Pandemie, Klimakrise, Krieg

Wollsocken tragen ist nicht links

01.09.2022   Lesezeit: 7 min

Solange zentrale Handelsbeziehungen und Eigentumsverhältnisse nicht in Frage gestellt werden, wird es nicht nur keine soziale Gerechtigkeit geben, sondern wird die Welt in weiten Teilen schlicht unbewohnbar.

Von Anne Jung

Die Vorstellung von einer anderen möglichen Welt, für die in den 2000er Jahren Hunderttausende international protestierten, ist in weite Ferne gerückt. Mehr noch, sie ist kaum mehr vorstellbar. Proteste sind rar – zwei Jahre Isolation durch die Corona-Pandemie, die Angst angesichts des unhaltbaren Zustands dieser Welt und die damit einhergehende Lethargie macht Menschen empfänglicher für das Mantra der Alternativlosigkeit, wie es Margaret Thatcher in den 1980er Jahren im Zuge des neoliberalen Umbaus der britischen Gesellschaft als Devise ausgegeben hatte.

Die Totalität des Krisengeschehens lähmt und lässt jeden Vorschlag für politisches Handeln nichtig erscheinen. Daher erfordert es eine gewisse Tapferkeit, den Blick auf Dinge zu richten, die zwar kein bisschen das Ende des Kapitalismus bedeuten, aber vielleicht einen Horizont für solidarisches Handeln eröffnen.

Gewinne für wenige, Risiken für den Rest

Eine Übergewinnsteuer zum Beispiel ist möglich. Das zeigt das Beispiel Spanien. Der Staat rechnet mit ca. 3,5 Milliarden Euro Mehreinnahmen, aus denen er neben vielen anderen Maßnahmen die kostenlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs finanziert, eine Obergrenze für Mietsteigerungen einführt und die Mindestlöhne spürbar erhöht. Während Spanien und andere Länder der EU vormachen, wie es gehen kann, wird hierzulande eine Gasumlage eingeführt. Eine Umlage, die Gewinne von Unternehmen wie dem Gasimporteur Uniper absichert, nachdem das Unternehmen zuvor mit 15 Milliarden Euro aus der Staatskasse gestützt wurde. Rechnet man beides zusammen, kostet der Erhalt des Unternehmens die Steuerzahlenden 30 Milliarden Euro. Mal abgesehen davon, dass Uniper aus einer skandalösen Fehlentscheidung der rot-grünen Bundesregierung der 2000er Jahre hervorgegangen ist, die eine Fusion von E.ON und Ruhrgas gestattete und damit zur Monopolbildung beitrug, zeigt sich hier mal wieder die unverantwortliche Strategie der Krisenbewältigung: Gewinne werden privatisiert, Risiken vergemeinschaftet.

Doch die Debatte um die Übergewinnsteuer, die auch im Ersten und Zweiten Weltkrieg von vielen Staaten erhoben wurde, versperrt den Blick über die akute Krise hinaus. Die Erhöhung der Körperschaftssteuer und die Einführung einer Vermögenssteuer wären weit besser geeignet, um dem dramatischen Ausmaß der Krise zu begegnen. Aber die notwendigen Fragen nach den Eigentumsverhältnissen werden nicht mal in globalen Krisenzeiten gestellt – geschweige denn beantwortet.

Eine altbewährte und für Unternehmen großartige Richtungsentscheidung, die in der Corona-Pandemie dazu geführt hat, dass die Gewinne der Pharmaindustrie exorbitant stiegen – allein der Gewinn von Biontech lag im vergangenen Jahr bei 10 Milliarden Euro. Für die Entwicklung des Covid-Impfstoffs wurden 8 Milliarden Euro öffentliche Gelder beigesteuert (Biontech erhielt knapp 400 Millionen Euro). Rechnet man die Grundlagenforschung mit ein, die seit den 1960er Jahren an öffentlichen Einrichtungen betrieben wurde, um die Messenger-RNA (mRNA) nachzuweisen, liegt der Betrag weit höher. Trotz dieser schwindelerregenden Summen gab es keine Vorgaben der Regierungen, zu welchen Preisen der Impfstoff, der ja quasi zum Teil uns allen gehört, verkauft werden darf. Die öffentliche Hand hat die Entwicklung mitfinanziert, dann die hohen Kosten für die Abgabe der Impfstoffe bezahlt – jede Dosis Biontech kostet 12 Euro, ein vielfaches des Herstellungspreises. Zum dritten Mal schließlich wurden und werden öffentliche Gelder verwendet, um das internationale Impfprogramm Covax zu finanzieren, nachdem sich europaweit Politik und Wirtschaft geweigert haben, die Patente auszusetzen, um eine kostengünstige Produktion in und für die Länder des globalen Südens zu finanzieren. Die Aufrechterhaltung von Abhängigkeiten kommt uns teuer zu stehen.

Vom Covid-Impfstoff bis zur Gasumlage: Die Politik wird ihrer Verpflichtung zur Regulierung im Interesse Aller nicht gerecht. Dazu würden Maßnahmen gehören, die die Macht von Unternehmen im öffentlichen Interesse begrenzen.

Sven Hilbig hat in den blättern darauf hingewiesen, dass die neue Handelsagenda der Bundesregierung die Interessen des Globalen Süden ausblendet und damit die Europe-First-Politik fortsetzt, die sie schon in der Pandemie vorangetrieben hat. Das Prinzip: Die Verteidigung der imperialen Lebensweise, koste es was es wolle. Solange die zentralen Handelsbeziehungen und Eigentumsverhältnisse nicht in Frage gestellt werden, wird es jedoch nicht nur keine soziale Gerechtigkeit geben, sondern wird die Welt schlicht in weiten Teilen unbewohnbar. 

Für diejenigen, die nun hierzulande die Stromumlage finanzieren sollen, bleibt so im Winter nur die Wollsocke. Die Armen müssen sich ohnehin warm anziehen. Die Wollsocke allerdings politisch zu überhöhen um Putins Gas zu sparen („Frieren für den Frieden“) wird indes das Privileg einer Minderheit bleiben. Wollsocken zu tragen ist für sich genommen so wenig links wie Maske tragen in der Pandemie. Die Überhöhung des individuellen Handelns muss gelesen werden als Ausdruck von Ohnmacht und Angst. Politische Bedeutung kann nur im diskursiven Wechselverhältnis mit den herrschenden Verhältnissen erlangt werden.

Kollektive Lösung: Erkenntnisse aus der Pandemie

Die Isolation in der Pandemie und die berechtigte Angst vor dem Winter versperrt den Blick auf Machtverhältnisse, auf kollektive Lösungsansätze, darauf, dass die Krisen dieser Zeit immer im Globalen verortet sind und auch dort gelöst werden müssen.

Die Forderung, Patente auf lebensnotwendige Medikamente auszusetzen, ließ sich selbst in einer Pandemie nicht durchsetzen. Die Bedeutung dieser Niederlage geht über die Pandemie hinaus. Aus der Forderung spricht eine Idee des Gemeinsamen, sie ist Ausdruck einer globalen Perspektive solidarischen Handelns und hätte ein politisches Signal sein können, der Verpflichtung zur Regulierung nachzukommen. Hätte… Das Primat des Nationalismus, des Eurozentrismus, des Kapitalismus hat sich durchgesetzt. Die Forderung wurde abgeschmettert wie so viele globale Konzepte zuvor.

Und dann beginnt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Und dasselbe Europa fordert die Solidarität des globalen Südens ein. Im Ernst? „Warum sollten wir Europa trauen“, fragte Alex Awiti von der Uni in Nairobi stellvertretend für viele im Globalen Süden.

Pandemie, Klimakrise, Krieg. Nach einem halben Jahrhundert ist Europa unfreiwillig „ein Teil der Welt geworden“, wie es Radwa Khaled-Ibrahim treffend analysiert hat. Doch das war nur ein erster Schritt. Tatsächlich Teil der Welt werden kann Europa nur durch einen radikalen Richtungswechsel. Das nämlich würde bedeuten, Abschied zu nehmen von der imperialen Lebensweise, die unseren Wohlstand auf Kosten des globalen Südens und der Menschenrechte aufrechterhalten hat. Gerecht ist weniger für viele, um genug für alle zu haben. Diese Öffnung ins Globale und nicht der ohnehin vergebliche Versuch von Abschottung wäre auch der beste Schutz davor, von der Rechten politisch instrumentalisiert zu werden.

Zunächst müssen also Räume für politisches Denken und Handeln neu gefunden werden. Das ist ganz wörtlich zu verstehen. Es wäre fatal, wenn im Herbst Schulen, Unis und Unternehmen ohne pandemische Notwendigkeit zum Homeoffice zurückkehren, um öffentliche Gebäude nicht heizen zu müssen. Wenn hierzulande Millionen Menschen existenzbedrohliche Mehrkosten haben werden, brauchen sie solidarische Unterstützung und kollektive Lösungen, ohne die Energiesicherung zulasten des Globalen Südens voranzutreiben. Teil der Welt zu werden bedeutet eben auch, Verbindungen wahrzunehmen, zum Beispiel zu den Sozialprotesten in Südafrika gegen die auch dort stattfindenden Preiserhöhungen. Verbindend ist auch die Forderung nach einem umfassenden Schuldenerlass für nunmehr über 80 hochverschuldete Länder, die sich nach der Pandemie und infolge des Krieges gegen die Ukraine mit neuer Dringlichkeit stellt. Teure Rohstoffimporte und Lebensmittelpreise treiben ihre Verschuldung nach oben. Ein Schuldenerlass ist Voraussetzung für jede emanzipatorische Veränderung.

In diesen Tagen blicken wir fassungslos auf die Monsunregen in Pakistan. Das Land gehört zu den am heftigsten von der Klimakrise betroffenen Ländern der Welt und das schiere Ausmaß der Katastrophe ist Ausdruck davon, dass es sich hier um ein globales Ereignis handelt. Wie wäre es, – um die aktuelle Steuer-Debatte nochmal zum Ausgangspunkt für eine globale Perspektive zu nehmen – die höhere Besteuerung von Unternehmen und großer Einkommen anstelle einer Übergewinnsteuer zu fordern und endlich an Konzepten zu arbeiten, wie diese Mittel in globale Fonds fließen können, wie sie die arm gehaltenen Länder schon lange fordern. Unter anderem einen Fonds für Schäden und Verluste der Klimakrise – finanziert von den Hauptverursachern des Klimawandels.

Packt man dies in eine Wollsocke, dann könnte was daraus werden.

Anne Jung (Foto: medico)

Anne Jung leitet die Öffentlichkeitsarbeit bei medico international. Die Politikwissenschaftlerin ist außerdem zuständig für das Thema Globale Gesundheit sowie Entschädigungsdebatten, internationale Handelsbeziehungen und Rohstoffe.

Twitter: @annejung_mi


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