das seit langem bestehende systematische Fehlen einer Integrationspolitik, der institutionelle Rassismus sowie ein immer stärker werdender fremdenfeindlicher Diskurs.
Seit 2021 waren und sind es die Grasswurzel-Organisationen, die rund 20.000 geflüchtete Menschen mit humanitärer Hilfe unterstützen und die nötigen Reaktions- und Interventionsmechanismen von unten nach oben geschaffen haben. Die rassistische Politik staatlicher Institutionen zum Beispiel in Form tausender Pushbacks wird von ihnen beobachtet und dokumentiert. Die Zivilgesellschaft sorgt für die ärztliche Versorgung, während es vorkommt, dass Krankenwagen ihren Einsatz mit der Begründung verweigerten, dass sie nicht beteiligt sein wollen, wenn "illegale Migranten" sterben, eben weil sie "illegal" seien.
Jenseits der humanitären Krise an der Grenze und der Kriminalisierung, erleichtert die Entrechtung der Geflüchteten zugleich ihre Ausbeutung auf einem wachsenden Schwarzmarkt für Arbeitskräfte. Private Unternehmen machen sich die vulnerable Situation der Arbeitnehmer:innen zunutze, werden staatlich weder kontrolliert noch sanktioniert und etablieren Arbeitsweisen oft ähnlich moderner Sklaverei.
Für eine veränderte Migrationspolitik ist es vor diesem Hintergrund zuerst nötig, sich den Grundsätzen der Humanität und der universellen Anerkennung der Grund-, Menschen- und sozialen Rechte zu zuwenden. Ein wesentlicher Schritt hierfür ist die Einbeziehung der Migrant:innen selbst, sie sollten die Rechte erhalten die Staatsbürgerschaft zu erwerben und die Migrationspolitik auf diesem Wege mitzugestalten.
Begrenzte Hoffnung
Im Wahlkampf 2023 wurde allerdings keine dieser Herausforderungen thematisiert: In fast keinem der politischen Wahlprogramme (mit Ausnahme der Linken) wurden die anhaltende Abschiebe- und Pushback-Politik im polnisch-belarussischen Grenzgebiet thematisiert, geschweige denn die Rechte von Migrant:innen. Zudem schlug keine Partei eine ganzheitliche, auf Rechten basierende Vision einer Migrationspolitik vor, die darauf abzielt, diejenigen, die sich bereits im Land befinden, zu integrieren und denjenigen, die sich an den Grenzen befinden, sichere Wege nach Polen zu ermöglichen. Auch in der nach den Wahlen unterzeichneten Koalitionsvereinbarung zwischen der Bürgerkoalition, der Neuen Linken und dem Dritten Weg wurde das Thema Migration völlig ausgeklammert. Einige Politiker:innen dieser Parteien erklärten jedoch ihren politischen Willen, Pushbacks an der polnisch-belarussischen Grenze zu untersagen und der Gewalt so ein Ende zu setzen.
Nach den Wahlen wurde zudem eine parlamentarische Gruppe für Migrationspolitik eingerichtet, die NGOs, die sich für Migrant:innen einsetzen, zu ihren Beratungen hinzugezogen hat. Es ist jedoch schwer zu sagen, ob die Arbeit dieser Gruppe einen wirklichen Einfluss auf die Ergebnisse des konkreten Regierungshandelns und die Einstellung der Parteien haben wird, die sich bisher in Bezug auf die Rechte von Migrant:innen sehr zurückhaltend gezeigt haben. Wir erwarten zumindest eine Rücknahme der bisherigen Kriminalisierung und Repression gegen Einzelpersonen und Organisationen, die im polnisch-belarussischen Grenzgebiet humanitäre Hilfe leisten. Es bleibt abzuwarten, ob die neue Koalition zu substanzielleren Veränderungen führen wird.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die jüngsten Wahlen im Feld der Migration nicht viel verändert haben. NGOs und Aktivist:innen haben noch einen langen Weg vor sich, um die Regierung dazu zu zwingen, einen sozialen Wandel herbeizuführen. Was die letzten drei Jahrzehnte zeigen ist allerdings, dass der Ausgangspunkt dafür in einer grundsätzlich veränderten Perspektive auf Migration liegen muss.