documenta fifteen

Skandal oder Spektakel?

23.06.2022   Lesezeit: 7 min

Zum Antisemitismus-Streit auf der documenta.

Von Katja Maurer

Die documenta fifteen wollte sich den Kunstkollektiven des Globalen Südens überlassen. Als Kuratorenteam ausgewählt wurde das indonesische Künstlerkollektiv ruangrupa, das andere Künstlerkollektive beauftragte, weitere zu suchen und so den Prozess der Werkauswahl zu demokratisieren. So wenig Hierarchie wie möglich war die Devise. Mit einer ganz eigenen Begriffswelt sollten Räume für ästhetisches Erleben, Aneignen und Selbermachen geschaffen werden, die die bürgerlichen documenta-Besucher:innen mit einer anderen Option des Lebens und Zusammenlebens in Berührung oder Konfrontation bringen könnten. Eine Welt voller Katastrophen, die den Süden zu einem unbewohnbaren Ort zu machen droht, sollte sich mit künstlerischen Praktiken, die nicht auf den Kunstmarkt zielen, neu imaginieren.

Und nun das: Der Antisemitismus-Vorwurf hat die documenta-Macher:innen seit vielen Wochen begleitet. Er wurde u.a. wegen der Teilnahme des palästinensischen Künstlerkollektivs „Question of Funding“ erhoben und führte zu tätlichen Angriffen von Rechtsextremen und anderen auf die Arbeiten der Gruppe. Was bei ihnen nicht entdeckt wurde, hat sich nun auf dem Ausschnitt eines Bildes der indonesischen Gruppe Taring Padi tatsächlich gezeigt: Eindeutige antisemitische Klischees. Damit schien der vermeintlich letztgültige Beweis gefunden, dass der Antisemitismus-Vorwurf von Beginn an zurecht erhoben und die Warnungen vor einer antisemitischen documenta in den Wind geschlagen wurden.

Ein beeindruckender medialer Angriff

Was sich im Zuge der Verhüllung und anschließenden Beseitigung des Bildes ereignet, ist ein beeindruckender medialer Angriff auf die Bemühungen in der öffentlichen Debatte in Deutschland, die Erinnerungskultur um das Reflektieren kolonialer Verbrechen zu erweitern, ohne die seit Jahrzehnten mühsam und gegen den Widerstand der Eliten aufgebaute Verantwortung für die NS-Verbrechen zu relativieren. Die „Welt“ vergleicht die documenta mit Goebbels-Propaganda, die „taz“ bescheinigt dem Postkolonialismus sein „Waterloo“. Jetzt geht es nicht mehr um Genauigkeit. Nein, jetzt geht es darum, möglichst alles in einen Topf zu werfen, gut umzurühren und die Stimmen nicht nur der Palästinenser:innen, sondern des ganzen globalen Südens, zu dämonisieren. Anstatt das Gespräch zu suchen, miteinander zu reden, zu lernen, die unterschiedlichen Kontexte zu verstehen und zu überzeugen, nutzen die Springerpresse und alle, die die Debatte der letzten Jahre verabscheuen, die Gunst der Stunde, um den Sack zu zumachen. In einem repressiven geistigen Klima drohen die, die sich seit Jahren für einen Dialog und für Lernprozesse, die sich gegen Vereinfachungen wenden und Ambivalenzen aushalten, in die Isolation getrieben zu werden. Zu fürchten ist, dass das politische Interesse dahinter auf deutsche Renationalisierung und deutsche Kulturalisierung zielt. Es handelt sich um einen Angriff auf ein multiethnisches Deutschland und seine multiperspektivischen Erinnerungsräume. Der generalisierte Antisemitismusvorwurf droht, diese Räume zu schließen und alle unter eine verstaatlichte Erinnerungspolitik zu zwängen.

Die documenta, vielleicht die letzte ihrer Art, und ihre Macher:innen haben diese Gelegenheit in einer erstaunlichen Gedankenlosigkeit mitgeschaffen. Wie weit das mit ihrem Begriff von Kunst und Kultur und mit der Überhöhung des Kollektiven zusammenhängt, wie der Kunstkritiker Bazon Brock vermutet, der die Verantwortung und Einsamkeit der Künstler:in als Errungenschaft der Moderne verteidigt, ist herauszufinden. Das Gute an der Debatte ist, dass die documenta nun mit kritischem Willen ohne Exotisierung des globalen Südens und ohne Sakralisierung des Postkolonialen auf diese Fragen hin betrachtet werden kann. Das ist eine nötige Debatte. Wird sie nicht nur im paternalistischen Verteidigungsmodus geführt, kann sie zu einer guten Debatte werden.  

Das Ressentiment in seinem Kontext

Und trotzdem ist ein ungeheurer Schaden entstanden. Ein Schaden für eine gemeinsame globale Verantwortung. Die documenta wollte nicht zum ersten Mal in ihrer Geschichte – auch die letzte vor fünf Jahren hatte diese untergründige Agenda – einen Anstoß für eine Globalisierung der Sichtweisen, der Kunstpraktiken und der Kunst selbst liefern, indem sie die Erinnerung an die kolonialen und neokolonialen Verbrechen in vielen Kunstwerken thematisierte. Inwieweit Kunst hier in den Dienst eines politischen Anliegens genommen wird, ist eine Frage, die man stellen darf und muss. Wäre sie eine Debatte in einem weniger vergifteten Raum, könnte sie produktiv sein. An das nun beiseite geräumte Banner, den Stein des Anstoßes, stellt sich tatsächlich nicht nur die Frage nach dem Antisemitismus. Das Kollektiv Taring Padi verhandelt hier eine der blutrünstigsten Diktaturen der Nachkriegszeit, die von den USA, aber auch von Deutschland und Israel unterstützt wurde. Das bereits 20 Jahre alte Banner geht der Frage nach, wie weit die Diktatur in neuem Gewand fortwirkt. Eine spannende Frage, die im Agitprop-Stil und mit vielen linken, auch antisemitischen Klischees besprochen wird. Darüber zu streiten und Gut-Böse-Plattheiten an die Seite zu legen, wäre die Sache wert gewesen.

Diese Debatte hätte auch eine über die Selbstverständlichkeit antisemitischer Stereotype außerhalb der sensibilisierten deutschen Öffentlichkeit sein können: Das Banner hat nämlich in den letzten Jahren auf Kunstschauen in der ganzen Welt gestanden. Auch die documenta-Macher:innen haben Räume geschlossen und Debatten vermieden. Sie hätten die Einsicht stärken können. Ressentimentgeladene Ikonographie aber findet sich in mancher Kunstproduktion, die sich einer anklagenden Politik verschreibt. Um das in seinem Kontext zu sehen, hätte ich mir das Werk Taring Padis gern angeschaut. Dabei geht es nicht darum, Antisemitismus zu verharmlosen: doch ist und bleibt der eliminatorische Antisemitismus eine deutsche Spezialität. Das genau wird relativiert und in einen anderen geographischen Raum versetzt, wenn der Antisemitismusvorwurf derart von hier erhoben wird.

Frank-Walter Steinmeiers Eröffnungsrede war ein Beleg dafür, dass auch für die Dekolonisierung des westlichen Überlegenheitsdenkens ein Schaden entstanden ist. Streitbar sind seine Ausführungen zum Existenzrecht Israels, dessen Ablehnung er zur Grenze der Meinungsfreiheit erklärte. Wie so oft in der deutschen Debatte erhebt er seine Grenze zur allgemeinen Norm. Damit delegitimierte er nicht nur das Recht von Palästinenser:innen, einen sich als jüdisch definierenden Staat abzulehnen, in dem sie Bürger:innen zweiter Klasse sind. Er unterwarf auch Überlegungen etwa des jüdisch-israelischen Denkers Omri Boehm seiner „Grenze der Meinungsfreiheit“, der nämlich eine gänzlich neue Verfasstheit des Staates mit gleichen Rechten aller Bürger:innen fordert.

Noch auffälliger aber ist, was Steinmeier weggelassen hat. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin hat gerade belegt, dass die documenta unter maßgeblicher Beteiligung von Kunsthistorikern gegründet wurde, die in den Nationalsozialismus verwickelt waren. Hätte er selbstkritisch darauf Bezug genommen, wäre die documenta nicht zum unbefleckten Ort der Weltkunst und seine Rede nicht zur anmaßenden Belehrung der Künstler:innen des Südens geworden. Zugleich hätte er auf Kassel als ein Zentrum des NSU-Terrors verweisen können, um deutlich zu machen, dass Antisemitismus und ein gefährlicher Rechtsextremismus auch im deutschen Kontext kein abgeschlossenes Thema sind. So aber bleibt die documenta, wie Hito Steyerl vor wenigen Wochen in der ZEIT schrieb, ein Ort der deutschen Reinwaschung.

Es geht weiter und über die documenta hinaus

Allein die Beteiligung palästinensischer Künstler:innen reichte aus, um einen Antisemitismusvorwurf zu erheben und palästinensische Stimmen in unerhörter Weise zu delegitimieren. Im Brennpunkt der Auseinandersetzung steht gerade auch eine Veranstaltung des Goethe-Instituts, von der der palästinensische Schriftsteller Mohammed El-Kurd mit der Begründung ausgeladen wurde, dass er Israel gegenüber nicht respektvoll genug sei. Auch hier traf der Vorwurf des leider inzwischen üblichen Nazi-Vergleichs eine Stimme, die sich Gehör für erlittene  Menschenrechtsverletzungen verschaffen wollte. Der britisch-pakistanische Schriftsteller und New York Times-Kolumnist Mohammed Hanif zog daraufhin seine Beteiligung zurück. Und nicht nur er. Die Intellektuellen des Südens verabschieden sich aus dem Gespräch und überlassen die deutsche Debatte den Deutschen.

Als Chance für eine globale Kunst jenseits des Marktes ist die documenta also von vielen Seiten vertan worden. Die ganze Debatte hinterlässt ein mulmiges Gefühl der Verfehlung, erscheint als ein Nebenschauplatz, der sich zur Hauptsache aufspielt. Vielleicht wollen wir uns mit dem grandiosen Spektakel des documenta-Streits der Erkenntnis verweigern, dass die Bürger:innen des Westens mit all ihrer Moral, ihrer Aufgeklärtheit und ihrem guten Willen keine Antwort auf die Herausforderung einer Welt haben, die am Abgrund steht. Steckt darin vielleicht der eigentliche Skandal?

Katja Maurer

Katja Maurer leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international und die Rundschreiben-Redaktion. Heute bloggt sie regelmäßig auf der medico-Website.


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