medico: Ousmane, du bist Präsident der Abgeschobenen-Selbstorganisation AME in Mali. Wie sieht eure konkrete Arbeit vor Ort derzeit aus, was macht ihr?
Ousmane Diarra: Die Association Malienne des Expulsés, kurz AME, ist die erste Organisation in Afrika, die sich für die Rechte von Migrant:innen einsetzt. Sie wurde 1996 von unfreiwillig zurückgekehrten Einwanderern gegründet. Es waren die Abgeschobenen selbst, die diese Organisation gegründet haben. Die zwei großen Hauptziele waren zum einen die Verteidigung der Rechte von Einwanderern und zum anderen humanitäre Nothilfe. Die aktuelle Situation in Mali ist durch den Militärputsch im Mai 2021 sehr kompliziert. Die Frage der Einwanderung ist heutzutage komplex. Ein weiteres bemerkenswertes Ereignis ist die freiwillige Rückführung von Malier:innen durch die Internationale Organisation für Migration (IOM) und die Regierung mit Unterstützung des EU-Treuhandfonds.
Ihr arbeitet mit Menschen, die nach Mali abgeschoben werden. Woher kommen diese meistens?
Abgeschobene Migrant:innen werden in der Regel in einem ersten Schritt aus europäischen Ländern nach Frankreich gebracht, weil es ein bilaterales Abkommen zwischen den Ländern der Europäischen Union gibt. Es ist ein Abkommen über die Rückkehr von Einwanderern, das einerseits die Aufnahme und andererseits die freiwillige Rückkehr regelt. Wenn ich zum Beispiel die Länder der Europäischen Union betrachte, bringen sie Migrant:innen normalerweise nach Frankreich und Frankreich bezahlt die Reise im Rahmen der Abschiebung in das Drittland. Eine Ausnahme bildet Spanien, das die Abschiebung direkt nach Mali durchführt. Darüber hinaus haben andere Länder wie Italien, Deutschland oder Holland ein identisches Abschiebeverfahren, das heißt die Abgeschobenen reisen systematisch durch Frankreich. Das ist ein erstes Abkommen zwischen den europäischen Staaten, aber es gibt auch ein weiteres Abkommen zwischen der Europäischen Union und der Afrikanischen Union, das 2015 in Valletta verabschiedet wurde. Der sogenannte EU-Treuhandfonds, der u.a. die Rückführung von Migrant:innen aus Libyen, aber auch aus Algerien und anderen nordafrikanischen Ländern, gewährleisten soll.
Wie schätzt du die Externalisierung des EU-Grenzregimes bis tief in die Sahelzone ein, wo Migration nun trotz des Freizügigkeitsabkommens der ECOWAS (Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft) auf europäischen Druck hin kriminalisiert wird? Welche aktuellen Entwicklungen gibt es?
Vor dem Abkommen von Valletta 2015 gab es erste Diskussionen über ein Aufnahmeabkommen zwischen westafrikanischen Staaten und der Europäischen Union. Auch EU-Mitgliedsstaaten wie Frankreich wollten diese Art von Abkommen mit Ländern südlich der Sahara unterzeichnen, doch hat sich Mali hier weitaus weniger kooperativ gezeigt, als andere afrikanische Staaten. Mali hat dieses Rückübernahmeabkommen weder mit der Europäischen Union noch mit Frankreich unterzeichnet. Aber es gibt viele Länder wie Kamerun, die Demokratische Republik Kongo, die Elfenbeinküste und viele andere, die bereits vor 2015 unterzeichnet haben. Mali hat das Rückübernahmeabkommen nicht unterzeichnet, dann jedoch das Valletta-Abkommen. Um Mali davon zu überzeugen, das Abkommen zu unterzeichnen, wurden die folgenden Worte geändert: „Rückübernahmeabkommen“ wurde durch „freiwillige Rückkehr“ ersetzt. Aber letztendlich ist es das Gleiche. Nun nimmt Mali über die IOM, finanziert aus dem Treuhandfonds jeden Monat Hunderte von Migrant:innen v.a. aus Libyen und Algerien auf. Dazu mieten diese Flugzeuge, um diese Menschen nach Mali zu bringen. Jeden Monat kommen hundert bis zweihundert Migrant:innen zurück. Problematisch ist dabei auch, dass die ankommenden Rückkehrer:innen nur 72 Stunden lang untergebracht werden können. Sie bekommen Geld für das Ticket zurück ins Dorf oder nach Hause. Aber danach gibt es nichts mehr. Diese Einwanderer wissen nicht, wie sie danach weiterleben sollen.
Und hier interveniert die AME?
Nein, wir intervenieren nicht sofort. Erst nachdem die Rückkehrerer:innen das IOM-Aufnahmezentrum verlassen haben, kommen einige von ihnen zu uns, um über ihr Leid zu sprechen, ihre Erfahrungen zu schildern und zu sehen, was wir für sie tun können. Das ist der Punkt, an dem wir unterstützen können. Aber das betrifft nur diejenigen, die über die IOM gekommen sind. Dort, wo wir wirklich eingreifen, ist am Flughafen. Wir sind jeden Tag dort und beobachten die Ankunft der Migrant:innen. Oft werden wir von der Flughafenpolizei angerufen, die uns sagt: „Da ist ein Rückkehrer draußen und er weiß nicht, wie er wegkommen soll“. Dann kommen wir, helfen ihm und nehmen ihn mit zu uns.
Die Arbeit am Flughafen haben wir bereits 1997 begonnen. Die Abgeschobenen kamen damals mit Handschellen und Klebeband über dem Mund an. Außerdem wurden sie direkt ins Gefängnis gesteckt. Um das zu verhindern, hatten wir ein Kollektiv von Anwält:innen und Journalist:innen die das versucht haben zu verhindern und Druck auf die malische Regierung zu machen. Daraufhin haben wir ein Beobachtungsteam am Flughafen aufgestellt. Das war der Kampf gegen die de-facto Kooperation der malischen Regierung in der Abschiebung und die Inhaftierung von Rückkehrer:innen. Bei der Beobachtung am Flughafen stellten wir fest, dass es Malier:innen gibt, die ankommen, aber kein Zuhause mehr in Mali und gar keine Mittel haben, weil sie nach zehn oder fünfzehn Jahren mit nichts zurückgeschickt wurden. Wir nehmen sie in unserem Empfangszentrum auf und bieten ihnen eine umfassende Betreuung, wir sammeln ihre Aussagen, wir bieten ihnen psychosoziale Unterstützung, wir bieten ihnen eine Unterkunft, wir haben tägliche Mahlzeiten, wir haben Kleidung für sie, eine soziale und juristische Begleitung und wir geben ihnen einen kleinen Betrag für den Transport ins Dorf.
In Mali hat es letztes Jahr einen Militärputsch gegeben, der auch von Teilen der Bevölkerung unterstützt wurde. Wie haben sich die Arbeitsbedingungen und –Möglichkeiten von Organisationen der Zivilgesellschaft, wie der AME, daraufhin verändert?
Die Arbeit hat sich nicht verändert, weil die Rückführungen auch nach dem Putsch nicht aufgehört haben. Es gab sogar den Doppelputsch innerhalb von zwei Monaten. Die Zivilgesellschaft ist heute zweigeteilt: Es gibt einen Teil der Zivilgesellschaft, die den Putsch unterstützt und an der Macht partizipiert, und es gibt Teile der Zivilgesellschaft und Politiker:innen, die keine Macht haben und nicht offen sprechen können, weil sie sonst eine Inhaftierung riskieren.
Der Putsch hat viele Dinge beeinflusst: Es gab Krieg im Norden Malis, anfangs hofften die Leute, dass das Militär den Krieg bremsen würde, aber am Ende wurde klar, dass es seine eigenen Interessen verfolgte. Jeder erledigt heute also seine Arbeit und lässt das Militär seine machen.
In Mali gibt es den starken Wunsch, die Verbindungen zur ehemaligen Kolonialmacht Frankreich zu verringern, man ist auf der Suche nach neuen Bündnispartnern. Dabei wir die Rolle Russlands immer stärker. Wie schätzt du diese stärker werdende Verbindung mit Russland ein?
Der Putsch war nicht im Interesse des größten Teils der Bevölkerung. Ein Großteil der Bevölkerung im Norden ist vom Krieg betroffen, ebenso das Zentrum des Landes. Dörfer wurden geplündert und niedergebrannt. Daher gibt es viele Vertriebene, die bis heute noch vor allem in Bamako sind. Mit einem Teil von ihnen arbeiten wir jetzt.
Das Militär hat den Teil der Zivilgesellschaft, der mit dem Putsch sympathisiert, davon überzeugt, dass Frankreich der alleinige Grund für den Krieg in Mali ist. Russland hingegen, so eine verbreitete Lesart, könnte Mali helfen, sich aus der Abhängigkeit von Frankreich zu lösen und den Krieg zu beenden. 90% der Malier:innen sind davon überzeugt, dass Frankreich der Grund für alle Probleme des Landes ist und deshalb sehen sie Russland als Alternative. Seit dem Staatsstreich ist das Bewusstsein der Bevölkerung bezüglich der Abhängigkeiten von Frankreich gestiegen: Die Wahrnehmung dafür, dass die Privatisierung ganzer Sektoren, wie auch Landgrabbing und die monetäre Dominanz Frankreichs über den Franc CFA die Wirtschaft Malis ruiniert haben, ist seither deutlich gestiegen. Verstärkt wird diese Sicht auch durch Verflechtungen, wie die, dass malische Pässe von einer Firma des Sohnes des französischen Außenministers Jean-Yves Le Drian hergestellt wurden.
Auf der Fokus Sahel-Konferenz Mitte Juni in Berlin wurde davon gesprochen, dass viele Länder der Region kurz vor dem Zusammenbruch stehen und neue Bürgerkriege entstehen könnten. Wie schätzt du diese Aussage in Bezug auf Mali ein?
In Mali ist es immer noch sehr kompliziert, die Putschisten wollen die Macht nicht abgeben. Sie sind dabei, ihr gesamtes Waffenarsenal zu sichern, um an der Macht bleiben zu können. Im Juli wurde eine Gruppe von 49 Männern aus der Elfenbeinküste beschuldigt, Söldner zu sein, die einen Staatsstreich durchführen wollen. Es ist also alles kompliziert und selbst wenn du die Wahrheit kennst, musst du aufpassen, mit wem du reden kannst. Ich kenne einige Oppositionelle, die bereits geflohen sind, wie Oumar Mariko, der einer der größten Oppositionellen war und starken Einfluss in Mali hatte. Jetzt wissen wir, dass es Mali schlecht geht und die Putschisten die Macht nicht abgeben wollen. Dem Land geht es sehr schlecht.
Der Ukraine-Krieg hat globale Auswirkungen, die auch die Sahel-Zone betreffen. Der Weizenpreis ist massiv gestiegen, die Inflation macht das Leben immer teurer. Für die Sahelzone kommt diese Krise nun auch noch zu den vielen anderen schon länger bestehenden Krisen hinzu. Wie siehst du die Entwicklung?
Ich sehe, dass diese Krise sehr katastrophal ist, denn schon vorher ging es der großen Mehrheit der Malier:innen nicht gut. Letztes Jahr waren die Ernten schlecht und die kleinen Erträge, die von den Bauern erwirtschaftet worden waren, wurden von den Dschihadisten verbrannt. Wir haben also auf Hilfe von außen gehofft für den Nachschub von Grundnahrungsmitteln und vielen anderen Dingen.
Den Krieg in der Ukraine haben wir deutlich verurteilt, weil Russland diesen Krieg nicht führen sollte und er besonders die Zivilbevölkerung trifft. Die Regierenden haben kein Problem, sie haben alle Mittel, um sich zu ernähren, aber die Schwierigkeiten der Bevölkerung werden zunehmen. Die Situation ist sehr ernst und wird insbesondere die Vertriebenen hart treffen. Sie können nicht arbeiten, um sich zu versorgen und sind durch den Krieg traumatisiert. Die Regierung leistet keine Hilfe. Organisationen wie wir versuchen, ihnen zu helfen, obwohl wir eigentlich auf Migration spezialisiert sind. Sie haben gesundheitliche Probleme, Ernährungsprobleme und sie haben Angststörungen. Dieses menschliche Leid kann man nicht beschreiben. Es ist etwas, das uns in Afrika schon längst betrifft, aber es wird noch weitere Ängste verursachen.
Und das in einer Situation, in der es so viele Vertriebene gibt, dass sie nicht alle erfasst werden können, da sie über das ganze Land und die Nachbarländer verstreut sind, wo zum Teil auch herrscht Krieg, wie in Burkina Faso.
Das Interview führte Kerem Schamberger
Transkription: Pauline Köbele