Seuche der Armut

08.12.2022   Lesezeit: 6 min

Die weltweiten Cholera-Ausbrüche sind Ausdruck der globalen Krisen und gesellschaftlichen Ungleichheiten.

Von Dr. Andreas Wulf

Anfang November vermeldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass es so viele Ausbrüche von Cholera gibt wie seit Jahren nicht mehr. 29 Länder seien betroffen. Angesichts akuter Engpässe riet sie, den knappen Cholera-Impfstoff – anders als für eine längere Schutzwirkung empfohlen – fortan nur noch als Einmaldosen zu geben, damit mehr Krisenherde beliefert werden können. Die Eindämmung der lokalen Ausbrüche wird dadurch auf längere Sicht allerdings erheblich erschwert.

Krisen- und Infektionsherde

Die an sich nachvollziehbare Empfehlung der WHO zeigt, wie unzureichend reine Kriseninterventionen bei der Cholera sind. Das Zusammenspiel eines altbekannten, vor allem durch Trinkwasser übertragenen Erregers mit infrastrukturellen Defiziten wie dem unzureichenden Zugang von Menschen zu sauberem Wasser und sanitärer Entsorgung, mangelnden Möglichkeiten guter Hygiene sowie das Fehlen rascher medizinischer Versorgung im Krankheitsfall bieten ideale Voraussetzungen für die Ausbreitung. Deshalb sind überfüllte Flüchtlingslager und Armutsviertel sowie Krisen-, Konflikt- und Kriegsgebiete am häufigsten und stärksten betroffen. Cholera ist die Krankheit akuter und struktureller Krisen schlechthin. Und sie hat politische Ursachen.

In Nordsyrien hat die Türkei aus machtpolitischen Gründen einen massiven Wassermangel in den selbstverwalteten Gebieten erzeugt und damit wesentlich zum Ausbruch der Cholera beigetragen. Im Norden des Libanons wiederum sind die ersten Fälle zunächst bei syrischen Flüchtlingen aufgetreten, die seit Jahren in elenden Notunterkünften ausharren müssen. Inzwischen verbreiten sich die Erreger angesichts der desolaten Lage der öffentlichen Versorgungssysteme auch in den Armenvierteln der libanesischen Städte. Die dramatische ökonomische und politische Krise des Landes, in der inzwischen selbst die private Gesundheitsinfrastruktur ihren endgültigen Bankrott erklären musste, ist die zugrunde liegende Ursache der Ausbreitung. Einige der letzten großen Ausbrüche haben sich in ähnlich schweren humanitären Krisensituationen entwickelt. So war es 2010/11 nach dem Erdbeben in Haiti, so war es 2016/17 im Krieg in Jemen. Aktuell erhöhen klimabedingte Krisen wie bei den Überschwemmungen in Pakistan und der Dürre in Ostafrika unmittelbar die Gefahr für Cholera-Ausbrüche.

All das wiegt umso schwerer, weil die Krankheit rein medizinisch ihren Schrecken verloren hat. Sind Prävention und rasche Therapie durch Elektrolyt-Lösungen, Infusionen und einfache Antibiotika verfügbar, lässt sich die Sterblichkeit dramatisch senken. Insofern ist, wie auch WHO-Chef Dr. Tedros immer wieder beklagt, jeder Cholera-Todesfall Folge eines politischen Versagens. Die immer neuen Ausbrüche verweisen auf strukturell ungleiche Lebensbedingungen. Das war schon so, als die Cholera erstmals auf der globalen Weltkarte erschienen ist.

Rückblick: Globalisierung als Treiber

Cholera ist die große Seuche der Globalisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts. Mit britischen Handelsschiffen und Kolonialarmeen verbreitete sie sich in mehreren Wellen vom indischen Subkontinent aus in die wachsenden Städte Europas, Asiens und Amerikas. Zu Beginn der 1830er-Jahre tauchte sie das erste Mal in London und Paris auf, 1832 in Hamburg, dem „deutschen Tor zur Welt“. In den 1850er-Jahren konnte der Arzt John Snow in London die Übertragung der Krankheit durch verschmutztes Trinkwasser eindeutig nachweisen. Das setzte dort und anderswo eine umfassende „Sanierung der Städte“ in Gang: Sauberes Trinkwasser, Nahrungsmittelhygiene, Abfall- und Abwasserentsorgung, Verbesserung der Wohnmöglichkeiten der Arbeiter:innen und Armen und staatliche Interventionen im Krisenfall wie Quarantäne, Desinfektionen und Notlazarette – all das wurde Teil der öffentlichen Verantwortung.

Allerdings war die Realisierung solcher „Public Health“-Maßnahmen keineswegs ein Selbstläufer. Vielerorts mussten sie gegen den massiven Widerstand der lokalen Eliten durchgesetzt werden, sei es in London, Paris oder Hamburg. Schließlich waren diese in ihren weiträumigen Stadtvillen oder ländlichen Sommerresidenzen selbst am wenigsten betroffen. Und die Hamburger „Bürgerschaft“, die damals noch von weniger als zehn Prozent der Hamburger:innen gewählt werden konnte, denn das Bürgerrecht – und damit das Wahlrecht – kostete viel Geld, investierte die Gewinne aus dem Überseehandel lieber in ihren florentinisch inspirierten Rathauspalast als in Trinkwasserfiltrieranlagen. Solche Anlagen sorgten hingegen im benachbarten Altona, das damals zum dänischen Königreich gehörte, für sauberes Wasser. Entsprechend waren dort weit weniger Cholera-Kranke und -Tote zu beklagen.

In nahezu jedem Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gab es in Hamburg mindestens einen größeren Ausbruch. Besonders ausgedehnt und tödlich war der im heißen Herbst des Jahres 1892 im berüchtigten Gängeviertel der Hafenarbeiter:innen und ihrer Familien, wo sich der Erreger in den engen Gassen und überfüllten Quartieren besonders gut ausbreiten konnte. Die menschlichen „Kosten“ dieser unsozialen „Laissez-faire“-Politik der Hamburger Eliten betrugen damals über 8.000 Menschenleben. Doch auch das brauchte noch keine Veränderungen. Erst ein massiver Hafenarbeiterstreik 1896/97 sorgte für entscheidende Fortschritte bei der Sanierung der innerstädtischen Slums. Denn hier gesellte sich zum hygienischen Argument auch das politische, mit der Verbesserung der proletarischen Lebensbedingungen sollte zugleich eine „Brutstätte des Kommunismus“ trockengelegt werden.

Von Anfang an war also eine frühzeitige und vorbeugende Bekämpfung der Cholera von ökonomischen Interessen und Klassenlagen abhängig. Auch heute entscheiden weitgehend die Lebensbedingungen darüber, wer von der Seuche betroffen ist und wie schwer sie verläuft. Mangel- und Unterernährung erhöhen wesentlich die Sterblichkeitsrisiken besonders für kleine Kinder. Die unzureichende Versorgung mit Wasser, Hygiene, sanitärer und gesundheitlicher Infrastruktur in Armenvierteln und Flüchtlingslagern machen deren Bewohner:innen zu den Hauptbetroffenen. Cholera war und ist die Krankheit der Armen und Ausgeschlossenen. Insofern erinnert jeder neuerliche Ausbruch an die zentrale Botschaft der alten wie der neuen „Public Health“: Gesundheit ist eine politische Entscheidung. Ob sauberes Trinkwasser oder eine funktionierende Abwasserentsorgung – solche „soziale Determinanten der Gesundheit“ sind wesentliche soziale Rechte, deren Verwirklichung vielerorts aus- und ansteht.

Gesunde Infrastrukturen in öffentlicher Verantwortung

Die hierfür notwendigen Investitionen müssen über das Krisenmanagement bei akuten Ausbrüchen hinausgehen. Sie können auch nicht auf das Modell traditioneller „Entwicklungshilfe“ reduziert werden. Vielmehr brauchen alle Staaten einen ausreichenden „fiskalischen Raum“, um die notwendige Infrastruktur dauerhaft sicherstellen zu können. Deswegen sind Verhandlungen über Schuldenerlasse und eine strengere Regulierung transnationaler Konzerne, damit deren Profite auch dort besteuert werden können, wo sie erwirtschaftet werden, unerlässlich.

Auch die anfangs erwähnte aktuelle Knappheit bei Cholera-Impfstoffen hat wieder einmal politische Ursachen. Laut WHO arbeiten die Hersteller „am Anschlag“. Zugleich droht einer von nur zwei Produzenten der für Notfälle zugelassenen Impfstoffe die Produktion zum Jahresende zu beenden. Die Rendite sei zu gering. Dem WHO-Direktor bleibt nichts anderes übrig als zu betteln, das Unternehmen möge die Produktion fortsetzen. Das Dilemma einer Strategie, die sich selbst bei der Produktion essenzieller Gesundheitsgüter auf privatwirtschaftliche Akteure verlässt, wird hier ebenso deutlich wie schon in der Corona-Pandemie.

Die politische Konsequenz hieraus: Öffentliche Güter müssen in öffentlicher Verantwortung liegen. Wer erinnert sich noch an die Kampagnen gegen die Privatisierung der städtischen Wasserunternehmen Anfang der 2000er-Jahre? Aktuell stehen die Vergesellschaftung von Wohnraum und Energieversorgung in der öffentlichen Debatte. Eine solche Vergesellschaftung ist gerade auch für essenzielle Gesundheitsgüter unerlässlich, damit nicht noch mehr Menschen aus politischen Gründen an heilbaren Krankheiten sterben.

Ob in Syrien oder Haiti oder Ostafrika: Die dortigen Cholera-Ausbrüche sind alles andere als Zufall. Armut macht krank – so einer der Leitsätze der medico-Arbeit –, politische Instabilität und zerstörte gesundheitliche Infrastrukturen tragen ihren Teil dazu bei. An der Seite unserer Partnerorganisationen engagieren wir uns daher gegen krank machende Verhältnisse und für die Schaffung gesunder Arbeits-, Lebens- und Umweltbedingungen für alle.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Andreas Wulf

Andreas Wulf ist Arzt und seit 1998 bei medico international. Er ist Nothilfe-Referent und arbeitet zu Themen globaler Gesundheit.


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