Kommentar

Politik der Verweigerung

27.09.2022   Lesezeit: 6 min

Die Krisen der Welt drängen globale Lösungen geradezu auf. Getan wird das Gegenteil.

Von Anne Jung

Die Vorstellung einer anderen Welt, für deren Ermöglichung in den 2000er-Jahren international noch Hunderttausende protestierten, ist längst zu einer verblassten Sehnsucht geworden. Die vergangenen Jahre haben die politische Lähmung noch einmal verstärkt. Die lange Isolation durch die Corona-Pandemie und die Ängste angesichts des unhaltbaren Zustands der Welt lassen kaum einen globalen solidarischen Blick auf das Geschehen oder gar Antworten zum Umgang mit der multiplen Krise zu. Dieses Vakuum wird von der Bundesregierung gefüllt mit einer Krisenbewältigung, die weiter spaltet und suggeriert, es werde irgendwie schon bald wieder gut. Raum für kollektive Ansätze lässt das nicht.

Beginnen wir mit der Energiekrise. Eine Übergewinnsteuer ist möglich. Während hierzulande keine Mehrheit für diese Sondersteuer zustande kommt, um die sozialen Folgen der Energiekrise abzufedern, wurde sie in Spanien längst eingeführt. Mit den Mehreinnahmen sollen unter anderem die kostenlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs finanziert und die Mindestlöhne spürbar erhöht werden. Während Spanien und andere Länder der EU vormachen, wie es gehen kann, wird hierzulande eine Gasumlage eingeführt. Hier zeigt sich unverhohlen die unverantwortliche Krisenbewältigung made in Germany: Gewinne werden privatisiert und gesteigert, Risiken vergemeinschaftet. Lösungen, die zum gesellschaftlichen Ausgleich beitragen würden, sucht man vergebens. Müssen sich die Armen im Winter halt warm anziehen. Gleichzeitig versperrt der Streit um eine Übergewinnsteuer den Blick darauf, dass eine Erhöhung der Körperschaftssteuer und die Einführung einer Vermögenssteuer einen substanzielleren Beitrag leisten könnten, dem Krisengeschehen zu begegnen. Zurzeit wird viel über Rettungspakete und Entlastungen diskutiert. Nie aber taucht die Option auf, dass diese auch über den nationalen Rahmen hinausgehen müssten.

Gewinne für wenige, Risiken für den Rest

Dass die Frage nach den Eigentumsverhältnissen welthistorisch nicht zufriedenstellend beantwortet ist, ist das eine. Dass sie selbst in globalen Krisenzeiten nicht einmal gestellt wird, ist das andere und zutiefst ernüchternd. Für Unternehmen hingegen sind das großartige Bedingungen. In der Corona-Pandemie haben sie dazu geführt, dass die Gewinne der Pharmaindustrie exorbitant stiegen – allein Biontech hat im vergangenen Jahr Gewinne von zehn Milliarden Euro verbucht. Zwar wurden für die Entwicklung des Covid-Impfstoffs insgesamt acht Milliarden Euro öffentliche Gelder beigesteuert (Biontech erhielt fast 400 Millionen Euro). Vorgaben, zu welchen Preisen die Impfstoffe verkauft werden dürfen, gab es dennoch nicht. Weil auch am Patentsystem nicht gerüttelt wurde, hingen arme Länder am Tropf der Hilfe. Die Botschaft war klar und deutlich: Eure Leben zählen nicht. Das Primat des (europäischen) Nationalismus und des Kapitalismus hat sich gegen die Verteidigung der Menschenrechte durchgesetzt.

All das hat Methode – siehe die brandneue Handelsagenda der Bundesregierung. Auch sie blendet die Anliegen des Globalen Südens konsequent aus. Trotz des dramatischen Anstiegs des Welthungers in Folge verfehlter Agrarpolitik, Pandemie und Ukraine-Krieg hält Europa an der Subventionierung seiner Landwirtschaft zulasten kleinbäuerlicher Betriebe anderswo fest und verhandelt weitere Freihandelsabkommen. Unbeirrbar wird die Europe-first-Politik fortgesetzt.

Pakistan: Too big to notice?

Die tödlichen Folgen dieser Politik der Verweigerung erleben wir gerade in Pakistan. Monsunregen bisher unbekannten Ausmaßes haben etwa die Fläche Deutschlands überflutet. Millionen Menschen haben ihr Zuhause und ihre Ernte verloren, 1.500 sind bereits gestorben. Dem gerade erschienenen neuen Weltrisikobericht zufolge ist Pakistan eines der am stärksten von der Klimakrise betroffenen Länder überhaupt. Insofern ist die aktuelle Flut im wahrsten Sinne eine globale Katastrophe und Vorbotin dessen, was kommen wird. Und dennoch oder gerade deshalb wird hierzulande schon nach wenigen Tagen kaum mehr über die dortige Situation berichtet. Die Katastrophe wird ignoriert, weil sie Angst macht. Sie wird aber auch verdrängt, weil sie die Folgen unserer Lebensweise offenlegt. Die Wassermassen erinnern daran, dass ärmere Staaten seit Jahren vergeblich einen von den Hauptverursachern des Klimawandels finanzierten Fonds für Schäden und Verluste fordern, mit dem von Dürren, Fluten und Hungersnöten Betroffene unterstützt werden können. Europa und die USA haben die Einrichtung eines solchen Fonds bei der Klimakonferenz Ende 2021 abermals verhindert. „Der Globale Süden wird dieses Jahrhundert ohne Klimagerechtigkeit nicht überleben. Ihr im Westen redet über Papierstrohhalme. Wir im Globalen Süden reden über Reparationen“, fasst die pakistanische Schriftstellerin Fatima Bhutto die Prioritäten zusammen. So banal es ist: Die verfehlte Steuerdebatte könnte Ausgangspunkt für eine globale Perspektive sein. Mittel aus einer erhöhten Besteuerung von Unternehmen und großer Einkommen müssen in globale Fonds fließen, wie sie die arm gehaltenen Länder schon lange fordern.

Ist die Katastrophe zu gewaltig, um sich ihrer gewahr werden zu können? „Too big to notice?“ „Unsere Länder und unser Leben sind für die ganze Welt entbehrlich. Wir haben das schon immer gewusst, aber jetzt kochen wir vor Wut“, schreibt Fatima Bhutto. „Was soll man auch anderes empfinden, wenn ein ganzes Land mit ertrinkenden Armen um Klimahilfe und Unterstützung betteln muss?“ Die Flut in Pakistan markiert einen weiteren Schritt in Richtung einer Teilung der Welt, in der unbewohnbare Zonen entstehen, die von den reichen Inseln des Wohlstands nicht nur ausgeschlossen, sondern geradezu abgespalten werden. Im Jahr 2050 könnte einer Studie zufolge der Lebensraum von mehr als einer Milliarde Menschen auf der Welt bedroht sein.

Aus den Augen, aus dem Sinn – und damit heraus aus dem eigenen Verantwortungsbereich. In Sonntagsreden wird ein neuer Multilateralismus beschworen, aber Deutschland ist nicht bereit, sich mit den Forderungen der UNO zu befassen, global Soforthilfe zu organisieren und mit den notwendigen Maßnahmen gegen die Klimakrise vorzugehen. Nicht einmal ein Tempolimit ist durchsetzbar.

Teil der Welt werden

Pandemie, Klimakrise, Krieg. Nach einem halben Jahrhundert ist Europa erneut und unfreiwillig „Teil der Welt geworden“, wie es Radwa Khaled-Ibrahim in einem Beitrag zur Flut im Ahrtal treffend beschrieben hat. Die Klimakrise kehrt nach Hause zurück, denn hier nahm sie mit dem Entstehen der kapitalistischen Wirtschaftsweise ihren Ausgang. Von alleine, das zeigen diese Schlaglichter auf die Politik Europas und Deutschlands deutlich, wird es zu keinem radikalen Richtungswechsel kommen. Wirklich Teil der Welt zu werden, würde bedeuten, Abschied zu nehmen von der imperialen Lebensweise, die unseren Wohlstand auf Kosten der Ressourcen des Globalen Südens und der Menschenrechte um jeden Preis aufrecht zu halten versucht.

Um dieses Ziel zu erreichen, müssen Räume für politisches Denken und Handeln neu gefunden werden. Das ist ganz wörtlich zu verstehen. Denn wenn hierzulande infolge steigender Energiepreise Millionen Menschen existenzbedrohende Mehrkosten bevorstehen, brauchen sie solidarische Unterstützung und kollektive Lösungen. Das darf aber nicht um den Preis geschehen, dass die hiesige Energieversorgung durch die verstärkte Plünderung von Rohstoffen im Kongo abgesichert wird. Teil der Welt zu werden meint zu erkennen, dass die Kämpfe um Ernährungssouveränität in Somalia zusammenhängen mit der Agrarpolitik Europas. Es bedeutet, sich in Beziehung zu setzen zu Sozialprotesten in Südafrika gegen die auch dort stattfindenden Preiserhöhungen.

Ein Schuldenerlass für die ärmsten Länder ist die zentrale Voraussetzung für emanzipatorische Veränderungen: Das multiple Krisengeschehen hat zur Überschuldung von mehr als 40 Ländern geführt, die zur Abfederung des Katastrophengeschehens und teurer Energieimporte gezwungen sind, immer neue Schulden aufzunehmen. Die von medico unterstützte Debt-for-Climate-Campaign will diesen Kreislauf durchbrechen und nimmt diese Forderung aus den späten 1990er-Jahren wieder auf. Sie tut das in dem Wissen, dass die massive Verschuldung nichts weniger bedeutet als die Zukunft des Globalen Südens zu kolonisieren. Oder politisch gewendet: Entschuldung ist postkoloniale Praxis. Die unterschiedlichen Stränge in einer internationalistischen Perspektive zu verknüpfen ist bitter nötig und zugleich der beste Schutz davor, dass Sozialproteste, wie sie langsam auch hierzulande Fahrt aufnehmen, von rechten Kräften instrumentalisiert werden können. Das Gebot der Stunde heißt Weltsozialpolitik von unten.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Anne Jung (Foto: medico)

Anne Jung leitet die Öffentlichkeitsarbeit bei medico international. Die Politikwissenschaftlerin ist außerdem zuständig für das Thema Globale Gesundheit sowie Entschädigungsdebatten, internationale Handelsbeziehungen und Rohstoffe.

Twitter: @annejung_mi
Bluesky: @junganne


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