Die Bilanz nach über einer Woche flächendeckender Bombardierung durch die Türkei in Nordostsyrien ist verheerend: Über 500 Ziele sollen getroffen worden sein, berichten türkische Medien. Dabei wurden über 60 Menschen getötet, davon mindestens 16 Zivilist:innen. 33 Zivilist:innen wurden laut Rojava Information Center verletzt. Systematisch hat die Türkei die Infrastruktur der Region angegriffen und in großen Teilen zerstört.
Die Folgen der Angriffe für Millionen Menschen sind noch nicht im ganzen Ausmaß abzusehen. Sicher ist jedoch, dass der Winter vor der Tür steht und es nach der Zerstörung von Kraftwerken und Ölfeldern in tausenden Haushalten und den Flüchtlingslagern an Elektrizität, Gas und Diesel mangeln wird. Zentrale Getreidespeicher, Krankenhäuser und Schulen, auch Straßen sind zerstört. Und die Angriffe sind noch nicht vorbei. Die Bevölkerung lebt in Unsicherheit und Angst vor erneuten Bombardierungen. Besonders die Bevölkerung von Kobanê, Manbij und Shebha fürchtet weitere Angriffe und die von Erdogan angedrohte Bodenoffensive.
Auch die Gefahr durch den IS ist größer denn je. In unmittelbarer Nähe des berüchtigten al Hol-Lagers und im Umfeld von Gefängnissen, in denen IS-Kämpfer inhaftiert sind, schlugen Bomben ein. Es gibt Gerüchte über neue Vorbereitungen, diese Gefängnisse anzugreifen und der IS hat sich zu einem Anschlag in Raqqa bekannt.
Die medico-Partner:innen mussten ihre Arbeit zum Teil einstellen, zu gefährlich ist die Situation an den Projektorten. Die grundlegende Versorgung der Bevölkerung in Nordostsyrien ist gefährdet.
Im Folgenden der Versuch, eine erste Bilanz nach einer Woche türkischer Angriffe zu ziehen
In der gesamten Grenzregion zur Türkei ist durch die Angriffe lebenswichtige zivile Infrastruktur zerstört worden. Schon in der Nacht der ersten Luftangriffe (19. November) wurde ein Krankenhaus bei Kobanê zerstört. Außerdem wurde das Elektrizitätswerk in der Nähe bei Dêrik getroffen. Zivilist:innen, die zur Hilfe eilten, wurde bei einem zweiten Angriff in dieser Nacht getötet – insgesamt starben elf Menschen. Das Elektrizitätswerk funktioniert seitdem nicht mehr und die Bevölkerung in Dêrik und den umliegenden Dörfern ist bis heute ohne Strom.
Das zentrale Getreidesilo bei Dirbêsiyê wurde am darauffolgenden Tag zerstört. In den Silos der Anlage lagerten 1000 Tonnen Getreide, die die Grundversorgung für Menschen in der ganzen Region sichern sollte. Am 23. November wurde zudem das Gasverteilungszentrum Siwêdiyê (Suwaydiy) zerstört, sodass die Gasspeicher und Turbinen nicht mehr funktionieren. Über das Werk wird die gesamte Gasversorgung in Nordostsyrien koordiniert und der Verwaltungsbereich Jazira mit Strom versorgt. Die Stilllegung hat zur Folge, dass die Region Jazira in der knapp 1 Mio. Menschen leben und in der die großen Städte Qamişlo, Dêrik und Hasakeh liegen, großteils ohne Strom ist. Das Gaszentrum ist schon sehr alt und war in keinem guten Zustand, Ersatzteile sind nicht einfach verfügbar. Es wird Monate, wenn nicht Jahre dauern, das Werk zu reparieren, um die Grundversorgung der Bevölkerung mit Gas wiederherzustellen.
Die Ölfelder bei Tirbespiyê wurden nicht nur einmal getroffen, immer wieder schlugen hier Raketen ein. Die Ölförderung und -aufbereitung ist eine zentrale Einnahmequelle für die Selbstverwaltung – diese zu stoppen bedeutet, in der ohnehin ökonomisch schlechten Lage den wirtschaftlichen Bankrott zu forcieren. Zudem wird bei Tirbespiyê auch raffiniert und Diesel hergestellt, der für viele überlebenswichtig ist. Wer kann, hat sich als Alternative zur unsicheren Stromversorgung einen Generator besorgt. Schätzungen zufolge reichen Dieselvorräte für private Generatoren noch bis zu einer Woche.
Die einzige Gasstation bei der die in Jazira lebende Bevölkerung ihre Gasflaschen aufzufüllen kann, wurde ebenfalls bombardiert. Die Menschen nutzen Gas nicht nur um zu kochen, sondern im Winter auch zum Heizen. Wenn die privaten Gasvorräte aufgebraucht sind, wird es in den Haushalten also nicht mehr möglich sein zu kochen und zu heizen.
„Die Angriffe zielten offensichtlich auf die Orte der Infrastruktur ab, die Nordostsyrien mit Treibstoff und Energie versorgt. Es geht der Türkei darum, eine instabile Situation in unseren Städten zu schaffen. Sie haben die Infrastruktur, Eigentum der Selbstverwaltung zerstört, mit der zuvor die grundlegenden Bedürfnisse der Bevölkerung gedeckt wurden. Auf unabsehbare Zeit wird dies nun nicht mehr möglich sein“, berichtet eine Mitarbeiterin des Energieministeriums.
Nicht nur, dass lebenswichtige Infrastruktur in vielen Teil der Region zerstört ist. Die Bevölkerung lebt in der Angst vor weiteren (Drohnen-) Angriffen und traut sich nicht auf die Straße. Der Schulunterricht ist weiterhin ausgesetzt. Die medizinische Versorgung leistet der langjährige medico-Partner Kurdischer Roter Halbmond, der sich in den vergangenen Monaten auf Krisenszenarien wie die aktuelle vorbereitet hat. Allerdings wird nach den Angriffen auf Krankenhäuser befürchtet, dass weitere medizinische Einrichtungen getroffen werden. In den Kriegen der vergangenen Jahre hat die Türkei Krankenhäuser bombardiert und keine Rücksicht auf die Nothelfer:innen genommen.
Angesichts der jüngsten Angriffe warnt der Kurdische Rote Halbmond vor Fluchtbewegungen und einer Zuspitzung der ohnehin schlechten humanitären Lage in den vielen Flüchtlingslagern der Region, die ebenfalls von der nun zerstörten Infrastruktur abhängig sind und in denen Strom und Gas für die grundlegende Versorgung fehlt. Zudem gibt es hier seit Wochen einen größeren Cholera-Ausbruch, den der Kurdische Halbmond auch mit medico-Unterstützung versucht einzudämmen. Sollte sich die humanitäre Lage nun verschlechtern und die Möglichkeiten, hygienische Bedingungen aufrecht zu erhalten, werden sich die Infektionsherde weiter ausbreiten. Der letzte Starkregen hat bereits Flüchtlingszelte weggeschwemmt, bald kommt der erste Schnee. Wie sollen die Flüchtlinge ohne Gas und Strom diese Zeit überstehen? Wie soll die Bevölkerung ihren Alltag in den Städten und Dörfern organisieren?
Es wird Monate dauern, die zerstörten Werke, Getreidesilos und Ölfelder wieder zum regulären Betrieb zu bringen. Eine große Winterhilfe, wie sie für die Ukraine selbstverständlich erscheint, oder Unterstützung beim Wiederaufbau wurde von der internationalen Gemeinschaft bisher noch nicht angekündigt. Stattdessen ist davon auszugehen, dass die Selbstverwaltung und die Bevölkerung einmal mehr auf sich allein gestellt sein werden. Erdogan wird diesen Krieg weiterführen – sei es mit der drohenden Bodenoffensive oder „nur“ weiteren Drohnenangriffen oder der Regulierung des Wasserzuflusses in die Region. Der türkische Wahlkampf hat gerade erst begonnen und Erdogans Ziel scheint es zu sein, die Selbstverwaltung diesmal komplett zu zerschlagen und die Region für die jetzige Bevölkerung unbewohnbar zu machen.
Die türkischen Angriffe stärken den IS
Die Angst, dass der IS wieder erstarkt, war auch vor den jüngsten Angriffen der Türkei schon groß. Ende Januar 2022 hat der IS mit 300 Kämpfern das Ghweran-Gefängnis in Hasakeh angegriffen und tagelang versucht, die 5.000 Insassen – ebenfalls IS-Anhänger – zu befreien. Nur mit Unterstützung der US-Truppen in der Region ist es letztendlich gelungen, den Angriff zurückzuschlagen. Zudem ist das al Hol-Lager mit seinen 55.000 Bewohner:innen eine tickende Zeitbombe. Ein Großteil der Menschen im Camp gehört zum IS. Besonders radikal sind die rund 2.000 ausländischen IS-Frauen, die mit ihren Kindern in einem gesonderten Bereich leben. Allein in diesem Jahr wurden laut der autonomen Selbstverwaltung über 40 Personen im Camp ermordet – die Regeln im Camp werden von den IS-Anhänger:innen gemacht. Wegen der angespannten Sicherheitslage wurde bereits im Frühjahr 2021 eine sogenannte Sicherheitsoperation in al Hol durchgeführt. Sie dauerte mehrere Tage, etwa tausend Soldat:innen und Polizist:innen waren beteiligt und die internationale Anti-IS-Koalition schützte den Luftraum.
Im Zuge der aktuellen Angriffe haben nun mindestens zwei Drohnenattacken in unmittelbarer Umgebung des al Hol-Lagers stattgefunden. Gezielt wurden die Sicherheitskräfte getroffen, um die Lage zu destabilisieren. Zudem ist die humanitäre Lage extrem prekär. Seit Beginn der Angriffe haben zudem Hilfsorganisationen ihre Arbeit im Lager weitgehend eingestellt, besonders die internationalen Helfer:innen arbeiten in solch unsicherer Lage nicht weiter. SDF -Chef Mazlum Abdi hat verkündet, dass die SDF gezwungen sei, den Kampf gegen den IS im Rahmen der internationalen Koalition auszusetzen. Zu groß sei die Bedrohung durch das türkische Militär und alle Sicherheitskräfte würden in der Nähe der türkischen Grenze benötigt. Doch schon jetzt haben die Sicherheitskräfte nicht genügend Kapazitäten, um die Sicherheit im al Hol-Lager zu gewährleisten und die Flucht der IS-Familien zu verhindern. Hilfsorganisationen haben ihre Arbeit im Lager reduziert.
Auch in der Nähe von Haftanstalten in Hasakeh und Qamişlo, in denen IS-Kämpfer inhaftiert sind, ist es unmittelbar zu Einschlägen gekommen. Die Sozialarbeiter:innen der medico-Partnerorganisation Purity mussten ihre Arbeit in den Gefängnissen einstellen. Sie arbeiten dort mit inhaftierten Jugendlichen die dem IS angehörten. Doch jetzt ist die Arbeit zu gefährlich, es gibt Gerüchte über IS-Mobilsierungen und mögliche Angriffe auf die Gefängnisse. Sollten die Drohnen, die in der Nähe der Gefängnisse kreisen, angreifen, werden die IS-Anhänger zum Aufstand übergehen.
Der Fortbestand Rojavas ist in Gefahr
Seit vielen Jahren begleiten wir bei medico die Entwicklungen in Nordostsyrien – immer an der Seite unserer lokalen Partnerorganisationen. Viele unserer Partner:innen sagen uns, die Lage ist so gefährlich wie noch nie. Alle verstehen, dass die gesamte Existenz Rojavas auf dem Spiel steht. Bedroht sind eine Gesellschaft und ein demokratisches Modell, dass sie alle in den letzten zehn Jahren mitaufgebaut und mitgeprägt haben.
Sollte es keine Unterstützung beim Wiederaufbau der Infrastruktur geben oder sollten infolge einer Bodenoffensive Millionen Menschen zur Flucht gezwungen, werden viele die Region verlassen. Alle fürchten die türkische Herrschaft bzw. die Kontrolle islamistischer Söldner, wie sie in der Region Afrin Realität ist. Ebenso möglich scheint zurzeit, dass die autonome Verwaltung im Zuge einer Einigung der beteiligten Großmächte wieder unter Assads Syrien gezwungen wird. Das würde ebenso das Ende jeglicher gewonnen Rechte und Freiheiten in Rojava bedeuten. Auch viele unserer Partner:innen stehen auf den Fahndungslisten des syrischen Regimes.
Dass es keine internationale Unterstützung für das bedrohte Rojava gibt – daran sind die Menschen hier inzwischen gewöhnt. Und dennoch werden die Schutzmächte Russland und USA entscheidend sein. Stimmen sie einer türkischen Bodenoffensive zu, versetzen sie den Kurd:innen und allen anderen im Gebiet der Selbstverwaltung integrierten Minderheiten den Todesstoß.
Die medico-Partner geben dennoch nicht auf. Das können sie auch nicht, die Region ist ihr Zuhause, ihr Alltag, ihr Arbeitsfeld. Auch unter diesen bedrohlichen Zuständen machen sie weiter, improvisieren, besorgen Generatoren und Diesel, um Laptops und Handys wieder aufladen zu können und auch mit uns den Kontakt zu halten. Der Kurdische Rote Halbmond ist auf das Schlimmste vorbereitet – so war es schon bei der Schlacht um Kobanê und dem Völkermord an den Jesiden 2014, dem türkischen Einmarsch nach Afrin 2018 und den Angriffen und der Besetzung von Serekaniye 2019. Dabei wurden unsere Partner:innen auch immer wieder selbst zum Ziel der Angriffe. medico wird weiter an ihrer Seite stehen.