Im Januar 2009, während der israelischen Militäroperation »Gegossenes Blei« in Gaza, schrieb eine der Leiterinnen der Culture and Free Thought Association (CFTA) aus Gaza ein Tagebuch für »Die Zeit«. Majeda Al-Saqqa von der medico-Partnerorganisation berichtete darin, wie sie den rund drei Wochen dauernden Krieg erlebte und überlebte. »Hunde fressen die Leichen von Menschen, die Tage zuvor umgekommen sind«, schrieb sie. Ähnliches berichtete jüngst der Direktor des Palestinian Center for Human Rights aus Gaza, Raji Sourani: »Das internationale Recht, das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte sind dazu da, die Zivilbevölkerung in Kriegszeiten zu schützen. Stattdessen erleben wir, wie Hunde die Leichen unserer Kinder in den Ruinen von Gaza fressen.«
Schon früher gab es in Gaza während solcher Kampagnen keine sicheren Orte. Deswegen harrten viele Menschen zu Hause aus, anstatt sich auf die Flucht zu begeben in einem Gebiet, das ja doch abgeriegelt war. Im derzeitigen Krieg jedoch war es Majeda Al-Saqqa, ihren Kolleginnen, Freunden und ihrer Familie nicht möglich, den Krieg bei sich zu Hause oder in einem ihrer Zentren für Frauen, Kinder und Jugendliche zu überstehen. Bereits in den ersten Kriegswochen wurden elf ihrer Nachbarn getötet. Irgendwann wurde die Situation in Khan Younis so gefährlich, dass die Belegschaft von CFTA fliehen musste.
In ihren Zentren und Wohnhäusern hatten Hunderte Menschen Zuflucht gesucht. Mit der Intensivierung der israelischen Angriffe auf die Stadt und die Ausweitung der Bodenoffensive war ihre Situation schon vor Wochen unhaltbar geworden. »Unser Hauptzentrum lag neben dem Krankenhaus des Roten Halbmonds in Khan Younis. Beide wurden tagelang beschossen, auch mein Haus«, berichtete Majeda Al-Saqqa. »In Rafah gab es keinen einzigen Zentimeter Platz. Die Menschen schliefen auf der Straße, unter Bäumen. Kinder liefen herum und suchten nach Essbarem. Ich entschied für uns alle, nach Al-Mawasi zu gehen. Wir hatten keine Wahl.«
Seither versuchen sie, in den Sanddünen von Al-Mawasi zurechtzukommen, an einem Ort ohne Infrastruktur, ohne fließendes Wasser, reguläre Toiletten oder Strom. Dort hilft die CFTA Bedürftigen, Geflüchteten, Nachbarn und jenen Frauen, Kindern und Jugendlichen, die bis zum Krieg für Bildungsprogramme und Beratungsangebote in die Zentren der Organisation gekommen waren. Die Hilfe allerdings ist drastisch eingeschränkt. Denn Hilfsgüter sind knapp, zudem müssen Majeda und ihr Team wegen ihrer Zwangsumsiedlung quasi von vorn anfangen: Zuerst einmal halfen sie beim Bau von Zelten, damit Familien mit Kindern und alten Menschen nicht unter freiem Himmel schlafen mussten. Schließlich konnten Majeda Al-Saqqa und ihre Kolleg:innen, auch mit der Unterstützung von Freiwilligen, damit beginnen, Zelte für Hilfsdienste zu errichten, beispielsweise für medizinische Behandlungen.
Werden sie und die anderen je ihre Arbeit in Khan Younis wieder aufnehmen können? Das hängt von mehreren Faktoren ab. Zunächst einmal müssen sie diesen Krieg irgendwie lebend überstehen. Dann stellt sich die Frage, in welche Teile des Gazastreifens die israelische Armee und Regierung überhaupt palästinensische Zivilbevölkerung zurückkehren lassen werden, und unter welchen Bedingungen. Schließlich ist die Frage des Wiederaufbaus nicht nur eine Ressourcenfrage, sondern auch eine politische. Denn mit allen bereits vor dem 7. Oktober 2023 in Kraft befindlichen Einschränkungen der Wareneinfuhren nach Gaza, unter anderem für Baumaterialien, wird es Jahre oder Jahrzehnte dauern, die bislang zerstörte Infrastruktur auch nur annähernd wiederherzustellen.
Selbst wenn irgendwann die Waffen schweigen, wird dieser Krieg für die Menschen noch lange nicht vorbei sein. Während der Operation »Gegossenes Blei« schrieb Majeda Al-Saqqa 2009: »Je weiter wir in die Stadt kommen, desto größer ist die Zerstörung und desto unerträglicher wird der Geruch. In einem ganzen Wohngebiet steht kein Haus mehr. Stand hier nicht ein Gebäude, wo nun die Trümmer liegen? Ich bin nicht sicher. Die Leute reden nicht und blicken nicht auf. Sie laufen durch die Straßen wie Roboter.«
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