Kommentar

Zwischen Windhoek und Gaza

21.08.2024   Lesezeit: 6 min

Deutschlands Erinnerungskultur ist auf Abwegen unterwegs. Das hat fatale Konsequenzen.

Von Charlotte Wiedemann

Wenn Deutschland mit dem Völkermord an Juden und Jüdinnen die Unterstützung einer Kriegsführung begründen kann, die große Teile der Welt als Genozid betrachten, ist auf wenig mehr Verlass. Die humanistische Substanz der offiziellen Erinnerungskultur erweist sich als erschreckend dünn – und damit ist auch die Annahme erschüttert, das Gedenken an die NS-Verbrechen werde helfen, künftigem Faschismus und Autoritarismus vorzubeugen. Stattdessen sind wir mit einer repressiven Staatsraison konfrontiert, die das Autoritäre ethisch verkleidet.

Noch lässt sich der Umfang der moralischen und intellektuellen Krise, die mit all dem einhergeht, kaum ermessen. In Deutschland durchziehen die Einwanderungsgesellschaft neue Gravuren von Spaltung und Entfremdung, seit aus Erinnerungsarbeit ein Bumerang zur Stigmatisierung von Minderheiten wird. In globaler Hinsicht formuliert der italienische Historiker Enzo Traverso das Ausmaß der Krise so: „Wie kann die Erinnerung an die Shoah überhaupt noch verteidigt werden, nachdem mit ihr ein Genozid legitimiert wurde?“ Das Holocaust-Gedenken laufe Gefahr, bloß noch als eine Waffe westlicher Dominanz zu gelten, so Traverso in seinem kommenden Buch „Gaza devant l’histoire“.

Gaza vor der Geschichte, das bedeutet neben allem anderen, dass der Kampf um ein gerechteres, inklusives Weltgedächtnis in eine neue schillernde Phase getreten ist, mit dystopischen und utopischen Anteilen. Wer das massenhafte Töten in Gaza als Verteidigung westlicher Werte rechtfertigt, weist das Bemühen um mehr koloniales Erinnern nun mit auffallend schroffer Feindseligkeit zurück. Postkoloniales Denken gilt als genuin antisemitisch; der Dämonisierung folgt regelmäßig die Forderung nach Säuberung des akademischen und kulturellen Lebens.

Verhängnisvolle Verwandtschaft

Diesem diskursiven Irrsinn kann nur die Besinnung auf universelle Prinzipien menschlicher Gleichheit trotzen. Doch wie? „Von Windhoek nach Gaza“ lautet ein Slogan auf Demonstrationen; er bringt die deutsche Täterschaft damals und die Komplizenschaft heute in eine genozidale Kontinuität. Sinnvoller scheint mir, von einer verhängnisvollen Verwandtschaft zu sprechen, nämlich des abwertenden Blicks auf die Opfer, der sie zu Menschen einer minderen Kategorie macht, zu Wesen nachrangiger Bedeutung. Die wichtigste Lehre aus dem Holocaust, jedes Leben als gleichwertig zu betrachten, ist dem offiziellen Deutschland fremd. Und daraus folgt eine Hierarchisierung: Sie macht heutige Palästinenser und Palästinenserinnen kolonial-historischen Opfern ähnlich, aber degradiert auch nicht-jüdische Opfer der NS-Vernichtungspolitik.

Für den Genozid an Roma und Sinti hat die Staatsraison keinen Platz. „Müssen wir ein Land haben, in dessen Namen getötet wird, um anerkannt zu werden?“, fragte jüngst eine Romnja-Aktivistin sarkastisch. Zwei NS-Völkermorde mit oft identischen Stätten der Vernichtung und doch so gegensätzlichen erinnerungspolitischen Folgen. Den Begriff Holocaust auf beide Opfergruppen zu beziehen, wie etwa der Historiker Ari Joskovicz in seiner Studie „Rain of Ash. Roma, Jews, and the Holocaust“, ist in Deutschland verpönt. Das Klima von Aufteilung und Rangzuweisung ist so manifest, dass sich Menschen aus jüdischen, palästinensischen, Ovaherero- und Roma-Gemeinschaften jüngst, als sie über Solidarität sprechen wollten, in einem diskreten Berliner Safe Space trafen.

Dieses andere, solidarische Sprechen braucht Unterstützung, um öffentlich zu werden – ausgehend von der Gewissheit, dass Verbrechen nicht gleichgemacht werden, wenn ihre Opfer mit gleichem Respekt behandelt werden. In diesem Sinne ist eine postkoloniale Sicht auf Genozide mit der Besonderheit des Holocaust durchaus vereinbar. Fünf Jahrhunderte Kolonialismus sahen eine Kette von Vernichtungshandeln gegenüber Bevölkerungen, die als überflüssig, störend oder bedrohlich erachtet wurden. Wer diese Geschichte von Massengewalt kennt, setzt „Genozid“ gerade nicht mit dem Holocaust gleich und relativiert folglich auch nicht die Vernichtung von Juden und Jüdinnen, wenn gegen Israel ein entsprechender Vorwurf erhoben wird. Weil postkoloniales Denken mehr Facetten von Gewalthandeln in den Blick nimmt, könnte es sogar zur Entschärfung der Diskurse beitragen.

Binäre Logik

In Israel hält sich indes die Ansicht, ein Völkermord müsse, um den Begriff zu verdienen, wie der Holocaust aussehen, mit Gaskammern und unschuldigen Opfern, die bis zum letzten Glied vernichtet werden. Selbst der Genozid an den Armeniern, von denen sich manche nach Palästina retteten, ist in Israel nicht anerkannt. Auf der anderen Seite hat die internationale Bewegung gegen den Gaza-Krieg wenig Raum für eine Erinnerung an Edward Saids Plädoyer, „die jüdische Erfahrung mit allem, was sie an Schrecken und Angst zur Folge hat, (zu) akzeptieren“. Die Kategorien zionistisch und genozidal werden manchmal leichtfertig nahe aneinandergerückt, als sei bereits die Leitung eines Jüdischen Museums ein Vergehen. Wer sich nicht distanziert, ist mitschuldig – dieses falsche binäre Muster wurde zurecht kritisiert, als sich russische Musiker von Putin distanzieren mussten, um in Deutschland auftreten zu können.

Einen Genozid begehen, ihn durch Komplizenschaft unterstützen und die Komplizenschaft nicht sehen wollen, sind drei verschiedene Sachverhalte. Die ersten beiden sind strafbar, während es sich im dritten Fall um eine moralische Verfehlung handelt, die reparierbar wäre. Wer dies vermischt, macht alle zu Tätern und sich selbst zum alleinigen Richter. Wenn es keine Grauzonen geben darf, kann ein Slogan wie „Zionisten haben kein Lebensrecht“ entstehen, in der Bewegung zwar minoritär, aber nicht vernehmbar genug zurückgewiesen. Und nachdem in Deutschland Politik und Medien die Verwendung des Worts Genozid als antisemitisch brandmarkten, schien es keine guten Gründe mehr zu geben, den Begriff zu vermeiden, obwohl eine Bewegung gegen Kriegsverbrechen mehr Breite hätte gewinnen können.

Malcom X meets Fritz Bauer

Seit Malcolm X 1964 nach Gaza reiste, haben sich Erniedrigte und Entrechtete im Schicksal der Palästinenser wiedererkannt; ihre Lage wurde zum Spiegel ungerechter Weltverhältnisse. Der Gaza-Krieg entblößt nun im Extrem, wie der Westen mit zweierlei Maß misst, doch ist dieser dunkle Höhepunkt zugleich der Kipppunkt einer Ära. Die Causa Palästina hat eine solche Resonanz, weil sich die globalen Kräfteverhältnisse wandeln, während zugleich Israels Verbrechen die bisherigen Schutzmechanismen des jüdischen Staats torpedieren. „Wir nähern uns dem Moment, oder vielleicht ist er schon da, in dem die Erinnerung an den Holocaust die Welt nicht mehr davon abhält, Israel so zu sehen, wie es ist“, schreibt der israelische Menschenrechtler Hagai El-Ad. Die Geschichte diene nicht mehr als „Iron Dome, der uns davor schützt, zur Verantwortung gezogen zu werden.“

So ist multiple Ambivalenz das Kennzeichen einer Welt zwischen den Markern Windhoek und Gaza. Auf dem unsicheren Grund gilt es Allianzen zu schließen für einen unteilbaren Humanismus. Als die 81jährige vormalige Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul jüngst gefragt wurde, wie es kam, dass sie bereits vor 20 Jahren in Namibia um Vergebung für den Genozid bat, lautete ihre Antwort: Sie sei geprägt durch Fritz Bauer, Initiator des Frankfurter Auschwitzprozesses von 1963. „Seine Grundhaltung war: Wer anderen das Menschsein abspricht, ist auf dem Weg in den Abgrund.“

Charlotte Wiedemann veröffentlichte im Jahr 2022 das vielbeachtete Buch „Den Schmerz der Anderen begreifen. Holocaust und Weltgedächtnis“, über das sie damals auch im medico-Podcast sprach.

Charlotte Wiedemann

Charlotte Wiedemann ist freie Auslandsreporterin, ihre Beiträge erschienen u.a. in GeoDie Zeit, Neue Zürcher ZeitungMerian und Le Monde Diplomatique. Sie gehört dem Wissenschaftlichen Beirat des Zentrums Moderner Orient in Berlin an und hält Vorträge zu interkulturellen Themen und zur Erinnerungskultur. Sie ist Kolumnistin der taz und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt erschien Den Schmerz der Anderen begreifen (2022).  


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