Die Pharmaindustrie tobt. Es ist einfach großartig. Mit einem Satz haben die USA die in aller Welt erhobene Forderung von zivilgesellschaftlichen Gruppen aufgenommen, den sogenannten TRIPS-Waiver zu unterstützen, also den Patentschutz auf Covid-19-Impfstoffe auszusetzen. “We are for the waiver at the WTO, we are for what the proponents of the waiver are trying to accomplish, which is better access, more manufacturing capability, more shots in arms”, sagt die US-Außenhandelsbeauftragte Katherine Tai. Endlich mal eine gute Nachricht in Zeiten von Impfstoffnationalismus und der Verteidigung des kapitalistischen Systems gegen das Recht auf bestmögliche Gesundheitsversorgung
Natürlich wird jetzt nicht alles gut. Aber die globale Zivilgesellschaft hat einen echten Teilerfolg und Etappensieg errungen. Seit Jahrzehnten setzen sich Aktivist:innen auf der ganzen Welt für die Aufhebung des Patentschutzes ein. Auch medico ist seit langer Zeit dabei. Und es sind nicht bloß die politischen Kampagnen und NGOs, deren Engagement heute belohnt wird. Es ist auch der Tag von hunderttausenden Gesundheitsarbeiter:innen und -aktivist:innen, ein Erfolg für alle, die sich unermüdlich für den bestmöglichen Zugang zu Gesundheit für alle einsetzen.
Doch wir wollen nicht in Sektlaune verfallen. Es ist höchste Zeit für den Waiver, denn die Patente blockieren eine effektive globale Eindämmung des Corona-Virus. Die Blockadehaltung der reichen Länder hat längst zu einer Spur der Verwüstung beigetragen, die wir überall auf der Welt sehen können. Es sind die Spuren eines Systems, das zu künstlicher Impfstoffknappheit führt und in Indien, Südafrika, Brasilien und den Flüchtlingslagern der Welt Hunderttausende das Leben kostet.
Die Pandemie legt die Risse in unserer Weltgesellschaft unerbittlich offen. Die Menschen im globalen Süden warten vermutlich trotz Waiver noch lange auf die Versorgung mit Impfstoffen; eine Zeit, in der Schutzmaßnahmen wie Lockdowns lebensgefährlich bleiben, weil Menschen ohne jede soziale Absicherung unmittelbar ihr Einkommen verlieren; Jahre, in denen Hunderttausende angesichts unzureichender öffentlicher Gesundheitssysteme und viel zu wenigen Beatmungsgeräten an Covid-19 sterben; Jahre, in denen Armut und Hunger durch die prekärer werdenden (informellen) Arbeitsverhältnisse zunehmen; Jahre also, in denen Rückkehr zur Normalität nichts anderes bedeutet als die Rekonstruktion der alten Verhältnisse, die schon vor Corona krank waren.
Wie geht es weiter?
Noch ist das Ruder nicht rumgerissen. Auch, weil der Vorschlag der USA sich ausschließlich auf Impfstoffe bezieht und nicht auf alle für Covid-19 relevanten medizinischen Produkte und Technologien. Die USA haben jedoch mit ihrem Bekenntnis die EU massiv unter Druck gesetzt, es ihnen gleichzutun. Und tatsächlich melden die Nachrichtenagenturen, dass die EU darüber berät, ihre Blockadehaltung gegen die Aussetzung des Patentschutzes im TRIPS-Abkommen der Welthandelsorganisation WTO aufzugeben.
Die nun in greifbare Nähe gerückte Aussetzung der Patente würde die Produktion der so dringend benötigten Impfstoffe beschleunigen und die Länder des globalen Süden vor Klagen durch die Pharmaindustrie schützen. Die Versorgung mit Impfstoffen würde nicht mehr von wenigen Großunternehmen kontrolliert, sondern viel breiter aufgestellt.
Sollte der Waiver beschlossen werden, wird dies außerdem einen Präzedenzfall schaffen, der den Raum öffnet, der Forderung für die grundsätzliche Abschaffung von Patenten auf lebensnotwendige Medikamenten weltweit Nachdruck zu verleihen. Der Pharmakonzern und Impfstoffproduzent Pfizer war schon in den frühen 1990er Jahren ganz vorne mit dabei, das TRIPS-Abkommen mit all seiner Lobbymacht gegen die Einwände aus den Ländern des globalen Südens durchzusetzen. Die nun hoffentlich bevorstehende, temporäre Aussetzung setzt das nächste Ziel auf die Agenda: Das TRIPS-Abkommen gehört abgeschafft.
Die Vorschläge dafür liegen seit Jahren auf dem Tisch. Und nach der Pandemie geht es erst richtig los, dann geht es um die Einführung eines internationalen Vertrages, in dem sich Regierungen zur verpflichtenden, koordinierten Forschung und Entwicklung für neue unentbehrliche Medikamente, Diagnostika und Impfstoffe bekennen. Das in den Köpfen verankerte Mantra der Pharmaindustrie – ohne Patente keine Innovation – wackelt. Und wenn wir schon dabei sind, bringen wir auch den Aufbau von öffentlichen und frei zugänglichen Gesundheitssystemen wieder auf die globale Agenda und fordern Lebens- und Arbeitsbedingungen ein, die das Recht auf bestmögliche Gesundheit erfüllen. Aber heute freuen wir uns erstmal.