Syrien

Wegschauen ist keine Politik

03.09.2019   Lesezeit: 4 min

Die Syrien-Krise eskaliert erneut, Hunderttausende fliehen. Schuld hat auch die EU, der Flüchtlingsdeal mit der Türkei muss beendet werden. Von Katja Maurer

15 Flüchtlingsboote aus der Türkei trafen letzte Woche an einem einzigen Tag auf Lesbos ein. Vielleicht ein Zufall, vielleicht aber auch ein Indikator dafür, dass die syrische Situation erneut in einer Weise eskaliert, die kein Wegschauen Europas mehr erlaubt. Denn die Türkei, in der drei Millionen Flüchtlinge aus Syrien leben, steht unter enormen Druck angesichts der Eskalation in der syrischen Provinz Idlib, die sich noch nicht unter der Herrschaft Assads befindet. Vor wenigen Tagen machten sich rund tausend Menschen, darunter auch von der Türkei einst unterstützte Dschihad-Gefolgsleute auf zur Grenze und forderten Einlass. Sie wurden mit Gummigeschossen und Tränengas abgewehrt. Die Dschihadist*innen werden von allen Seiten in Idlib angegriffen, zuletzt haben auch die USA 40 von ihnen getötet und damit Assad und Russland einen Freifahrtschein dafür ausgestellt, dass man mit der Begründung der „Terrorbekämpfung“ alles darf.

Jenseits des Vorstellungsvermögens

Was das „Alles“ ist, erleben die Menschen in Idlib ein einer neuen Qualität. Schätzungsweise 500.000 Menschen sind dort auf der Flucht vor Bombardierung und Regimeterror und können nirgendwohin. Denn die türkische Grenze ist dicht und in das Assad-Territorium wollen die Menschen nicht. Lieber campieren sie ungeschützt unter Bäumen auf Feldern, wie die Kolleg*innen von adopt a revolution berichten. In von ihnen zusammengetragenen Interviews aus Idlib erzählen die Menschen von einer ständigen russischen Drohnenüberwachung, weshalb sie versuchen sich unsichtbar zu machen, ohne Licht Auto fahren, in den Häusern im Dunkeln leben. Denn nach den Drohnen kommen in der Regel die Bomben.

Diese Form von Schutzlosigkeit übersteigt das Vorstellungsvermögen: Eine ganze Provinz mit drei Millionen Menschen ist vollkommen eingeschlossen – ohne Fluchtpunkt und sei es auch nur ein Bunker. Einzig die Familien der Eingeschlossenen, die in die Türkei fliehen konnten, sind in heller Aufregung. Über Telefon und Internet sind sie in Verbindung mit ihren Angehörigen. Unsere Kollegin Huda Khayti lebt in Idlib. Als ich sie vor wenigen Wochen via Skype interviewte, mit Kriegsgeräuschen im Hintergrund, berichtete sie, dass ihre Verwandten in der Türkei fast minütlich voller Sorge anriefen, sobald sie von einem Angriff auf die Gegend wüssten, in der sie sich gerade aufhalte. Während die EU-Politik wegschaut, wissen die Syrer*innen, egal wo sie sind, sehr genau, welchen Gefahren ihre Angehörigen ausgesetzt sind. Für sie ist die Situation in Idlib keine humanitäre Katastrophe, von denen es so viele gibt, sondern persönliches Leid, das untröstlich ist.

Abschottung als Treiber der Eskalation

Für den Rest Europas ist die syrische Situation, sei es in Idlib, in Afrin oder im kurdischen Nordsyrien ein Problem unter vielen in einer unübersichtlichen Welt. Und das genau ist falsch. Denn die europäische Abschottungspolitik ist mittlerweile ein entscheidender Treiber in der Verschärfung der Situation vor Ort. Warum? Weil Europa auf Flüchtlingsabwehr und auf Rückführungsoptionen setzt, können Assad und Russland gegen jedes Völkerrecht die Zivilbevölkerung angreifen. Sie wissen, dass deutsche oder EU-Politiker*innen nichts unternehmen werden, um das Leid zu thematisieren und dann entsprechend handeln zu müssen.

Auch die Türkei hat freie Hand. Gerade hat sie wieder mit dem Einmarsch im kurdischen Nordsyrien und der Einnahme der Städte wie Kobanê gedroht. Das kann jederzeit passieren, weil die Erdoğan-Regierung unter politischem und ökonomischem Druck steht und das antikurdische Ressentiment in solchen Momenten gern bedient, ohne nennenswerte Reaktion fürchten zu müssen. Man denke nur an die kürzlich erfolgte Absetzung der Bürgermeister dreier kurdischer Städte, die Ansiedlung von syrischen Flüchtlingen in Afrin oder in den Vierteln der kurdischen Städte in der Südosttürkei, die das Militär zuvor zerstört hatte. Ethnische Vertreibung und Umsiedlung? Alles möglich, alles erlaubt. Hauptsache es kommen keine Flüchtlinge nach Europa. Die Situation in Idlib nicht nur hinzunehmen, sondern durch die Abschottung zu verschärfen, ist noch eine Stellschraube weiter gedreht.

Europa, nimm die Menschen auf!

Was folgt daraus? In der Verwicklung in und um Syrien gibt es sicher keinen Befreiungsschlag, der den gordischen Knoten sprengt. Aber wenn sich die EU nicht vom Paradigma der Flüchtlingsabwehr verabschiedet, wird sie zur Verschärfung der Lage beitragen. Würde die EU beträchtliche Flüchtlingskontingente aus der Türkei, dem Libanon, ja und auch Idlib, aufzunehmen, mit all den Risiken, die das haben mag, wäre dies ein Zeichen für den Willen zu einer friedensstiftende Politik. Politisch sind die Alternativen heute klar definiert: Teilen oder Schießen. Das Paradigma der Flüchtlingsabwehr, verkörpert unter anderem im EU-Türkei-Deal, ist das Programm zum Schießen. Friedenspolitik heute, und nichts anderes braucht Idlib, würde bedeuten, das Wir so groß wie möglich zu machen. Um die Soziologin Sabine Hark zu zitieren: „Das Koexistieren mit dem anderen erlernen und uns einsetzen für das ausnahmslose Recht aller, ein lebbares von Zwang und Gewalt befreites Leben mit anderen zu führen“. Im Falle von Idlib bedeutet dies, den EU-Türkei-Deal zu beerdigen und den vor dem Krieg fliehenden Menschen Aufnahme in der Türkei und in Europa zu ermöglichen.

Katja Maurer

Katja Maurer leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international und die Rundschreiben-Redaktion. Heute bloggt sie regelmäßig auf der medico-Website.


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