Das ikonische Hauptgebäude der Weltgesundheitsorganisation (WHO) oberhalb des Genfer Sees mit Blick auf das Mont Blanc-Massiv ist seit Langem eine Großbaustelle; neue Gebäudeteile werden hier derzeit errichtet. Auch der Saal, in dem normalerweise zweimal im Jahr der Exekutivrat aus 34 rotierenden Mitgliedsstaaten tagt, muss renoviert werden. Dies ist nicht nur mühsam für die Delegierten, sondern schränkt auch die Präsenz von unabhängigen Organisationen, den „non-State actors in official relations with WHO“ (NSA), ein. Das sind Akteure wie das People’s Health Movement, Health Action International und der Geneva Global Health Hub, mit denen medico international seit vielen Jahren verbunden ist. Deren Delegationen wurden wegen des Umbaus vom WHO-Sekretariat radikal verkleinert. Auch der direkte Kontakt zu den Delegierten wurde wegen des Umbaus stark eingeschränkt. Immerhin gibt es seit der COVID-19-Pandemie die Plenarsitzungen im Livestream; die wichtigeren Verhandlungen finden natürlich weiterhin hinter verschlossenen Türen statt.
Kooperationen und „Multistakeholderismus“
Die Kooperation zwischen der 75 Jahre alten multilateralen Institution, in der die Mitgliedsstaaten das Sagen haben, und einer Zivilgesellschaft, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Gesundheitspolitik der Staaten und ihrer Weltbehörde kritisch zu kommentieren und zu beeinflussen, ist eines der Dauerthemen bei diesen Verhandlungen. Die wenigen mündlichen Interventionen der NSA, die zu den Tagesordnungspunkten möglich waren, waren schon in den vergangenen Sitzungen auf eine Minute verkürzt worden. Der jetzige Vorschlag der WHO, eine Civil Society Commission beim Sekretariat einzurichten, ist nach fünfjährigen Konsultationen immerhin ein weiterer Schritt zu einer Öffnung gegenüber denjenigen, die die WHO nicht nur kritisieren, sondern sie auch gegenüber den Versuchen der Beeinflussung durch kommerzielle und profitorientierten Interessen verteidigen.
Denn so sehr die WHO auch im 75. Jahr ihres Bestehens formal auf ihre 1948 festgeschriebene Rolle als die „führende und dirigierende Kraft“ in der globalen Gesundheitspolitik verweist und ihre Autorität aus der Mitgliedschaft nahezu aller Staaten der Welt (194 aktuell) begründet, wird diese Rolle doch seit Langem durch den Prozess des „Multistakeholderismus“ gefährdet. So wird heute gerne die moderne Form einer politischen „Governance“ genannt, die alle Interessengruppen, also die „Stakeholder“, an den Entscheidungsprozessen beteiligt, zumeist ohne grundlegende Interessenkonflikte einzubeziehen, die etwa zwischen Akteuren, deren (privaten) Interessen reguliert werden müssen, und Akteuren, die solche (öffentlichen) Regeln aufstellen sollen, bestehen.
Herausforderungen in der Pandemie
Das jüngste und sicher drastischste Beispiel eines solchen Konfliktes war das Unvermögen der Staaten bei der Welthandelsorganisation (WTO), sich auf die zeitweise Aussetzung von geistigen Eigentumsrechten für Gesundheitsprodukte zu einigen, die für die Bekämpfung von COVID-19 gebraucht wurden (Impfstoffe, Medikamente, Diagnostika, Schutzausrüstung, Medizintechnik). Dazu trug wesentlich der massive Druck der Industrie bei, die die Abhängigkeit der Welt von ihren Produkten ausspielte. Die neuesten Enthüllungen über die Preissteigerungen für mRNA-Impfstoffe für die Europäische Union im Laufe des Jahres 2021 durch Moderna und Pfizer/Biontech sowie die Ankündigungen aus den USA, nach einem „offiziellen“ Ende der Pandemie die Preise noch mal um den Faktor 4 bis 5 zu erhöhen, machen diese Machtverhältnisse nur allzu deutlich. Sie sicherten den beteiligten Firmen Gewinnmargen, die sonst vermutlich nur von staatlich finanzierter Waffenproduktion und illegalem Drogenhandel erreicht werden.
So ist es kein Zufall, dass im ersten Textentwurf für einen neuen „Pandemie-Vertrag“, der aktuell unter dem Dach der WHO ausgehandelt wird und zu dem zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteure ihre Beiträge lieferten, der Zugang zu Gesundheitsprodukten und Regulationen geistiger Eigentumsrechte im Pandemiefall eine wichtige Rolle spielen. Wie viel davon im Laufe der Verhandlungen von den Regierungen, die fest an der Seite „ihrer“ Pharma- und Medizintechnik-Unternehmen stehen (und unter denen sich die deutsche Bundesregierung besonders hervorgetan hat), wieder einkassiert wird, wird sich in den kommenden Monaten zeigen. Wichtig wird eine kritische Öffentlichkeit bleiben, die während der Pandemie zwar global mobilisiert wurde, die aber letztlich keinen entscheidenden Einfluss auf die Patent-Entscheidungen bei der WTO nehmen konnte.
Die Position und der Einfluss des WHO-Sekretariats und des aktuellen Generaldirektors (DG) Dr. Tedros als direkt gewählter Chef der Behörde ist dabei ebenso ambivalent, wie es bei anderen kontroversen Themen der globalen Gesundheit ist. Als ehemaliger Vorsitzender einer Reihe prominenter Public Private Partnerships (PPP) der globalen Gesundheit, dem Global Fund to Fight AIDS, Tuberculosis and Malaria, der Roll Back Malaria Partnership und der Partnership for Maternal, Newborn and Child Health, steht Tedros fest auf der Seite dieses Partnerschaft-Konzepts des Multistakeholderismus. Und er muss sich als oberster Fundraiser seiner Organisation mit den großen Geldgebern gutstellen: nicht nur mit den reichen Mitgliedsstaaten, die einen großen Teil des WHO-Budgets tragen, sondern auch mit den philanthropischen Stiftungen (Gates, Buffett, Rotary International), die wesentliche Teile der WHO-Arbeit durch ihre zusätzlichen Finanzierungen erst ermöglichen, dabei aber auch die eigenen Schwerpunkte fest im Blick haben und (wie die Gates-Stiftung) auch aktiv an der Steuerung der großen PPP beteiligt sind.
Zugleich ist Tedros aber auch denjenigen Regierungen des globalen Südens besonders verpflichtet, die ihn 2017 in einer erstmaligen „Kampfabstimmung“ bei der Weltgesundheitsversammlung mit hoher Symbolkraft zum ersten afrikanischen Generaldirektor gewählt hatten. Zuvor waren solche Entscheidungen im kleineren Kreis des Exekutivrates im Vorhinein abgestimmt und von der Vollversammlung nur noch faktisch bestätigt worden.
Und so wurde er während der Pandemie auch nicht müde, den faktischen Alleingang der reichen Länder bei der Beschaffung und Versorgung erst mit Masken und Tests und dann mit Impfstoffen zu kritisieren und gar von „Impfstoff-Apartheid“ zu sprechen. Hier wurde aber auch sichtbar, wie schwach die scheinbar „führende“ WHO in Wirklichkeit ist. Ihre Initiative zur Überwindung dieses ungleichen Zugangs mit einem Covid-19 Technology Access Pool gleich zu Beginn der Pandemie wurde sträflich vernachlässigt, nur von wenigen kleinen Staaten unterstützt und von den Pharmafirmen offen boykottiert. Und gegen den mRNA Vaccine Technology Transfer Hub, den die WHO mit lokalen Institutionen seit 2021 in Südafrika aufgebaut hat und mit dem über ein Netz von kollaborierenden Unternehmen Wissen und Technologie verbreitet werden soll, gibt es ebenso deutliche Widerstände.
Eine Nebenrolle spielte die WHO auch bei der Einrichtung des Access to COVID-19 Tools Accelerator (ACT-A) im Frühjahr 2020, der vor allem durch seine Impfstoffbeschaffungs-Säule COVAX medial bekannt wurde. Große PPP wie unter anderem der Global Fund, Gavi (Impfstoffe) oder der Wellcome Trust (Therapeutika) waren für die Beschaffung und Verteilung von Produkten an die Länder zuständig. Besonders COVAX jonglierte bald mit Milliarden US-Dollar. Die WHO musste die undankbare Aufgabe der „Gesundheitssystemstärkung“ übernehmen, für die kaum Mittel bereitgestellt wurden, die aber in vielen Ländern entscheidend für die Geschwindigkeit der Impfprogramme waren. Eine wichtige Rolle hatte sie bei der Prüfung der Wirksamkeit und Sicherheit derjenigen Impfstoffe, Medikamente und Diagnostika, die vom ACT-A gekauft und verteilt wurden. Ihre Empfehlungen zur global gerechten Verteilung der zunächst knappen Impfstoffe dagegen wurden geflissentlich ignoriert, während die reichen Länder Impfstoff horteten und erst ab der zweiten Jahreshälfte 2021 ihre überschüssigen Dosen als medial wirksame karitative Geste großzügig über COVAX verteilen ließen.
Konflikte zwischen Mitgliedsstaaten
Die vermeintlich starke Weltbehörde sitzt auch in anderen Fragen unmittelbar zwischen allen Stühlen: etwa wenn ihre Mitglieder die Konflikte untereinander auf der WHO-Bühne austragen. Auch dafür war die COVID-19-Pandemie nur der sichtbarste Punkt: Der offen ausgetragene Konflikt zwischen der US-amerikanischen Trump-Regierung und der Volksrepublik China um die Fragen der rechtzeitigen Information und Herkunft des Virus (Wildtiere oder Forschungslabor) – im Kern ein bilateraler Konflikt um ökonomische Stärke und regionalen/globalen Einfluss – wurde von China mit einem hartnäckigen Beharren auf staatlicher Souveränität beantwortet. Die WHO versuchte dem mit traditionellen diplomatischen Charmeoffensiven beizukommen, verstärkte damit aber den Zorn Trumps, der mit einem Austritt und der Streichung der Finanzmittel der USA drohte, was glücklicherweise durch seine Abwahl Ende 2021 verhindert wurde.
Ein weiteres Beispiel für Konflikte zwischen einzelnen Mitgliedsstaaten ist der Umgang mit dem Thema sexuelle und reproduktive Gesundheit/Rechte. Hier unterscheiden sich die Haltungen besonders drastisch und kommen im Kampf um den Einschluss von Konzepten wie „Sexualaufklärung“ und der Erwähnung „sexueller Minderheiten“ als Zielgruppen von Präventionsmaßnahmen zum Ausdruck. Die russische Delegation etwa beklagt hier „Provokationen“ in offiziellen Texten und versucht damit Allianzen zu schmieden, die ihr auch bei der Abwehr der Kritik an der Kriegsführung in der Ukraine behilflich sind, wenn etwa die „westliche Allianz“ die Angriffe ziviler und gesundheitlicher Infrastruktur in den Plenarbeiträgen und Resolutionen verurteilt.
Große Abhängigkeiten
In all diesen Dilemmata bleibt die WHO auch weiterhin diplomatisch gefangen. Sie ist de facto eine „Dienerin“ ihrer Mitgliedsstaaten, die das Arbeitsprogramm und die Finanzierung der WHO bestimmen. Zumal verfügt die WHO über keinerlei Möglichkeiten, ihre Mitglieder zur Umsetzung der von ihnen selbst unterschriebenen Regeln anzuhalten. Das wurde in der Pandemie dramatisch und beispielhaft an den International Health Regulations deutlich, als Empfehlungen der WHO zur Vorbereitung auf bzw. Bekämpfung der Pandemie und gegen Grenzschließungen offen von vielen ignoriert wurden.
Also umwirbt die WHO wichtige Staaten auf andere Weise, etwa in neuen „Signature-Projekten“. Der 2021 eingerichtete Pandemic and Epidemic Intelligence Hub zur besseren Vernetzung von Datensammlungen zur Pandemieüberwachung wird wesentlich von Deutschland finanziert und sitzt deshalb in Berlin. Die neue WHO Academy, ein „state of the art lifelong learning center“ für Gesundheitsprofessionelle, ist ohne den Beitrag der französischen Regierung nicht denkbar und deshalb in Lyon angesiedelt. Aus ihrem regulären Budget könnte die WHO solche Initiativen nicht betreiben.
Unsichere Finanzierung
Die zentrale Frage „Wer bezahlt?“ treibt die WHO ebenso wie ihre Unterstützer:innen und Kritiker:innen um. Feierte sich der Exekutivrat im Januar 2022 noch für die schrittweise Erhöhung der Pflichtmitgliedsbeiträge, um künftig 50 % des Gesamtbudgets über die Mitgliedsstaaten zu finanzieren (aktuell sind es nicht einmal 20 Prozent), so ist ein Jahr später angesichts von Rezession, der globalen wirtschaftlichen Folgen des russischen Kriegs gegen die Ukraine und der steigenden Inflation unklar, ob dies tatsächlich zügig umgesetzt werden kann. Und zugleich sind wie üblich wesentliche Teile des Budgetplans ungedeckt. Der Vorschlag der WHO, ein regelmäßiges Spendensammel-Event (Replenishment) zu veranstalten, anstatt für jedes Einzelprogramm neue Geldgeber zu suchen, bringt sie in direkte Konkurrenz mit den PPP, die diese Art von „Leistungsshow“ über die vergangenen 20 Jahre professionalisiert haben. Ob sich die WHO hier als Nachzügler behaupten kann, bleibt abzuwarten.
Auch die neue „WHO-Stiftung“, die vor zwei Jahren ins Leben gerufen wurde, bleibt von berechtigter Kritik nicht verschont. Wer von reichen Privatleuten und Unternehmen Geld einsammeln will, kommt schnell in schlechte Gesellschaft. Waffen- und Tabakindustrie sind laut Statut der Stiftung ausgeschlossen, aber schon die problematischen Nahrungsmittelkonzerne wie Unilever, Nestlé und Coca-Cola, deren Fastfood und Zuckergetränke als Mitverursacher wichtiger chronischer Krankheiten in der Kritik stehen, sind nicht kategorisch ausgeschlossen.
Die WHO kennt aus ihrer Geschichte viele solche Dilemmata und Abhängigkeiten. Auch die legendäre „Konferenz von Alma Ata“ 1978, bei der das Primary Health Care-Konzept (PHC) verabschiedet wurde, fand nur dort statt, weil die UdSSR im Kampf um die Deutungshoheit in der sozialistischen Welt China zusetzen wollte und deshalb die Finanzierung für die Konferenz bereitstellte. Immerhin konnte die WHO damals durchsetzen, dass die Konferenz nicht in Moskau, sondern in der regionalen Hauptstadt des armen Kasachstan stattfand, in der gute Erfahrungen mit PHC-Programmen gemacht worden waren.
Die Mühe kann sich lohnen
Bleibt also überhaupt etwas zu feiern zum 75. Jahrestag dieser Weltgesundheitsbehörde? Die WHO bleibt so gut und schlecht wie die Welt, in der sie besteht. Das wäre die einfache Antwort. Entscheidend wird sein, was man daraus macht, wäre die komplizierte Antwort. Ohne die WHO wären die pragmatischen Macher:innen der PPP ohne ein Korrektiv, in dem weiterhin über Gesundheitssystemstärkung, gerechte Ressourcenverteilung zwischen den Ländern und die notwendige Unterstützung der von den globalen Ausbeutungsrealitäten besonders betroffenen Länder gestritten und debattiert wird. Rechte von Minderheiten und diskriminierten Gruppen sind nicht immer mehrheitsfähig in den Resolutionen der WHO, aber die Bühne, die die Mitgliedsstaaten für ihre geopolitischen Gefechte nutzen, sind auch für diejenigen nutzbar zu machen, die sonst in ihren eigenen Ländern noch weniger Gehör finden.
Dazu gilt es auf der Ebene der WHO, Allianzen einer kritischen Zivilgesellschaft und gleichgesinnter Regierungen zu entwickeln. Die neue brasilianische Regierung stellte schon eine Initiative für eine Resolution zur Gesundheit indigener Gruppen und Völker vor. Der Kampf um die Räume, in denen globale Politik gemacht wird, lohnt sich – trotz der Mühen und dicken Bretter, die dort zu bohren sind.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Dr. med. Mabuse Nr. 260/2. Quartal 2023.