Afghanistan

Von Kabul nach Kassel

02.12.2021   Lesezeit: 7 min

Der medico-Partner Abdul Ghafoor über seine Flucht aus Kabul und die noch immer ausbleibende Hilfe der deutschen Regierung.

medico: Du warst einer der sieben Menschen, die am 17. August 2021 beim ersten Rettungsflug der Bundeswehr aus Kabul evakuiert wurden. Wie ist es dazu gekommen?

Abdul Ghafoor: Als die Taliban am 15. August die Macht in Kabul übernahmen, waren wir im Büro. Ich hatte bereits dafür gesorgt, dass ihnen keine Informationen in die Hände fallen, die Menschen gefährden würden. Gegen 11 Uhr rief mich ein Freund an und sagte: „Die Taliban sind in der Stadt, du musst das Büro verlassen.“ Schnell verbrannte ich letzte Dokumente in der Küchenspüle. Auf den Straßen herrschte großes Chaos. Ich schaffte es noch, zu Hause meinen Laptop zu holen, und bin dann bei Freunden untergetaucht. In der zweiten Nacht erfuhr ich, dass ich auf einer Evakuierungsliste stehe. Hieran hatten viele Leute mitgewirkt, darunter auch medico. Früh morgens machte ich mich auf den Weg zum Flughafen. Dort drängten sich Tausende Menschen vor dem Haupttor. Die Taliban schossen, mal in die Luft, mal in die Menge. Ein Freund lotste mich zu einem anderen Tor, das normalerweise vom US-Militär benutzt wurde. Dort traf ich zufällig zwei Bekannte, einen ehemaligen Minister und einen Journalisten vom SPIEGEL. Zusammen gelang es uns nach Stunden, auf das Flughafengelände zu kommen. Auf dem etwas abseitigen Rollfeld war gerade eine Bundeswehrmaschine gelandet. Plötzlich fielen Schüsse, das löste Chaos aus. Wir schafften es an Bord und schon hob die Maschine wieder ab – mit gerade einmal sieben Evakuierten an Bord.

Du hast in Kabul mit die Afghanistan Migrants Advice and Support Organisation (AMASO) geleitet, die Abgeschobene und Zurückgekehrte unterstützte. Was hat dich dazu bewogen, diese Organisation zu gründen?

Das hat mit meiner eigenen Geschichte zu tun. Ich hatte selbst einmal in Norwegen Asyl beantragt. 2013 wurde ich abgeschoben. Diese Erfahrung ließ mich zum Aktivisten werden. Zurück in Kabul schrieb ich meine Geschichte auf. Ich schrieb über Abschiebungen und die Art und Weise, wie Rückkehrer:innen vor Ort behandelt werden, wie sie vor dem Nichts stehen und besonders gefährdet sind, weil man sie für „verwestlicht“ hält und vermutet, dass sie leicht an Geld kommen können. Am Anfang habe ich mich mit Gleichgesinnten ehrenamtlich für Rückkehrende eingesetzt. Als sich herumsprach, was wir tun, und immer mehr Menschen unsere Hilfe in Anspruch nahmen, beschlossen wir, dass wir eine feste Adresse brauchen. So entstand AMASO.

Warst du aufgrund deiner Arbeit mit Abgeschobenen nach der Machtübernahme der Taliban besonders gefährdet?

Ich habe in den letzten sechs Jahren in Afghanistan mehrere Anschläge hautnah miterlebt. Die Lage war bedrohlich und ich musste mehrmals umziehen. Meine Arbeit aber konnte ich fortsetzen – nicht aber unter den Taliban. Ich habe ausländischen Medien Interviews gegeben und meine Meinung über die Taliban kundgetan. Ich habe mit Rückkehrer:innen aus dem Westen zusammengearbeitet und ihnen geholfen, in Kabul eine Unterkunft zu finden; darunter einige, die zum Christentum konvertiert sind, Atheist:innen waren oder auch LGBT. Unter den Taliban würde ich sicher umgebracht werden.

Du stehst in Kontakt mit Freund:innen und ehemaligen Klient:innen, die noch in Afghanistan sind. Wie ist die Situation vor Ort im Moment?

Sie wird von Tag zu Tag schlechter. Die Taliban zeigen ihr wahres Gesicht. Erst vor kurzem erhielt ich die Nachricht, dass sie vier Frauen erschossen haben, darunter eine Frauenrechtsaktivistin. Nicht irgendwo auf dem Land, sondern in Mazar-i-Sharif, einer Großstadt. Menschenrechtsaktivist:innen, Journalist:innen und ehemalige Militäroffiziere werden unter Druck gesetzt. Rückkehrer:innen schicken mir immer wieder Nachrichten und fragen, was sie tun sollen, was passieren wird und ob es für sie Evakuierungspläne gibt. Es gibt keine.

Du lebst derzeit in einer Sammelunterkunft in Kassel. Kannst du von dort aus noch irgendwas für die Menschen tun?

Auch wenn unser Büro in Kabul geschlossen ist, geht die Arbeit dort weiter. Was immer in meiner Macht steht, versuche ich zu tun, um die Kolleg:innen vor Ort zu unterstützen. Und ich setze mich unablässig dafür ein, dass sie und andere akut Gefährdete – Journalist:innen und Aktivist:innen – evakuiert werden. Gleichzeitig stelle ich Kontakte zwischen Afghan:innen her, die in verschiedenen europäischen Ländern gestrandet sind. Dabei geht es auch darum, Familien an einem Ort zusammenzubringen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte angekündigt, 10.000 Menschen ausfliegen lassen zu wollen. Und immer wieder hat die Bundesregierung den sogenannten Ortskräften Zusicherungen gemacht. Davon wurde wenig eingehalten. Was denkst du über die Politik der Bundesregierung?

Während der ersten Tage nach der Machtübernahme gab es noch eine Ausrede: Die Lage sei chaotisch und unübersichtlich. Das ist sie nicht mehr. Jetzt könnte Deutschland viel tun. Die Bundesregierung ist in der Lage, Vereinbarungen mit den Taliban zu treffen. Das will sie aber nicht. Hätte sie den nötigen Willen, könnte sie auf jeden Fall diejenigen ausfliegen, die es nach Pakistan, Iran und Usbekistan geschafft haben und dort festsitzen, einige sogar in Botschaften. Dort sind die Verfahren aber sehr bürokratisch. Die Bundesregierung könnte sie beschleunigen. Tausende Menschen sind in Gefahr, weil sie sich an die Seite der westlichen Mächte gestellt haben. Aber es rührt sich nichts oder nur wenig.

Behörden in Deutschland versuchen, Menschen, die als Ortskräfte hergekommen sind, in Asylverfahren umzulenken: Statt als Orts kraft einen sicheren Aufenthalt mit sofortiger Arbeitserlaubnis zu bekommen, sollen sie sich langwierigen Verfahren mit ungewissem Ausgang stellen. Wie sieht es bei dir aus?

Ich selbst befinde mich in dem Verfahren, das prüft, ob ich als Ortskraft anerkannt werde. Aber ich weiß von einigen, dass sie von den Behörden unter Druck gesetzt werden, Asyl zu beantragen. Ich verstehe das nicht. Diese Menschen sind bereits traumatisiert. Warum fügt man ihnen noch ein Trauma zu? Aber ob Ortskräfte oder nicht: Viele Menschen haben gute Gründe, vor den Taliban zu fliehen. Hunderte von Menschenrechtsaktivist:innen sitzen zum Beispiel in Islamabad fest. Deutschland hat bislang fast nichts getan, um ihnen zu helfen.

Was tun die Menschen, die keine Chance sehen, vom Westen unterstützt zu werden, aber auch nicht in einem von den Taliban regierten Afghanistan leben können und wollen?

Sie versuchen zu fliehen. So gehen Tausende zu Fuß in den Iran. Die Situation in den Grenzregionen gerät immer wieder außer Kontrolle. Es gab mehrere Vorfälle, bei denen Menschen erschossen wurden. Vom Iran aus wollen viele weiter in die Türkei und nach Europa. Vor ein paar Tagen versuchten 400 Menschen, auf einem Schiff nach Griechenland zu gelangen. Doch Europa ist zu einer Festung ausgebaut worden. Doch das ändert nichts: Die Menschen werden weiter ihr Leben aufs Spiel setzen, um in Sicherheit zu gelangen. Das wird nicht aufhören, im Gegenteil. In Afghanistan wächst der Hunger. Wenn man nichts zu essen hat, muss man gehen.

Du hast schon länger Kontakte nach Deutschland, unter anderem durch die Zusammenarbeit mit medico. Wie schätzt du die Rolle der deutschen Zivilgesellschaft ein?

Sie ist mobilisiert, auch in kleineren Städten. Bei einer Veranstaltung in Kassel, bei der ich als Redner auftrat, wurde Geld für in Afghanistan festsitzende Familien gesammelt. Sechzehn sind inzwischen über Islamabad nach Deutschland gekommen. Solche kleinen Erfolge sind wichtig. Ich suche den Kontakt zu Organisationen der Zivilgesellschaft. Nur Druck von unten wird die Regierung zum Handeln bewegen.

Eine persönliche Frage zum Schluss: Wie gehst du mit all dem Erlebten um?

In Deutschland habe ich mir zunächst keine Zeit genommen nachzudenken. Ich habe einfach weitergemacht, gearbeitet und Interviews gegeben. Ich wollte der Welt mitteilen, was los ist. Und ich bin täglich damit konfrontiert, dass mir Menschen aus Afghanistan schreiben, Menschen, die verzweifelt sind. Oft kann ich nichts für sie tun. Irgendwann habe ich gemerkt, wie sehr mich das alles berührt und belastet. Zum Glück habe ich gute Freund:innen. Ich habe mir eine Weile freigenommen und versucht, einiges aus meinem Kopf zu bekommen. Jetzt geht es mir besser, aber es wäre falsch zu sagen, dass nun alles in Ordnung ist. Die Ereignisse vom August haben mich und viele andere traumatisiert. Es wird noch sehr lange dauern, bis wir begreifen, dass wir nicht werden zurückkehren können. Für uns gibt es kein Afghanistan mehr.

Interview: Nele Eisbrenner und Ramona Lenz

Die Zukunft Afghanistans ist ungewiss. Wie und wo immer möglich, werden wir unseren afghanischen Partnerorganisationen weiter zur Seite stehen. Und wir streiten für das Recht der Afghan:innen, zu kommen und zu bleiben – nach dem, wie das Land und die Leute ausgeliefert wurden, allemal.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2021. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


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