Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.
Blaise Pascale
Mit dem zweiten „Lockdown light“, der so leicht nicht ist, wie die heftigen Reaktionen zeigen, stehen wieder die „nicht-pharmakologischen“ Strategien zur Bewältigung und Beendung der Pandemie im Zentrum der Debatte. Denn die Silberkugel der Impfung lässt trotz jüngster Nachrichten auf sich warten und die Frage, wer dann zuerst dran kommt, und wann wir endlich wieder zur Vor-Corona Normalität zurückkehren, wird uns noch eine ganze Weile begleiten.
Das Modell der „Globalen Gesundheitssicherheit“ mit seiner Kriegsrhetorik (jetzt gegen den Feind Coronavirus), mit nationaler und internationaler nie zuvor gesehener Ressourcen-Mobilisierung und der Anrufung der globalen Solidarität, an der sich ganz besonders auch deutsche Politiker*innen wie Angela Merkel, Jens Spahn und Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin beteiligen, beherrscht weiterhin die Politik. Aber hört man Stellungnahmen aus Politik, Epidemiologie und Gesundheitsbehörden, dann sind die Gründe für die zweite Welle ganz einfach: Wie schon vor knapp 400 Jahren beim französischen Mathematiker und Philosophen Blaise Pascale sind es die unruhigen Menschen selbst, die für das Unglück verantwortlich sind, die einfach nicht einmal ein paar Monate still sitzen und ihre infektionsgefährlichen sozialen Kontakte einschränken wollen. Oder können.
Das verweist auf ein deutliches Defizit in den Strategien und Debatten: Es wird vor allem über die Menschen gesprochen, aber nicht mit ihnen. Es mangelt nicht an Verantwortungsappellen und Aufrufen zum Zusammenhalt, aber es fehlt an konkreten Plänen und Praktiken, wie denn die „Zumutungen“, von denen auch die Kanzlerin wieder spricht, realisiert und aushaltbar gemacht werden können. Wie Maßnahmen nicht nur „topdown“ entschieden, kommuniziert und durchgesetzt, sondern tatsächlich „bottom-up“ gemeinsam entwickelt werden könnten. Hierfür eignen sich die quasi-militärischen Konzepte von Fallfindung, Nachverfolgung, Isolierung, Überwachung und Eindämmung nicht, auf die das konventionelle Public-Health-Modell auch jetzt wieder setzt, obwohl es im Zuge der Aids-Krise überwunden schien. Dass jetzt die Bundeswehr mit eingesetzt wird, ist letztlich nur folgerichtig, wenn man einen „Krieg“ führt.
Aber müsste nicht eine tatsächliche gesamtgesellschaftliche Anstrengung anders aussehen? Sollten nicht Schulen und Kitas selbständig jeweils für die konkreten Räume und Arbeitsweisen Strategien entwickeln können, wie die Infektionsgefahren zu minimieren sind, statt auf generelle Anweisungen der Kultusbehörden zu warten, die sich dann in der Praxis als wenig tauglich erweisen? Hätte nicht längst der jüngste Vorschlag der Ärztegewerkschaft Marburger Bund nach Quarantänemöglichkeiten in Hotelzimmern, um die Weitergabe von Infektionen innerhalb von Familien, Wohngemeinschaften und Gemeinschaftsunterkünften zu vermeiden, flächendeckend und mit klaren Finanzierungszusagen gestärkt werden können, statt nur punktuell in einzelnen Kommunen bei Infektionsausbrüchen in Flüchtlingsheimen oder zur Notunterbringung von Obdachlosen umgesetzt zu werden? Stattdessen werden mit dem allzu oft medial gehypten Schreckgespenst der „Hochzeitsfeiern“ und der Open-Air-„Coronaparties“ vermeintliche Gefährder*innengruppen stigmatisiert, die unser aller Gesundheit und Leben und vor allem die der älteren und kränkeren Bevölkerungsteile leichtfertig aufs Spiel setzen.
Quasi-militärische Pandemiebekämpfung
Hier wäre ein Blick auf die vielfältigen und kreativen Community-Health-Ansätze zu werfen, die sich in den letzten Monaten auch zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie in vielen Teilen der Welt entwickelt haben. Sie verbinden aktive Nachbarschaftshilfe für Menschen im Lockdown mit Einsatz für Infektionsschutz, entwickeln intelligente Kommunikationswege über soziale Medien und treten der anschwellenden „Infodemie“ von Falschinformationen und Misstrauen entgegen. Sie bilden damit ein Gegenmodell eines autoritären und allzu oft auch repressiv durchgesetzten Lockdowns. Equinet, ein medico-Partnernetzwerk aus dem südlichen/östlichen Afrika, hat an einer umfangreichen Zusammenstellung solcher Erfahrungen teilgenommen und 42 solcher Fallstudien aus aller Welt herausgegeben (siehe hier). Die zentrale Botschaft aller dieser Erfahrungen lautet schlicht, aber wirkungsvoll: Wir sind Subjekte, nicht Objekte der Gesundheit.
Das meint: Ausgangspunkt einer Strategie dürfen nicht allein epidemiologische Daten und Kalkulationen sein, sondern die konkreten Lebensverhältnisse der Menschen. Denn in diesen erweist sich, ob die Prävention von Infektionen gelingt oder nicht. Und hier spielen die sozialen Faktoren des Lebens, die Wohn- und Arbeitsverhältnisse, die Strategien des gemeinsamen Begegnens und Lernens im Umgang mit der Pandemie eine entscheidende Rolle. Es braucht Ideen für physische Distanz, aber soziale Nähe und Unterstützung für diejenigen, die sich nicht einfach ins gut ausgestattete Homeoffice und Homeschooling zurückziehen können; die als „systemrelevante“ Arbeitskräfte gelten, durch eben diese Arbeit aber auch massiven Gefahren ausgesetzt sind. Das meint eine „umfassende Public-Health-Strategie“, die nicht vom Epidemie-Fall aus denkt, sondern von den Bedürfnissen und der Mitbestimmung der Menschen, in deren „öffentlichem Interesse“ die öffentliche Gesundheit wirken soll. Die Autor*innen, zu denen auch René Loewenson vom Equinet gehört, hat das in ihrem Beitrag „Reclaiming comprehensive public health“ im British Medical Journal so formuliert:
„Unterm Strich können wir nicht zulassen, dass die Reaktion auf COVID-19 die öffentliche Gesundheit in der institutionellen Praxis und in der öffentlichen Meinung allein auf die Biosicherheit reduziert, indem Menschen als Objekte und nicht als Handelnde behandelt werden, und Wissen, Gleichheit, Rechte und jahrzehntelange frühere Arbeit untergraben werden. Wir müssen eine öffentliche Gesundheit schützen und fördern, die im öffentlichen Interesse und in der Öffentlichkeit verwurzelt ist, die proaktiv, wirksam, partizipatorisch, prinzipienfest, gerecht und auf wissenschaftlichen und sozialen Erkenntnissen basiert, die den sozialen Determinanten der Gesundheit vorgelagert ist und die die Zusammenarbeit zwischen dem Gesundheitswesen, anderen Sektoren und Gemeinschaften sowie zwischen Ländern weltweit aufbaut.“
Soziale Medizin – ein Update
Sich an solche Erfahrungen und Traditionen zu erinnern, ist nicht allein ein Privileg der Gesundheitsaktivist*innen im Globalen Süden. Auch hierzulande wächst der Wunsch, nach einer anderen Gesundheit, die nicht vom „Versorgungsbedarf“ gedacht ist, sondern von den sozialen Bedingungen aus, unter denen Gesundheit und Krankheit entstehen und die wesentlich für die ungleichen Gesundheitschancen der Menschen verantwortlich sind. Hierfür stehen die neuen, multidisziplinären Initiativen wie Polikliniken und Gesundheitskollektive in verschiedenen Städten, die sich in einem Poliklinik Syndikat vernetzt haben. Hier können gemeinsame Lernerfahrungen und Praxisaustausche organisiert werden, die tatsächlich Gesundheit entstehen lässt, die über kurative Behandlung von Krankheiten hinausgeht.
Zwei konkrete Beispiele aus den Gesundheitskollektiven zeigen, wie solche „gemeindebasierte multidisziplinäre“ Arbeit aussieht bzw. aussehen kann: Es zeigte sich besonders zu Beginn der Corona-Pandemie ein eklatantes Defizit an Information und im Verlauf diverse Zugangshürden zu den herausgegebenen Informationen. Hier wären lokale, mehrsprachige und partizipative Aufklärungsoffensiven angesichts der Informationslücken nötig gewesen. In diese Lücke traten schnell selbstorganisierte Zusammenhänge in Nachbarschaften und haben in mehrsprachigen bzw. nicht-deutschsprachigen Messengern zum Thema Corona Informationen gesammelt und verbreitet.
Um auf die lokalen Situationen reagieren zu können, sind gesundheitliche Stadtteil- oder Kiezräte ideal, die neben Epidemiolog*innen, Logistiker*innen, Psycholog*innen oder Sozialarbeiter* innen, Sozialwissenschaftler*innen auch Sozialverbände, Wohlfahrtsorganisationen und nachbarschaftliche Strukturen wie solidarische Nachbarschaftsinitiativen miteinbeziehen. Solches lokales Wissen ist nötig für effektive Präventions- und Aufklärungsstrategien und die beste Vorsorge gegen Misstrauen und Fake News. Am Aufbau solcher Gemeindestrukturen sind die Polikliniken und Gesundheitskollektive beteiligt. Sie interpretieren die alte Idee der sozialen Medizin im 21. Jahrhundert neu – wie es auch medico-Partner*innen in Brasilien, in Bangladesch oder den Philippinen tun.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2020. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!