Ukraine

Wider die Ohnmacht

16.02.2023   Lesezeit: 7 min

Vorwort zum Buch "Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine" von Raúl Sánchez Cedillo.

Von Katja Maurer

Nach einem Jahr Angriffskrieg gegen die Ukraine ist klar, dass dieser Krieg gekommen ist, um zu bleiben. Es ist längst kein Krieg zwischen Ländern mehr, sondern ein innerimperialistischer Krieg, in dem die russische Semiperipherie einen Platz am Tisch der Großen (China und USA) beansprucht. Ähnlich wie der 11. September 2001 verändert er die planetarisch-politische Landkarte fundamental. So wie der „Krieg gegen den Terror“ die Karten von Gut und Böse neu verteilt hat und damit auch, welche Verbrechen gesprochen werden können und welche auf immer verschwiegen werden, so setzt auch dieser Krieg neue Standards.

Wir befinden uns auf dem Weg in ein globales Kriegsregime, das die Sprache, die politischen Prioritäten, die Demokratie, die Freiheit und die Emanzipation überall extrem gefährdet. Die Ohnmacht emanzipatorischer Positionen angesichts der Klimakatastrophe erfährt einen weiteren Schock und stellt uns vor die Frage, wie man all das überhaupt noch auf eine kritische Weise sprechen kann. Schon jetzt erleben wir, wie der Krieg alle Parameter verschiebt. Klimapolitische Ziele werden umstandslos aufgegeben. Die historische Verantwortung für das ökologische Desaster weicht einem rücksichtslosen Aufrollen ganzer Kontinente entlang der Ressourcen-Begehren der privilegierten Länder. Die Sprache, in der in den jeweiligen Leitmedien über den Krieg gesprochen wird, rückt uns immer näher an den Abgrund einer unausweichlich erscheinenden militärischen Eskalation. Dem neoimperialen russischen Nihilismus steht ein moralischer Rigorismus des Westens gegenüber, der das Putin-Regime, wenn nicht Russ:innen generell, als das radikal Böse definiert. Das Feindbild schafft innere Kohärenz und legt die Spur zu einem Autoritarismus, den man eigentlich vorgibt zu bekämpfen.

Das vorliegende Buch von Raúl Sánchez Cedillo kontextualisiert den russisch-ukrainischen Krieg gegen diese propagandistischen Vereinfachungen historisch und politisch, ohne sich dabei der Logik der Geopolitik zu bedienen. Mit Putin, so Sánchez Cedillo, sei ein Kriegsregime an die Macht gekommen. Also ein Regime, das den Krieg und den äußeren Feind nutzt, um innere Kohärenz zu schaffen und die Verewigung des eigenen Regimes anstrebt. Dass der russische Geheimdienst, der seine stalinistisch-totalitäre Vergangenheit nie aufgearbeitet hat, dazu unter anderem mit inszenierten Terroranschlägen erheblich beigetragen hat, ist fast schon ein Gemeinplatz. Die Zerstörung der tschetschenischen Hauptstadt Grosny und der Tod von ca. 75.000 Zivilist:innen in zwei von Russland geführten Kriegen sind ebenfalls in diese Art Putinsches Kriegsregime eingeschrieben. Gleichzeitig festigte das Regime seine Herrschaft, in dem es sukzessive dafür sorgte, dass die demokratischen Räume, darunter auch die Möglichkeiten für Organisationen wie Memorial, die stalinistische und sowjetische Vergangenheit aufzuarbeiten, immer kleiner wurden.

Der 2001 begonnene „Krieg gegen den Terror“ hatte auf seine Weise ein Kriegsregime weltweit gemacht und die Welt in Freund und Feind geteilt. Daran zu erinnern und dabei auch die Formierung der postsowjetischen Gesellschaft entlang eines rigiden Neoliberalismus und ihrer totalen Fragmentierung zu analysieren, ist ein Verdienst von Sánchez Cedillos Buch. Es reicht eben nicht, die Psychologisierung Putins und seines Regimes als „radikal Böse“ zu betreiben, um die Welt zu verstehen, in der wir ungewollt angekommen sind.

Hilfe und Solidarität

medico international unterstützt lokale Partnerorganisationen in der Ukraine. Zum ersten Mal in der Geschichte dieser linken Hilfs- und Menschenrechtsorganisation arbeiten wir nicht im globalen Süden, sondern in einem osteuropäischen Land mit seinem 30jährigen neoliberalen Transformationsprozess, in dem eine internationalistische emanzipatorische Idee aufgrund der realsozialistischen Geschichte nicht gerade ein Tagesgespräch ist. Beim Besuch von Kolleginnen und Kollegen in Charkow oder Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, 30 Kilometer entfernt von der russischen Grenze, im Januar 2023 wurde sehr schnell klar, dass es viele Ukrainen gibt, von denen geredet werden muss. Unsere Partnerorganisation „Mirnoe Nebo“ (Friedlicher Himmel) ist in wenigen Monaten auch mit unserer Unterstützung zur größten lokalen Hilfsorganisation im Gebiet Charkiw geworden. Aus einer in der Not entstandenen Suppenküche, die die in der Metro Schutz suchende Bevölkerung während des russischen Dauerbeschusses zu Anfang des Krieges mit warmen Mahlzeiten versorgte, wurde in wenigen Monaten eine Organisation mit über 200 Angestellten. „Mirnoe Nebo“ ist so unversehens zu einem wichtigen Akteur im humanitären Geschehen geworden, der auch beim Wiederaufbau der zerstörten Gebiete in Charkow und den anderen Städten, in denen sie arbeiten, gehört werden muss. Die Parallelität von Normalität, Wiederaufbauplänen und -maßnahmen und von einem in seinen Dimensionen unabsehbaren Krieg lässt sich in der Ostukraine gut beobachten.

Je weiter man sich von hier nach Westen bewegt, desto mehr wird der Krieg zu einem flüchtigen Eindruck. Er zeigt sich im regelmäßigen, aber vereinzelten Raketenbeschuss, in den Stromsperren, die von der Regierung als Einsparmaßnahme verhängt werden, und in den Militärposten an der mittlerweile gut ausgebauten Hauptstraße, die – je weiter im Westen – immer häufiger nicht nur mit der blau-gelben Flagge der Ukraine geschmückt sind, sondern auch mit der schwarz-roten der ukrainischen Nationalisten. In Lviv, der ehemaligen k.u.k. Metropole an der polnischen Grenze, vollzieht sich im Schatten des Krieges gar eine Festlichkeit, wie die Stadt sie seit Jahrzehnten nicht erlebt hat. In den letzten Jahren prachtvoll wieder hergerichtet, erlebt sie nun einen Boom. Die Straßen sind brechend voll mit Käuferinnen und Kaffeehausbesuchern, Hipstern und Feministinnen. Szenekultur und Konsum gehen Hand in Hand. Im Zuge des Krieges haben sich die Immobilienpreise verdoppelt. Privilegierte Ukrainer:innen haben sich hier angesiedelt, die Kinder können tatsächlich und nicht nur virtuell zur Schule gehen und die Familien müssen sich nicht trennen. Nach wie vor dürfen wehrfähige Männer die Ukraine nicht verlassen. Der Krieg schafft neue Formen der Klassengesellschaft.

Während die Kolleg:innen in Charkiw die Politik in der Ukraine für ein schmutziges Geschäft halten, hoffen die Gesundheitsgewerkschafterinnen, die wir in Lviv treffen, auf ein Ende der Oligarchie durch den Krieg. Sie setzen auf den Nationalismus, in dessen Ergebnis ein gemeinsames nationales Selbstverständnis entstehen könnte. Als Gewerkschafterinnen wehren sie sich gegen die weitere Deregulierung, wie das gerade vom Parlament in Kyiv beschlossene Ende des Kündigungsschutzes. Im ukrainischen Nationalismus sehen sie kein Problem, sondern eine Chance. Das ist nicht unverständlich, wenn man 30 Jahre lang Augenzeuge und Opfer eines Transformationsprozesses war, der mit seiner radikalen Privatisierung jedes Vertrauen in die öffentliche Hand zerstört hat.

Nur leider kennt auch der ukrainische Nationalismus die Idee von Plurinationalität nicht. Auch der Weg der Kurd:innen in Rojava, die ihre Nationalstaatsidee zugunsten eines plurinationalen, mehrsprachigen Gebildes aufgegeben haben, ist hier kein möglicher Horizont. „Internationalismus oder Barbarei“, eine Kapitelüberschrift bei Raúl Sánchez Cedillo, würde wohl auf gänzliches Unverständnis stoßen. Dabei tobt der Krieg in seinem ganzen Schrecken im mehrheitlich russischsprachigen Osten, während der Westen der Ukraine mit dem Kriegsausbruch auf der vollständigen Durchsetzung der ukrainischen Sprache beharrt. Eine demokratische Ukraine, die nur zweisprachig sein kann, und die sich ihrer komplexen Geschichte am Kreuzweg der Kulturen und Imperien stellt, erscheint als Ergebnis dieses Krieges genauso unwahrscheinlich wie der Weltfrieden, den man uns mit der Aufrüstung der Ukraine verspricht.

Der Abgrund, vor dem die Ukraine und Europa stehen, ist so frappierend wie die Tatsache, dass offenkundig wenige darüber nachdenken, wie man davon abrücken kann. Die Idee eines konstituierenden Friedens, die Sánchez Cedillo vorschlägt, ist der Horizont. Eine mögliche Praxis wäre, sich der Wirklichkeit auszusetzen, ohne sich an den moralisch aufgeladenen medialen Schlachten zu beteiligen, die mit einer schieren Behauptung von Wahrheit Europa weiter Richtung Abgrund bewegen.

Die Frage ist dann: Worin bestehen auch hier bei uns mögliche Akte des Widerstands gegen ein Kriegsregime, das uns zurichtet und zu einer fragwürdigen Parteilichkeit nötigt? Raúl Sánchez Cedillo schlägt eine Form des Exodus vor. Wie wir unterworfen werden und uns selbst unterwerfen, ist Gegenstand beständiger Reflexion, und vor allen Dingen im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine Thema dieses Buches. „Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine“ ist ein Angang und eine Möglichkeit. Weitere werden folgen.

medico unterstützt die Übersetzung und deutschsprachige Veröffentlichung des Buches von Raúl Sánchez Cedillo, "Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine", im Verlag transversal texts. Es ist zum Jahrestag des Kriegsbeginns im Februar 2023 erschienen und auf der medico-Webseite kostenlos abrufbar

Katja Maurer

Katja Maurer leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international und die Rundschreiben-Redaktion. Heute bloggt sie regelmäßig auf der medico-Website.


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