„Wir stehen am Ground Zero einer Klimakatastrophe. Die Natur wird nicht zu dem zurückkehren, was wir für normal gehalten haben. Das hier ist die neue Normalität.“ So fasst Sherry Rehman, Ministerin für Klimawandel in Pakistan, in Worte, was im August 2022 ihr Land überspült hat: eine wirklich geworden Dystopie. Auf eine lange und extreme Dürre folgte eine Monsunzeit, wie es sie seit Beginn der Wetteraufzeichnungen nicht gegeben hat. Das Fünffache der üblichen Niederschlagsmenge fiel vom Himmel. In den flachen Provinzen im Süden sammelten sich ungeheure Wassermassen. Flüsse traten über die Ufer, Kanäle überfluteten, irgendwann stand ein Drittel des Landes unter Wasser, ein Ozean von der Größe Deutschlands, darin Unzählige, die auf Hausdächern oder Anhöhen Zuflucht gesucht haben und festsaßen, über Tage und Wochen, isoliert und auf Hilfe hoffend, oft vergeblich. Mindestens 30 Millionen Menschen verloren Zuhause und Zukunft. Ein Land ist untergegangen.
Die langjährige medico-Partnerorganisation Health and Nutrition Development Society (HANDS) hat schon bei früheren Katastrophen Nothilfe organisiert. In Erwartung kommender Desaster wurden, so erzählt es Mitarbeiter Mustafa Zaor, neun neue Katastrophenschutzzentren angelegt. Doch inmitten der Fluten war der Mangel eklatant. Zaor: „Es fehlt an allem, an Nahrung, Booten, Werkzeugen. Das Wasser ist verdreckt, Durchfall breitet sich aus. Milliarden von Mücken bringen Malaria und Denguefieber. Die Kluft zwischen dem, was getan werden müsste, und dem, was getan werden kann, ist einfach zu groß: für uns und andere NGOs, für den Staat, für das Militär. Wer das nicht versteht, hat die Dimension der Krise nicht verstanden.“ Neben der unmittelbaren Not sind die mittel- und langfristigen Folgen verheerend. Die Ernte wurde vernichtet. Eine Ernährungskrise ist vorprogrammiert, zumal auch keine Aussaat möglich war. Thomas Rudhof-Seibert von medico, der sich vor Ort selbst ein Bild von der Lage machen konnte, nennt weitere Punkte: „Der Aufbau auch nur des Allernötigsten wird Unsummen kosten – Geld, das der pakistanische Staat nicht hat.“ Hinzu komme mit neuer Brisanz die Frage, welcher Wiederaufbau und ob Wiederaufbau überhaupt noch sinnvoll ist, wenn das Desaster im Zuge der fortschreitenden Klimaveränderung das Land absehbar wieder, häufiger und heftiger heimsuchen wird. Die Flut markiert einen Kipppunkt.
Land unter – Augen zu
Was sich im Süden Pakistans im August und September 2022 zugetragen hat, ist vermutlich die bislang größte vom Menschen versursachte Klimakatastrophe. Sie hätte ein Weckruf sein können. Das hoffte auch UN-Generalsekretär António Guterres: „Lasst uns aufhören mit dem Schlafwandeln. Heute ist es Pakistan. Morgen könnte es euer Land sein.“ Wie aber ist das Desaster im Westen und hierzulande wahrgenommen worden: Welche Bilder kamen vor Augen, welche Empathie lösten sie aus? Sind die Eindrücke noch präsent, längst verblasst oder niemals wirklich angekommen? Der Medienwissenschaftler Patrick Merziger betont, dass ein Ereignis selbst nicht hinreichend ist, um als Katastrophe wahrgenommen zu werden. „Es liegt an der Politik , Hilfsorganisationen und vor allem an der medialen Darstellung, welche Krisen wie sichtbar und kommuniziert werden. Sie können aus nichts eine Katastrophe konstruieren, aber auch eine tatsächliche Katastrophe ausblenden.“
Hinsichtlich Pakistan ist ein Blick auf die Berichterstattung der Tagesschau aufschlussreich. Am 26. August zeigte sie erstmals Bilder aus Pakistan, nicht als Topmeldung, ab Minute elf, gefolgt von Sport und Wetter. An den beiden nächsten Tag waren die Überschwemmungen kein Thema, tags drauf abermals kurz. Anfang September rief die Tagesschau unter dem Verwendungszweck „Flut in Südasien“ zu Spenden an das Bündnis Entwicklung hilft (BEH) auf. Dann starb die englische Königin und Pakistan war endgültig von den Bildschirmen verschwunden.
Die Tagesschau war kein Einzelfall. Das bestätigt Andrea Böhm, erfahrene Auslandskorrespondentin und Journalistin: „In der ZEIT hatten wir zu Beginn einen guten Artikel zur Dimension der Katastrophe. Dann tauchte sie aber bei uns wie den allermeisten anderen Medien nicht mehr wirklich auf dem Radar auf.“ Wenn die Medien nicht berichten, bleibt eine Katastrophe unsichtbar. Sichtbar zu werden ist aber eine Voraussetzung, damit das Leid anderswo wahrgenommen werden und Solidarität auslösen kann. Konkrete Folge: Die in der ARD ausgestrahlten Aufrufe zu Spenden an das BEH brachten bis Ende Oktober 2022 rund 700.000 Euro ein. Wie wenig das ist, zeigt ein Vergleich. So wurden im Zuge massiver Überschwemmungen in Pakistan im Jahr 2010 über 29 Millionen Euro an das BEH gespendet, also rund 40-mal so viel.
Mehr Sport als Süden
Als Pakistan unter Wasser stand, bannte der Blick auf die Ukraine die Aufmerksamkeit, brodelte es im Iran und auf Haiti, verwüstete ein Hurrikan Florida, drohte eine Hungerkrise in Ostafrika ... und hierzulande fürchtete man teure Heizkosten. Ist die Krisenfrequenz inzwischen zu hoch, um jedes einzelne Unglück noch angemessen wahrnehmen zu können? Oder war das nie anders? Tatsächlich gibt es unzählige Krisen und Nöte, die in der hiesigen Berichterstattung nicht vorkommen. Wie selektiv der mediale Blick auf die Welt ist und wie massiv der Globale Süden dabei ausgeblendet wird, belegten 2022 zwei Studien: Laut einer von Ladislaus Ludescher erstellten Medienanalyse räumte etwa die Tagesschau in der ersten Jahreshälfte 2022 dem Sport insgesamt mehr Sendezeit ein als allen Staaten des Globalen Südens zusammen. Eine Studie der Otto Brenner Stiftung belegte die Priorisierung und Hierarchisierung im deutschen Auslandsjournalismus. Eine der Zahlen: Während in den letzten zehn Jahren in 23 deutschen Zeitungen über acht Staaten mehr als 100.000 Mal berichtet wurde, wurden 34 Staaten weniger als 50 Mal erwähnt. Nach Meinung des Autors Marc Engelhardt hat das vor allem strukturelle Ursachen innerhalb der Medien. Da ist der Spardruck in Redaktionen. Da sind geschrumpfte Budgets, weniger Sendeplätze und stark ausgedünnte Netzwerke von Korrespondent:innen. All das führe zu einem „Verblassen der Welt“.
Auch die Journalistin Andrea Böhm kritisiert die gekappten Ressourcen in den Medienhäusern. Doch sie sagt auch: „Es gibt immer noch die Vorstellung, wir selbst müssten überall sein oder hinfahren, um angemessen berichten zu können.“ Westliche Medien könnten zum Beispiel viel stärker auf Kooperationen mit Journalist:innen im Globalen Süden setzen. Mit Blick auf die Flut in Pakistan sagt sie aber auch: „Es gibt leider auch eine schrumpfende Bereitschaft, sich mit den Krisen im Globalen Süden auseinanderzusetzen – zumal dann, wenn wir diese Krisen mit verursacht haben.“
Übersehen oder wegsehen
Genau diesen Punkt macht auch Patrick Merziger stark: Über Katastrophen werde hierzulande dann gerne berichtet, wenn man sie als Ereignis darstellen kann, für das entweder niemand oder fremde Mächte verantwortlich sind. Wichtig sei die „eigene Unschuld“, von der „wir dann als diejenigen konstruiert werden, die helfen und Leid lindern“. Bei Pakistan habe das nicht funktioniert – paradoxerweise gerade weil die Medien sie mit der Klimakrise und damit implizit mit der imperialen Lebensweise verbunden haben.
Wenn Bilder der Not hierzulande deshalb „nicht durchdringen“, weil sie an den fossilen Raubbau als Grundlage des westlichen Wohlstandes erinnern, ist das mehr als ein „Nichthinsehen“ oder „Übersehen“. Dann geht es um ein aktives Wegsehen, Verdrängen und Abspalten. So nennt es Anne Jung von medico in einem Leitartikel des rundschreibens 3/2022: „Die Flut in Pakistan markiert einen weiteren Schritt in Richtung einer Welt, in der unbewohnbare Zonen entstehen, die von den Inseln des Wohlstands nicht nur ausgeschlossen, sondern abgespalten werden. Aus den Augen, aus dem Sinn – und damit heraus aus dem eigenen Verantwortungsbereich.“
Doch keineswegs jede mit der Klimakrise in Zusammenhang stehende Katastrophe wird abgewehrt – siehe die umfassende Berichterstattung und große Anteilnahme nach dem Hochwasser im Ahrtal 2021 oder auch nach den Fluten in der Emilia-Romagna im Frühjahr 2023. Es kommt noch etwas anderes hinzu – eine Aufteilung der Welt in Zentrum und Peripherie. Warum der Westen vor den Verheerungen in Pakistan die Augen verschlossen hat? Der Philosophin Eva von Redecker zufolge musste er das gar nicht mehr tun, denn: „Die Augen sind längst zu“. Es gebe gelernte Formen der Blindheit. „In unserer kapitalistischen Lebensweise sind Differenzen und bis zur Entmenschlichung reichende Hierarchisierung eingezogen.“ So seien manche Weltregionen und Bevölkerungsgruppen als gescheiterte bzw. scheiternde abgestempelt und damit abgeschrieben. Der Rechtfertigung dienten rassistische Stereotype: „Vielleicht sind diese Länder ja auch selbst schuld, weil das Land schlecht organisiert und korrupt ist, muslimisch, generell rückständig.“ In einem neoliberalen Regime werde denen, die scheitern, noch nachträglich das Anrecht abgesprochen, gleich zu sein. Redecker: „Wenn ihnen ein solches Unglück widerfährt, bestätigt das nur ein Weltbild, dass sie eben die Späne sind, die fallen.“
Hilfe? Reparationen!
Perspektivwechsel. Was tun, wenn das eigene Land untergeht und die Welt nicht einmal hinsehen will? Wie Aufmerksamkeit erlangen? Die pakistanische Katastrophe hat auch einen neuen, bitterscharfen Ton in die Frage von Hilfe, Krisenbewältigung und Verantwortlichkeit gebracht. So schrieb die pakistanische Schriftstellerin Fatima Bhutto im Guardian: „Vergessen Sie die Solidarität: Der Globale Süden wird dieses Jahrhundert ohne Klimagerechtigkeit nicht überleben. Ihr im Westen redet über Papierstrohhalme, wir im Globalen Süden reden über Reparationen. Unsere Länder und unsere Leben sind für die ganze Welt entbehrlich. Wir haben das schon immer gewusst, aber jetzt kochen wir vor Wut. Was soll man auch anderes empfinden, wenn nach dem Brand der Kathedrale von Notre Dame im Jahr 2021 innerhalb von eineinhalb Tagen 880 Millionen Dollar aufgebracht wurden, aber ein ganzes Land mit ertrinkenden Armen um Klimahilfe und Unterstützung betteln muss?“
Bhutto bittet nicht um Hilfe und hofft nicht mehr auf Empathie. Sie klagt ein – Aufmerksamkeit und Rechenschaft, getreu dem Prinzip: Wer Schaden verursacht, muss zahlen. Das fordert auch die Regierung in Islamabad, mit Nachdruck und zu Recht, wie Thomas Rudhof-Seibert meint: „Die Regierung hat gesagt, die Zerstörungen, die wir erleben, sind Ausdruck der Klimakrise, von der alle reden. Wir sind für diese Klimakrise nicht verantwortlich, aber in einem unerhörten Ausmaß von ihr betroffen. Und deswegen wollen wir weder Hilfe noch freiwillige Wohltaten. Wir wollen, dass ihr für die Schäden zahlt, für die ihr verantwortlich seid. Deshalb fordern wir Reparationszahlungen – seitens der USA, seitens der EU, seitens der Länder, die tatsächlich für die Klimakrise verantwortlich sind, und zwar im vollen Ausmaß dessen, was uns widerfahren ist.“
Verantwortung einklagbar machen
Pakistan ist eines der rund 70 hochverschuldeten Länder des Globalen Südens. Aber wer schuldet eigentlich wem was? Neu ist die Debatte über Ausgleichszahlungen reicher Industrienationen für Verluste und Schäden im Kontext des Klimawandels nicht. In den vergangenen zwei Jahren aber hat sie an Schub gewonnen. Nicht zuletzt aufgrund der pakistanischen Erfahrung gelang es, das Thema beim 27. Weltklimagipfel im ägyptischen Scharm El-Scheich Ende 2022 mit Nachdruck auf die Agenda zu setzen. Alle haben darüber gesprochen und mussten es tun, auch die USA und die EU. Und doch haben nicht alle über das Gleiche gesprochen. Tatsächlich stehen unterschiedliche Modelle von Wiedergutmachung, Schadensersatz oder Reparationen im Raum. Wer muss wann wofür zahlen und wie viel? Freiwillig oder verpflichtend? Geht es um Kredite, Zuschüsse oder Ansprüche? So unklar ist der Klimagipfel denn auch zu Ende gegangen – mit der Vereinbarung, dass es irgendwann einen Fonds geben soll, in dem manche irgendwann irgendwas einzahlen sollen.
Erneut haben die reichen Industrieländer eine zentrale Forderung aus dem Globalen Süden zwar aufgegriffen, dabei aber neutralisiert und auf die lange Bank geschoben. So wird wieder etwas zum Verschwinden gebracht. Der Weg multilateraler Verhandlungen ist lang, unbestimmt und dominiert von jenen, die geben sollen, aber nicht wollen. Lässt sich Klimagerechtigkeit und das Recht auf Reparationen dann vor internationalen Gerichten einklagen? Eben diese Option prüft auch medico, zusammen mit Partner:innen in Deutschland und Pakistan. Thomas Rudhof-Seibert: „Wir verfolgen damit ein doppeltes Anliegen. Zum einen wollen wir wissen, was passiert, wenn ein internationales Gericht die Reparationsforderungen der pakistanischen Regierung als völkerrechtlich legitim ansieht und sich ein Horizont einklagbarer Haftung für Klimaschäden öffnet. Zum anderen wollen wir auf diese Art und Weise erreichen, was den Menschen in Pakistan und uns allen ganz grundsätzlich verweigert wird: Kenntnis zu erhalten.“ Auch auf dem juristischen Weg geht es also um Wahrnehmung, Sichtbarkeit, eine Änderung der Verhältnisse; darum, nicht unterzugehen im Strudel globaler Ungerechtigkeiten.
Dieser Text basiert auf Folge 9 des medico-Podcasts Global Trouble, „Pakistan – ein Land verschwindet“, bearbeitet und gekürzt von Christian Sälzer.
Zuletzt unterstützten wir die pakistanischen Partnerorganisationen zum größten Teil mit Nothilfe infolge der Flut. Außerdem fördern wir in Pakistan transnationale Bewegungen zu Klimagerechtigkeit.