Es ist Hochsommer in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi, während ich diesen Artikel schreibe. Es ist nicht leicht, sich in dieser Stadt aufzuhalten – vor einigen Tagen erreichte die Temperatur tagsüber 49 Grad Celsius. Im Durchschnitt waren es in den vergangenen Wochen 41 Grad. Die Höchsttemperaturen, die in Delhi in den Monaten April und Mai aufgezeichnet wurden, sind die heißesten seit mehr als einem Jahrhundert bzw. seit es Aufzeichnungen gibt. Das vollständige und ebenfalls ungewöhnliche Ausbleiben des Regens im März und April verschlimmerte die Hitze zusätzlich. Es gibt Berichte über Vögel, die im Westen Indiens aufgrund von Dehydrierung vom Himmel gefallen sind. Die heiße Sonne und die trockene Luft haben auch die Ernten in Punjab, dem nordindischen Bundesstaat, der als Kornkammer des Landes gilt, verdorren lassen.
Aufgrund der großen Hitze erwarten Landwirte einen 40-prozentigen Produktionsrückgang, was die indische Regierung in Panik geraten ließ, die Weizenexporte Mitte Mai abrupt verbot. Angesichts des Russland-Ukraine-Konflikts und weltweit erwarteten Nahrungsmittelknappheiten hatte Indien noch eine Woche zuvor behauptet, es verfüge über genügend Vorräte des Rohstoffs, um „die Welt zu ernähren“.
Im Nordosten Indiens haben gleichzeitig anhaltende und starke Regenfälle zu Überschwemmungen und Erdrutschen geführt, bei denen 14 Menschen ums Leben kamen. Fast eine Millionen Menschen, die in den nordöstlichen Bundesstaaten Assam, Meghalaya und Nagaland leben, sind betroffen. Zwischen 1. März und 20. Mai fielen in Assam 719 Liter Regen pro Quadratmeter, ein Rekord für den Monat Mai. In Folge der Naturkatastrophe wurden mehr als 6.200 Häuser vollständig und mehr als 36.000 Häuser teilweise beschädigt. Aufgrund der abwechslungsreichen Geographie des Landes ist es nicht ungewöhnlich, dass in Indien gleichzeitig schwere Dürreperioden und Überschwemmungen auftreten. Es ist seit Jahrzehnten ein alljährliches Phänomen, aber diesmal sind Hitzewelle und Regen häufiger, intensiver und weit vor der Zeit eingetroffen.
Der Grund für all das ist natürlich der Klimawandel, der nach Ansicht von Expert:innen dicht besiedelte Länder wie Indien, Pakistan und Bangladesch am stärksten treffen wird. Eine aktuelle Studie des britischen Met Office hat ergeben, dass infolge des Klimawandels Hitzewellen in Indien und Pakistan mit einer 100-mal höheren Wahrscheinlichkeit auftreten und noch häufiger werden.
Eine offensichtliche Folge des Temperaturanstiegs wird das Abschmelzen der Gletscher im Himalaya sein, der über die größten Wasserreserven in Form von Eis und Schnee außerhalb der Polarregionen verfügt und in dem zehn der größten Flüsse Asiens, vor allem Südasiens, entspringen. Der bereits stattfindende Rückgang der Gletscher von durchschnittlich 10 bis 15 Metern pro Jahr wird voraussichtlich Millionen von südasiatischen Landwirt:innen stromabwärts beeinträchtigen, die auf das Schmelzwasser der Gletscher angewiesen sind, um ihre Felder zu bestellen. Einer neuen Studie zufolge wird sich der Klimawandel auf die Art und Weise auswirken, wie Landwirt:innen verschiedene Wasserressourcen wie Schmelzwasser, Regenwasser und Grundwasser nutzen werden.
„Durch die globale Erwärmung beginnen Gletscher früher als zuvor zu schmelzen, nämlich genau dann, wenn die Aussaat stattfindet. Anfangs ist das vorteilhaft, später im Jahr allerdings, wenn die Pflanzen das meiste Wasser brauchen, gibt zu wenig Wasser. Die Niederschläge werden aufgrund des Klimawandels unregelmäßiger, sodass Landwirt:innen gegen Ende des Jahres mehr Grundwasser pumpen müssen, um den Mangel an Regen- und Schmelzwasser auszugleichen“, heißt es in der Studie, die von Forscher:innen des Internationalen Zentrums für Integrierte Entwicklung in Bergregionen (ICIMOD) veröffentlicht wurde.
Die Folgen des Wassermangels für die Landwirtschaft in Ländern wie Indien mit einer großen und bereits verarmten Bevölkerung sind erschreckend. Einem neuen Gutachten des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), auch Weltklimarat genannt, zufolge könnte die indische Reisproduktion um 30 Prozent statt um 10 Prozent zurückgehen, wenn die globale Erwärmung gegenüber dem vorindustriellen Niveau von 1 Grad auf 4 Grad Celsius ansteigt. Die Maisproduktion wird in diesem Szenario um 70 Prozent statt um 25 Prozent zurückgehen.
Selbst bei einem Anstieg der weltweiten Durchschnittstemperatur um 2 Grad wird der Sommermonsun in Indien laut einer Studie der Weltbank höchst unberechenbar. Bei einer Erwärmung um 4 Grad wird ein extrem feuchter Monsun, der derzeit nur einmal in 100 Jahren auftritt, bis zum Ende des Jahrhunderts voraussichtlich alle 10 Jahre auftreten. Eine abrupte Veränderung des Monsuns könnte eine gewaltige Krise auslösen, die zu häufigeren Dürren und größeren Überschwemmungen in weiten Teilen Indiens führen würde.
Eine weitere wesentliche Auswirkung des Klimawandels in Indien dürfte die Vertreibung der Küstenbevölkerung – insbesondere der Stadtbevölkerung – aufgrund des Anstiegs des Meeresspiegels sein. Da der Subkontinent in der Nähe des Äquators liegt, wird der Meeresspiegel hier viel stärker ansteigen als in höheren Breitengraden. Der Anstieg des Meeresspiegels und die Sturmfluten würden wiederum zu einem Eindringen von Salzwasser in die Küstengebiete führen, was die Landwirtschaft beeinträchtigen, die Grundwasserqualität verschlechtern und das Trinkwasser verunreinigen würde. Kalkutta und Mumbai, beides dicht besiedelte Städte, sind besonders anfällig für die Auswirkungen des Meeresspiegelanstiegs, für tropische Wirbelstürme und Überschwemmungen aufgrund von über die Ufer tretenden Flüssen.
In Anbetracht dieser außerordentlichen Bedrohungen für die eigene Bevölkerung und die nationale Sicherheit, stellt sich die Frage, wie sich Indien zur Reduzierung seines eigenen Beitrags zu den Klimawandel begünstigenden Faktoren positioniert?
Obwohl Indien im Jahr 2019 die dritthöchsten Kohlenstoffemissionen der Welt verzeichnete, sind seine Emissionen mit 2,88 CO2-Gigatonnen viel geringer als die des größten (China mit 10,6 Gigatonnen) und des zweitgrößten Verursachers (Vereinigte Staaten mit 5 Gigatonnen). Auch hat Indien in der Vergangenheit nicht viel zu den Treibhausgasemissionen beigetragen – von 1870 bis 2019 beliefen sich seine Emissionen auf kleine 4 Prozent der weltweiten Gesamtemissionen.
Aufgrund dieser Bilanz haben Indien und mehrere andere sogenannte Entwicklungsländer argumentiert, dass für sie keine strikten Kontrollen der Kohlenstoffemissionen gelten sollten, da sie die Deckung des grundlegenden Energiebedarfs ihrer Bevölkerung sicherstellen müssen. Zudem argumentieren Umweltschützer:innen aus dem globalen Süden bereits seit langem, dass die Menschen, die am wenigsten zum Problem der globalen Erwärmung beigetragen haben, nicht die Kosten dafür tragen sollten. Außerdem sind sie der Meinung, dass die jahrhundertelange Kolonisierung und Ressourcenentnahme dazu geführt haben, dass Menschen anfälliger für steigende Temperaturen sind und weniger Möglichkeiten haben, sich an die wachsenden Gefahren des Klimawandels anzupassen. Sie haben darauf bestanden, dass die reicheren Länder mit weitaus höheren Kohlenstoffemissionen pro Kopf zuerst die größten Abstriche machen müssten.
Ihr Standpunkt wird durch den im August 2021 veröffentlichten Bericht des IPCC gestützt, in dem die tiefgreifenden Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die den Umgang mit dem Klimawandel in der Welt kennzeichnen, hervorgehoben werden. Darin wird ermittelt, wie viel mehr CO2 weltweit in die Atmosphäre abgegeben werden kann, ohne dass die Erderwärmung auf über 1,5 Grad ansteigt. Es wird geschätzt, dass es seit Anfang 2020 nur noch 400 Milliarden Tonnen CO2 sind. Derzeit belaufen sich die weltweiten CO2-Emissionen auf etwa 36 Milliarden Tonnen pro Jahr, so dass das globale Kohlenstoffbudget für 1,5 Grad voraussichtlich Ende 2030 erschöpft sein wird.
Angesichts enormer Unterschiede zwischen reichen und armen Ländern wird das gesamte Kohlenstoffbudget der Welt voraussichtlich hauptsächlich von reichen Ländern verbraucht werden. Für ein Land mit hoher Umweltverschmutzung wie Großbritannien mit 10 Tonnen CO2-Emissionen pro Kopf und Jahr wird das Kohlenstoffbudget Ende 2024 erschöpft sein, heißt es in dem Bericht.
Diese auf der Makroebene existierende Ungleichheit wirkt sich vor Ort und im täglichen Leben auf die Fähigkeit oder Unfähigkeit aus, die verheerenden Folgen der globalen Erwärmung zu überleben. Das wirksamste Mittel, um in Ländern wie Indien oder Pakistan mit Hitzewellen umzugehen, sind beispielsweise Klimaanlagen. Die am stärksten gefährdeten Menschen besitzen aber in der Regel keine Klimaanlagen oder haben nicht das Geld, um den Strom für deren Betrieb zu bezahlen. In Indien kosten Klimaanlagen im Durchschnitt zwischen 260 und 500 Dollar, und nur 8 Prozent der indischen Haushalte besitzen sie.
Einerseits werden Länder wie Indien aufgefordert, ihre Kohlenstoffemissionen drastisch zu reduzieren, andererseits gibt es keinen globalen Mechanismus, der ihnen die Mittel zur Verfügung stellt, um ihre Bürger:innen vor den katastrophalen Folgen des Klimawandels zu bewahren. Die USA, Großbritannien und Australien auf eine Stufe mit Entwicklungsländern in Asien, Afrika und Lateinamerika zu stellen, läuft darauf hinaus, den Hauptverursacher:innen des Klimawandels einen Freifahrtschein auszustellen.
Dem IPCC-Bericht zufolge „sind die nächsten Jahre wahrscheinlich die wichtigsten in unserer Geschichte“. Wenn die Geschichte der Menschheit jedoch irgendetwas gezeigt hat, dann dass ohne die Mobilisierung zur Durchsetzung ihrer Rechte und ohne Widerstand gegen Ungleichheiten sowohl auf globaler Ebene als auch innerhalb der Länder ein Großteil der Menschheit sehr leiden wird.
Unter diesen Umständen müsste das Motto der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ um den Begriff der „Klimagerechtigkeit“ ergänzt werden.
Übersetzung: Rebecca Renz