Kritische Hilfe

This is not Hollywood

07.03.2024   Lesezeit: 6 min

Seit Tagen werden über Gaza Hilfspakete aus der Luft abgeworfen um auf die desaströse Versorgungssituation zu reagieren – eine politische Bankrotterklärung.

Von Radwa Khaled-Ibrahim

„Kein Kind darf in den Himmel schauen und sich wundern, ob das, was gleich auf es fallen wird, ein Essenspaket oder eine Bombe ist“ lese ich auf dem Nachrichtendienst X über die unerträgliche Lage. Nicht nur für Kinder, die sich inzwischen an vom Himmel fallende Bomben gewöhnt haben, ist Lufthilfe ungewöhnlich. In der humanitären Hilfe gelten Luftbrücken als Ultima Ratio. Man entscheidet sich für sie nur dann, wenn es keine Land- oder Seewege gibt, über die die Hilfe koordiniert transportiert werden kann, wenn ein Gebiet wegen Naturkatastrophen oder Belagerung beispielsweise komplett abgeschnitten ist.

Die Situation einer Besatzung zählt nicht darunter, denn völkerrechtlich ist die Besatzungsmacht für die Versorgung der Bevölkerung in den von ihr besetzten Gebieten verantwortlich. In Gaza werden allerdings die Strukturen, die humanitäre Hilfen leisten sollen und könnten angegriffen, zerstört oder deren Mittel gekürzt. Die ohnehin schon zu geringen Hilfslieferungen in den Gazastreifen sind in den letzten Wochen zusammengebrochen. Obwohl Israel vom Internationalen Gerichtshof rechtsverbindlich angewiesen wurde, die Bereitstellung humanitärer Hilfe vollumfänglich zu ermöglichen, wird die Überfahrt von Hilfskonvois seit Wochen massiv behindert.

Im Vergleich zur Versorgung über den Landweg sind Lufthilfen teuer und ineffektiv, ein Hollywood-Spektakel mit der dazugehörigen Machtdemonstration, wie der jordanische König Abdullah II bin Hussein im Luftwaffenanzug grimmig in die Kamera schauend unterstreicht. Es ist aber auch ein Spektakel mit Analogie zum Zweiten Weltkrieg. Vielleicht hat in Europa Lufthilfe durch die Berliner Luftbrücke zu Beginn des Kalten Krieges eine positive, humanitäre Konnotation, vielleicht wurde aber auch nur die Erinnerung an deren Wirklichkeit verdrängt. Doch die jüngere Geschichte in anderen Teilen der Welt erinnert sich noch an George W. Bushs Worte von 2001: „Wenn wir militärische Ziele angreifen, werfen wir auch Lebensmittel, Medikamente und Vorräte für die hungernden und leidenden Männer, Frauen und Kinder in Afghanistan ab, damit die Menschen die Großzügigkeit Amerikas und seiner Verbündeten sehen“. Schon damals wurde die Luftbrücke als Methode von Hilfsorganisationen kritisiert. Es braucht ein Team auf dem Boden, um die abgeworfenen Güter zu koordinieren, die Ladefläche ist nicht groß genug, es ist schwer absehbar und kalkulierbar, wo genau die Güter fallen werden, wie die Videos aus Gaza von ins Meer gefallenen Gütern zeigen. Selbst moderne Technologien bieten keine effektiven Lösungen dafür, wie der syrische Fall von Deir ez-Zor zeigt: Vierundvierzig Mal regnete es Essenspakete, gerade einmal 100.000 Menschen wurden minimal, punktuell und nur ganz akut durch sie versorgt.

Inkauf genommenes Leid

Das Welternährungsprogramm gab unlängst bekannt, seine Hilfslieferungen in den nördlichen Gazastreifen eingestellt zu haben, obwohl dort die humanitäre Not am größten ist. Und zwar wegen des Zusammenbruchs der öffentlichen Ordnung und des Fehlens eines funktionierenden „Deconfliction systems“, ein System, das sicherstellt, dass die humanitären Helfer:innen und die humanitären Maßnahmen geschützt und nicht angegriffen werden.

Laut UNICEF sterben bereits jetzt die ersten Kinder an Unterernährung. Einem kürzlich erschienenen Bericht der London School of Hygiene and Tropical Medicine, Health in Humanitarian Crises Center und des Johns Hopkins Center for Humanitarian Health zufolge werden selbst im günstigsten Fall eines sofortigen dauerhaften Waffenstillstands in den nächsten sechs Monaten mehr als 6.500 Menschen im Gazastreifen sterben, weil die Ernährungslage, die Unterkünfte, die sanitären Einrichtungen und die Gesundheitsversorgung in der Enklave derartig desolat sind. Hält der Krieg jedoch an, steigen ihre Prognosen für denselben Zeitraum auf 58.200 bis über 74.000 Tote.

Anfang März haben die USA und Jordanien angefangen den Gazastreifen über eine Luftbrücke zu versorgen. Israel hat den Flügen eine Erlaubnis für die Durchquerung des eigenen Luftraums erteilt. Warum aber erlaubt Israel humanitäre Hilfe nicht einfach auf dem Land- oder Seeweg? Gerade wenn auf diesem Weg mehr und bedeutend preiswertere Güter bereitgestellt und viel gezielter Menschen das Überleben ermöglicht oder gar das Leben gerettet werden könnte? Die LKWs stehen bereit und sind voll bepackt. Es geht aber nicht um die Abwägung der effektiveren oder der menschenwürdigsten Methode, denn es ist keine technische Frage. Was die Hilfe verhindert, ist eine aktive Blockade und der politische (Un-)Willen.

Am 22. Februar – eine ganze Woche vor Beginn der Luftbrücke - hielt Christopher Lockyear, Präsident der Organisation Ärzte ohne Grenzen eine Rede vor dem UN-Sicherheitsrat: „Frau Präsidentin, die heutige humanitäre Reaktion im Gazastreifen ist eine Illusion - eine bequeme Illusion, die die Behauptung aufrechterhält, dass dieser Krieg im Einklang mit dem Völkerrecht geführt wird. In diesem Saal sind bereits Forderungen nach mehr humanitärer Hilfe laut geworden. Doch in Gaza haben wir jeden Tag weniger - weniger Platz, weniger Medikamente, weniger Lebensmittel, weniger Wasser, weniger Sicherheit. Wir sprechen nicht mehr von einer Aufstockung der humanitären Hilfe, sondern davon, wie man auch ohne das Nötigste Überleben kann. Heute wird in Gaza nur noch willkürlich, opportunistisch und völlig unzureichend Hilfe geleistet.“

Lukrative Dehumanisierung

Die Menschen sind am Ende ihrer Kräfte, natürlich rennen sie zu jedem Anzeichen von Hilfe. Zuletzt kamen ihnen anstelle von Mehl Kugeln entgegen. Allein die Tatsache, dass sie um das Essen rennen müssen, bricht mit allen Grundprinzipen, die im humanitären Völkerrecht verankert sind. Neben dem Völkerrecht ist eines der wichtigsten Prinzipien der (humanitären) Hilfe der Do-No-Harm Ansatz. Kurz gesagt bedeutet dieser, dass Hilfe keinen Schaden anrichten darf.

Angesichts der aktuellen Bedingungen in Gaza ist es fast zynisch davon zu schreiben. Aber was die Luftbrücke und andere nicht koordinierte vermeintliche Hilfsleistungen perpetuieren, ist eine weitere Dehumanisierung der Menschen in Gaza: das Hollywood-Bild der braunen, hungrigen, unzivilisierten Masse. Ein nacktes Leben, wie der italienische Philosoph Georgio Agamben es vielleicht bezeichnen würde. Dieses rechtlose, weil außerhalb des Rechts stehende, „nackte Leben“ bleibe als solches auch schutzlos und sei im besagten Ausnahmefall quälbares und tötbares bloßes Leben unter dem Blick des Souveräns. Es ist kein Wunder, dass in den sozialen Medien der Film „Hunger Games“ mit Gaza in Verbindung gebracht wird.

Warum eine feministische Außenpolitik, die eine feministische humanitäre Hilfe fordert, daran keine Kritik formuliert, bleibt fraglich. Sind es doch insbesondere und gerade in Gaza Frauen und Mädchen die am drastischsten unter unkoordinierter Hilfe und den Folgen des Krieges leiden. Wo ist hier eine gendersensible humanitäre Hilfe? Von einer feministischen Kritik ganz zu schweigen.

Für die USA und Jordanien bietet die Luftbrücke indes eine spektakuläre Möglichkeit dem Club der Guten anzugehören und für die USA sich gleichsam der Bürde zu entledigen, weiterhin politischen Druck auf Israel auszuüben, humanitäre Lieferungen in erforderlichen Umgang passieren zu lassen. Auch innenpolitisch kann US-Präsident Joe Biden vor den Wahlen einen solchen, spektakulären Akt, gut gebrauchen. Während der König in Jordanien über dieselben Bilder sein verlorenes politisches und soziales Kapital vor den fast drei Millionen Palästinenser:innen im eigenen Land zu restaurieren versucht.

Und was, wenn die Güter als Ergebnis der unkontrollierbaren Abwürfe nun in die falschen Hände gelangen oder nur den Schnellsten und Stärksten und eben nicht den Bedürftigsten nutzen? Die Selbstrechtfertigung ist schon im Akt eingebettet: „Wir haben die Pakete nur abgeworfen.“ Und vielleicht kommen George W. Bushs Worte mit einem entschlossenen Blick aus einem anderen Mund noch hinterher geraunt: Wir wollten, dass „die Menschen die Großzügigkeit Amerikas und seiner Verbündeten sehen“.

Radwa Khaled-Ibrahim

Radwa Khaled-Ibrahim ist Referentin für Kritische Nothilfe in der Öffentlichkeitsarbeit von medico.


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