Das Interview

Wer dort war, ist entsetzt

23.05.2024   Lesezeit: 9 min

Die Westbank und wir: Gespräch mit Nathan Thrall, Pulitzer-Preisträger 2024

medico: Sie haben für Ihr Buch „Ein Tag im Leben von Abed Salama“ gerade den renommierten Pulitzer-Preis gewonnen. Kurz vorher hat der Frankfurter Club, in dem Sie das Buch eigentlich vorstellen sollten, die Veranstaltung ohne Begründung abgesagt. Was sagen Sie zu Ihrer deutschen Erfahrung?

Nathan Thrall: Mich hat tief beeindruckt, wie sehr Deutschland bereit ist, das Grundrecht der Redefreiheit einzuschränken, um Israel vor Kritik zu schützen. Ich war ziemlich schockiert, dass meine Veranstaltung in Frankfurt ohne irgendeine Erklärung abgesagt wurde, und zwar von Leuten, die keine substanziellen Einwände vorbringen konnten und ohnehin mein Buch nicht gelesen hatten. Es ging um eine Buchpräsentation, ein Gespräch. Mich überrascht, dass eine solche Veranstaltung in einer demokratischen Gesellschaft nicht stattfinden darf.

Gibt es einen Unterschied zwischen der gegenwärtigen Debattenkultur in den USA und Deutschland?

Die Debatte in den USA lässt ein viel breiteres Meinungsspektrum zu. Nichtsdestotrotz verzeichnen auch wir eine viel zu hohe Zahl an Sprech- und Auftrittsverboten, wenn es um Kritik an Israel geht. Ich habe das selbst im letzten Herbst erlebt, als ich an die Universität von Arkansas eingeladen wurde und vorab unterschreiben sollte, dass ich keine Boykottforderung gegen Israel unterstütze. Das zu unterschreiben, sei ein Staatsgesetz. Auch die USA geben also kein rosiges Bild ab. Trotzdem ist bei uns die Debatte viel breiter als in Deutschland, die sehr starken Restriktionen unterliegt.

Liegt das auch daran, dass die jüdischen Gemeinden in den USA viel diverser sind als in Deutschland?

Das ist sicher entscheidend. Die jüdische Community in den USA repräsentiert ein breiteres Meinungsspektrum. Und die jüdische Linke ist viel stärker, sie kann nicht ohne Weiteres zum Schweigen gebracht werden. Auch die palästinensische Community in den USA spricht mit einer starken Stimme. Jetzt kommen noch die Studierenden-Proteste hinzu. Es gibt eine Massenmobilisierung für Palästina in den USA. Vor diesem Krieg hätte man sich das nicht vorstellen können.

Zu Ihrem Buch: Ausgangspunkt Ihres Romans über die Situation in der Westbank ist ein tragischer, aber stinknormaler Busunfall. Warum haben Sie sich dafür interessiert, statt für die Themen, die die Schlagzeilen bestimmen, wenn es um Israel und Palästina geht?

Die Idee zu diesem Buch hatte ich aus einer starken Frustration heraus. Denn es gibt für Israel/Palästina nur dann weltweite Aufmerksamkeit, wenn es mal wieder zu schrecklicher Gewalt kommt. Angesichts der Gewalt ruft die ganze Welt sofort nach der Wiederherstellung der Ruhe. Ich aber wollte zeigen, wie diese vermaledeite Ruhe für die palästinensische Bevölkerung aussieht. Ihre Situation hat mit „Ruhe“ nichts zu tun. Das Leben der palästinensischen Bevölkerung ist von einem extrem ungerechten und unterdrückerischen System von Kontrolle geprägt, das immer wieder neue Runden von Blutvergießen hervorrufen wird, solange es nicht verändert wird.

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Ich erzähle im Buch die Geschichte eines Busunglücks, bei dem Kindergartenkinder aus dem Großraum Jerusalem zu Schaden kamen. Ich lebe in Jerusalem. Diese Kinder und ihre Familien leben zwei Kilometer entfernt von mir. Auf der anderen Seite einer fast acht Meter hohen Betonmauer. Sie leben auf engstem Raum in einer Gemeinde mit 130.000 Einwohner:innen, die willentlich vernachlässigt wird. Die Betonmauer umgibt die Gemeinde auf drei Seiten. Die vierte Seite bildet eine Straße: Auf der einen Seite dürfen nur Israelis fahren, auf der anderen, durch eine hohe Mauer abgetrennten Seite die Palästinenser:innen. Man nennt sie gemeinhin die „Apartheidstraße“. Diese Gemeinde ist also komplett von einer Mauer umgeben und durch einen Checkpoint geht es für all jene nach Jerusalem, die über eine entsprechende Erlaubnis verfügen. Am anderen Ende der Stadt gibt es einen weiteren Übergang, den alle benutzen dürfen. Mit diesen zwei Checkpoints kann man die ganze Siedlung abschließen. Es braucht dafür vier Soldat:innen.

…und dort spielt die Geschichte Ihres Buches?

Die Geschichte spielt in der Gemeinde Anata, zu der auch das Flüchtlingslager Shu`afat gehört. Ein Teil von Anata wurde 1967 annektiert, aber man muss Expert:innenwissen haben, um zu erkennen, wo es sich um palästinensisches und wo es sich um von Israel annektiertes Gebiet handelt. Die im annektierten Gebiet lebenden Bewohner:innen zahlen Steuern an den israelischen Staat. Aber sie bekommen kaum staatliche oder städtische Dienstleistungen, eine israelische Ambulanz kommt nur mit militärischem Begleitschutz hierher.

Die Menschen und ihre Kinder haben weder Spielplätze noch Bürgersteige, die meisten Straßen sind seit Jahrzehnten nicht repariert worden. Die Hauptstraße ist so eng, dass ich meinen Seitenspiegel einklappen muss, wenn mir ein Bus entgegenkommt. Es fehlen öffentliche Schulen. Wenn man den richtigen Personalausweis hat, kann man seine Kinder in eine Schule nach Ostjerusalem schicken. Allerdings müssen sie dann täglich den Checkpoint passieren. Oder man schickt sie auf eine private Schule im nicht annektierten Teil der Stadt.

Und an dieser Schule beginnt die Geschichte. Wenn diese Kinder auf einen Spielplatz wollen, müssen sie mit einem Bus über kurvenreiche Straßen in die Außenbezirke von Ramallah fahren. Bei einem dieser Ausflüge ereignete sich der Unfall, bei dem fünf Kinder sowie eine Lehrerin ums Leben kamen. Was dieser Unfall und seine tragischen Folgen mit dem System der Besatzung zu tun haben, schildere ich in meinem Buch.

Auch die kafkaeske Bürokratie, die mit der Besatzung einhergeht, ist Gegenstand Ihres Buches. Warum ist es wichtig, so tief in diese Form der Kontrolle einzudringen?

Es ist wichtig, das zu verstehen, weil es sich um eine moralische Katastrophe handelt, die jeder und jede nach einem halben Tag in der Westbank sehen und verstehen kann. Wer dort war, ist entsetzt. Denn das Kontrollsystem ist ganz offensichtlich. Dieses System existiert seit mehr als einem halben Jahrhundert und wird von Europa und den Vereinigten Staaten gebilligt und unterstützt. Die Bevölkerungen von Europa und den Vereinigten Staaten sind Kompliz:innen dabei, ein System zu erhalten, das sie, wenn sie es mit eigenen Augen kennenlernen würden, auf keinen Fall akzeptieren würden.

Der einzige Weg, dass Menschen, die nicht vor Ort sind, verstehen, was dort passiert, besteht darin, ihnen am Beispiel einzelner Schicksale die Lebensumstände, die durch dieses System geprägt sind, näherzubringen. Man muss verstehen, wie dieses System selbst intimste Bereiche des alltäglichen Lebens prägt.

Sie haben sehr häufig Gaza besucht und teilweise auch dort gelebt. Was ist der Unterschied zwischen der weitverbreiteten Wahrnehmung von Gaza als islamistischer Stützpunkt und Ihrer Erfahrung vom Leben dort?

Die öffentliche Wahrnehmung in unseren Ländern von Gaza als einem Ort, der von Hass und kriegerischer Gewalt geprägt ist, ist vollkommen verkehrt. Die meisten der 2,3 Millionen Bewohner:innen sind ganz normale Menschen, die ihr alltägliches Leben in einer von Zäunen und Mauern umgebenen Enklave leben. Nur sehr wenige von ihnen können ihr entfliehen. Ich habe viele Berichte über Gaza für die International Crisis Group geschrieben und war deshalb häufig dort.

Mir ist vor allen Dingen die Wärme in Erinnerung, mit der die Menschen mich empfangen haben. Sie waren glücklich, über mich in Kontakt mit der Welt draußen zu kommen. Sie sind isoliert und wollen deshalb unbedingt eine Ahnung davon bekommen, wie das Leben außerhalb des Käfigs aussieht, in dem sie leben.

Zudem ist Gaza das urbane palästinensische Zentrum. 70 Prozent der Bevölkerung sind palästinensische Flüchtlinge von 1948. Gaza hat deshalb eine ganz andere, viel dynamischere Gesellschaftsstruktur als eine Stadt in der Westbank, in der traditionelle Familienbindungen noch sehr stark sind.

Was wird passieren, wenn die „Ruhe“ in Gaza wiederhergestellt ist?

Die Zukunft für Gaza sieht düster aus. Es wird viele Jahre dauern, bis die Infrastruktur wiederhergestellt und der Schutt beseitigt ist. Es gibt so viele intern vertriebene Menschen ohne Wohnraum, keine Regierungsstrukturen und eine riesige Unsicherheit. Das alles wird viele Jahre anhalten.

Sie sagten bei der Buchvorstellung im medico-Haus, dass Sie die Debatten um eine Lösung des Konflikts ablehnen. Warum?

Sie lenken ab von der Wirklichkeit vor Ort. Alle diese Vorschläge – Zwei-Staaten-Lösung, Ein-Staaten-Lösung, Konföderation – sind weit davon entfernt, realisiert zu werden. Wir bewegen uns keinen Millimeter in diese Richtung. Stattdessen läuft alles auf eine weitere Landnahme Israels hinaus. Es findet eine Absorption der Siedlungen im Westjordanland in das israelische Kerngebiet statt und eine immer weitere Verschärfung der Restriktionen gegen Palästinenser:innen in den Enklaven der Westbank und im Gazastreifen.

Die Debatte um mögliche Lösungen wird von Menschen geführt, die eigentlich den Status quo erhalten wollen. Die ganze Welt diskutiert über Lösungsvorschläge, während Israel in Zeitlupe die Westbank übernimmt. Der Friedensprozess, von dem alle reden, ist wie eine Karotte, die man einem Esel vor die Nase hält, damit er weitertrottet. Er wird niemals die Karotte essen dürfen.

Vor dem schrecklichen Hamas-Angriff vom 7. Oktober und der Kriegsantwort Israels schien die Welt die dauerhafte Unterdrückung der Palästinenser:innen hinzunehmen. Nun liegt die Palästina-Frage wieder auf dem Tisch. Ist eine Rückkehr zur „Ruhe“ angesichts der vergangenen Monate noch vorstellbar?

Sie fragen, ob die Welt weiterhin die über 50-jährige Besatzung in der Westbank und die Blockade von Gaza akzeptiert? Davon gehe ich aus. Nach all den Kriegen in Gaza ist man immer wieder zu diesem Status quo zurückgekehrt. Der Krieg endet und die sogenannte Ruhe wird wieder hergestellt. Das ist das wahrscheinlichste Szenario. Diese Ruhe wird von den führenden Menschenrechtsorganisationen der Welt sowie in Israel und Palästina als Apartheid bezeichnet.

Dieses System wird bleiben und die Welt wird sehr wenig unternehmen, um es zu ändern. Um das zu ändern, bräuchte es eine Revolution. Wenn selbst heute, da Millionen Menschen gegen das Abschlachten in Gaza protestieren und der gegenwärtige US-Präsident aufgrund seiner Unterstützung der israelischen Regierung die Wahl verlieren könnte, nichts passiert, um das System zu ändern, dann wird es noch viel schwieriger, irgendetwas zu ändern.

Sie sind ursprünglich aus persönlichen Gründen nach Israel gekommen. Warum blieben Sie und engagieren sich seither in diesem Konflikt?

Ich fühle mich moralisch verantwortlich. Das Unterdrückungssystem wird durch meine Steuern als US-Bürger finanziert. Außerdem behauptet Israel, all das zu tun, um mich als Jude zu schützen. Aus diesem Grund fühle ich mich, ob ich will oder nicht, für diese große Ungerechtigkeit verantwortlich. Ich glaube deshalb, dass ich alles tun muss, was ich kann, um diese Grausamkeit zu beenden.

Das Interview führte Katja Maurer.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


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