Niger

Zeitenwende im Sahel

29.08.2023   Lesezeit: 9 min

Der Westen stellt sich gegen den Putsch im Niger. Die dortige Bevölkerung begrüßt ihn als antikolonialen Akt. Olaf Bernau erklärt warum

medico: Bis zum 26. Juli galt Niger als letzter stabiler Verbündeter des Westens im Sahel. Dann wurde Präsident Mohamed Bazoum vom Militär abgesetzt, General Abdourahamane Tchiani, der Anführer der Präsidentengarde, erklärte sich zum Staatschef. Warst du überrascht?

Olaf Bernau: Überhaupt nicht. In der Sahelregion gibt es schon seit einiger Zeit eine starke Bewegung für Veränderung. Ich war zuletzt im Februar im Niger. Alle, mit denen ich gesprochen habe, haben sehr klar gesagt, dass sie mit der Regierung und dem Präsidenten überhaupt nicht einverstanden sind, und auch mit den ausländischen Militärmissionen nicht. Dass Bazoum so eng mit dem Westen, insbesondere der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich, kooperierte, ohne dass die Bevölkerung ökonomisch davon profitierte, und dass er die massive Kritik aus der Bevölkerung an ausländischen Militärmissionen ignorierte, wurde ihm sehr verübelt. Obwohl Generäle geputscht haben, die zuvor auf der Gegenseite und überhaupt nicht für einen progressiven Aufbruch standen, unterstützen viele Menschen den Putsch. Man möchte sich nicht mehr vom Westen bevormunden lassen. Insofern würde ich sagen: Wer überrascht war, hat vorher nicht zugehört.

Demokratiedefizite gibt es ja nicht erst seit dem Putsch. Wie ist es einzuordnen, wenn nun seitens des Westens eine „Wiederherstellung der verfassungsgemäßen Ordnung“ gefordert wird?

Der im Westen viel gelobte, erste demokratische Übergang seit der Unabhängigkeit von Issoufou zu Bazoum war alles andere als demokratisch. De facto hatte sich im Niger ein autokratisches, hochgradig korruptes und repressives Regime etabliert. Bei der Wahl Bazoums gab es Manipulationen und Fälschungen, die aber außerhalb Nigers kaum jemanden interessierten. Als Innenminister war Bazoum maßgeblich für die Unterdrückung der Opposition verantwortlich gewesen. Davon waren auch medico-Partner wie der mehrfach willkürlich inhaftierte Menschenrechtsaktivist Moussa Tchangari betroffen. In Europa wollte man das nicht sehen, was viel damit zu tun hat, dass Niger als verlässlicher Partner in der Region so dringend gebraucht wurde.

Auf Bildern aus Niger sieht man jetzt oft Russlandfahnen. Wächst mit der Ablehnung westlichen Einflusses die Orientierung an Russland?

Es gibt bei einzelnen Gruppen eine prorussische Orientierung, wie in Mali. Aber grundsätzlich verstehe ich die Zustimmung zu dem Putsch und die scheinbare Hinwendung zu Russland vor allem als Ausdruck des dringenden Wunsches nach einem Neuanfang und nicht als ideologische Orientierung an Russland. Russland ist eher symbolisch wichtig: Putin bietet dem Westen die Stirn, und der Feind meines Feindes ist mein Freund. Was man aber nicht unterschätzen darf, ist die unterschiedliche militärische Unterstützung. Auch das war in Mali ähnlich. Die Leute sagen: „Frankreich hat uns militärisch bewusst kleingehalten, den Anti-Terror-Kampf in die eigenen Hände genommen und die malische Armee in den Stand einer untergeordneten Hilfstruppe versetzt.“ Das wurde immer als nationale Demütigung und Fremdsteuerung empfunden. Mit Russland ist das anders: Russland liefert richtig viele Waffen, vielleicht auch ein paar Söldner, die aber im Grunde nur tun, womit man sie beauftragt. Darin wird ein Moment der nationalen Selbstbestimmung gesehen.

Kann es mit einer Militärregierung denn Selbstbestimmung geben?

Neben dem emanzipatorischen Diskurs, bei dem es vor allem darum geht, sich von Frankreich freizuschwimmen, gibt es auch einen eher regressiven. Der kamerunische Philosoph und Historiker Achille Mbembe nennt das Souveränismus. Ein nationalistischer Souveränismus bleibt einem starken Freund-Feind-Schema verhaftet, sowohl nach außen („Frankreich ist an allem schuld“) als auch nach innen, was die Schließung des Meinungskorridors bedeuten kann. Wir haben es also mit einem ambivalenten Prozess zu tun, der zwischen Emanzipation und Nationalismus hin- und herpendelt.

Niger gilt als eines der ärmsten Länder der Welt. Was würde eine Abkehr vom Westen ökonomisch bedeuten?

Der Westen ist wichtig auf der Ebene der Entwicklungszusammenarbeit, aber das war es dann auch schon. Ökonomisch ist die Zusammenarbeit mit China, die in den letzten Jahren ausgebaut wurde, viel wichtiger und verheißungsvoller. China hat nicht diesen europäischen Tunnelblick. Europa geht es vor allem um einen extraaktivistischen Zugang zu Rohstoffen. Dafür steht insbesondere das Uran, das Frankreich aus Niger bezieht, ohne dass der Abbau und Export positive Effekte für die Bevölkerung hätten. Die Uran-Industrie gibt wenigen Tausend Menschen Arbeit, hat aber katastrophale Konsequenzen für das Grundwasser und ist insofern für Viehhirten und Bauern im Umfeld der Minen ein großes Problem. Ökonomisch wichtiger sind inzwischen eigentlich Gold und Erdöl, und da setzt China viel stärker als Europa auf die Weiterverarbeitung im Land. Außerdem kümmert sich China um den Ausbau der Infrastruktur – Straßen, Elektrizität, Wasser –, sodass vor Ort Wertschöpfung stattfindet und im Gefolge davon auch gewisse Industrialisierungsprozesse und die Aneignung von Know-how. China macht ökonomisch also die deutlich interessanteren Angebote.

Der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS gehören 15 Länder an, vier davon sind inzwischen von Putschisten regiert. Unter dem Vorsitz Nigerias hat die ECOWAS Sanktionen gegen Niger verhängt und droht sogar, militärisch zu intervenieren, sollte Präsident Bazoum nicht wiedereingesetzt werden. Was bedeutet das für die Region?

Nicht alle stehen hinter den Sanktionen und Drohungen, denn von diesen sind auch die Nachbarländer betroffen, hinsichtlich Niger aktuell vor allem Nigeria. Die beiden Länder haben eine 1.600 Kilometer lange Grenze und eine gemeinsame Geschichte. Es gibt vielfältige familiäre Verbindungen. Da sagen viele: „Uns soll hier eine Art Geschwisterkrieg aufgezwungen werden. Das akzeptieren wir nicht.“ Insofern gibt es im ECOWAS-Raum nicht nur eine Spaltung auf Regierungsebene, sondern auch einen starken Antagonismus zwischen Bevölkerungen und Regierungen. Im Grunde ist die ECOWAS – die ähnlich wie die EU einmal eine historische Errungenschaft war – längst zu einem Projekt der ökonomischen und politischen Elite geworden. Rückhalt in der Bevölkerung hat sie nicht mehr. Dass die ECOWAS nun so massiv gegenüber Niger auftritt, hat auch damit zu tun, dass manche Präsidenten, deren demokratische Legitimität ebenso fragwürdig ist wie die von Bazoum, Angst haben, selbst entmachtet zu werden.

Was hältst du von der Bezeichnung der Länder Guinea, Burkina Faso, Mali, Niger, Tschad und Sudan als „Putsch-Gürtel“?

Ich halte das für ein westliches oder westlich orientiertes Narrativ und würde es viel stärker mit Achille Mbembe sagen: Mit den Putschen wird das Unabhängigwerden dieser Länder vollendet. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind Unabhängigkeitsbewegungen entstanden, die um das Jahr 1960 herum zur formellen Unabhängigkeit der Länder geführt haben. Viele koloniale Abhängigkeiten blieben jedoch bestehen. Das Besondere an den Putschen der letzten Jahre ist, dass sie in einem engen Zusammenhang mit demokratischen Aufbruchsbewegungen stehen. Im Sudan ist der Putsch zum Beispiel eine unterdrückerische Reaktion auf eine demokratische Aufbruchsbewegung. In den Sahel-Ländern unterstützt die Bevölkerung die Putsche, weil sie sich davon einen Neuanfang und Selbstbestimmung erhofft. Es handelt sich also eher um einen Demokratisierungs-Gürtel, aber der demokratische Aufbruch ist hochgradig widersprüchlich und umkämpft.

Die Militärs im Niger haben den Putsch auch damit legitimiert, dass die Regierung nicht für Sicherheit im Land sorge und den dschihadistischen Terror nicht in den Griff bekomme. Was wollen die Putschisten anders machen?

Das ist noch ein Rätsel. Gerade im Niger war man in den letzten 12 bis 18 Monaten recht erfolgreich im Kampf gegen die Dschihadisten. Die Behauptung der Putschisten, dass sie interveniert hätten, weil sich die Sicherheitslage ständig verschlechtere, ist nicht evident. Im Gegenteil: Die Zahl der schweren Anschläge mit vielen Toten und Verletzten ist massiv zurückgegangen. Der gestürzte Präsident Bazoum hat sich darum bemüht, lokale Friedensverträge zu machen, und dadurch die Verankerung der Dschihadisten in der lokalen Bevölkerung geschwächt. Was die Putschisten substanziell anders machen können, ist also nicht klar. Wenn sie allerdings tatsächlich das Bündnis mit westlichen Armeen aufkündigen, wären sie zwangsläufig auf die Unterstützung durch Dritte angewiesen, und da kommt dann im Zweifelsfall wieder die Wagner-Gruppe aus Russland ins Spiel, die sicher weniger auf Verhandlungen setzen wird.

Die Sanktionen der ECOWAS haben fatale Auswirkungen auf die Bevölkerung. Was sagst du dazu, dass Europa die Entwicklungszusammenarbeit vorläufig eingestellt hat?

Die nigrische Bevölkerung, die sich schon seit Jahren auf den letzten Plätzen des Human Development Index befinden, hat keinerlei Reserven, um solche ökonomischen Schocks aufzufangen. Es handelt sich dabei nicht nur um eine ökonomische Bestrafung, sondern um einen direkten Angriff auf die Ernährungssicherheit, auf die Gesundheitsversorgung, auf die Bildung, also im Grunde auf das Leben der Menschen. Auch wenn der Putsch zu verurteilen ist, kann die Antwort nicht sein, dass die Bevölkerung dafür bestraft wird. Außerdem werden Deutschland und die EU am Ende das Gegenteil von dem erreichen, was sie wollen. Die Menschen werden sich infolge der Sanktionen noch mehr hinter der Putsch-Regierung versammeln. Außen- wie innenpolitisch tragen Sanktionen daher zur Eskalation und zur Stärkung autoritärer Strukturen bei.

Wir haben immer wieder kritisiert, dass Europa die Entwicklungszusammenarbeit an die Bedingung knüpft, dass Niger bei der Migrationskontrolle kooperiert. Wird die Ablehnung des Westens durch die Putschisten zu einer anderen Migrationspolitik führen?

Das ist eine spannende Frage. Die Putschisten sind nie dadurch aufgefallen, dass sie die restriktive Migrationspolitik der EU kritisieren. Bis zum Putsch haben sie sie vielmehr mitgetragen und umgesetzt. Wenn sie jetzt umschwenken, ist das vor allem ein Hinweis auf ihren Opportunismus. Sie wissen natürlich, dass die restriktive Migrationspolitik extrem unpopulär ist. Aber egal, ob aus opportunistischen oder aus anderen Gründen: Ein Ende der restriktiven Migrationspolitik wäre für die Migrant:innen und die Region Agadez sehr positiv. Die Fluchtrouten sind in den letzten Jahren länger und gefährlicher geworden und die Bevölkerung im Niger wurde für etwas kriminalisiert, was eigentlich einer alten Tradition in der Sahelregion entspricht, nämlich für den Transport, die Unterbringung und die Verpflegung von Reisenden. Die restriktive Migrationspolitik wurde daher von vielen Menschen als ein Angriff auf die kulturelle und soziale Identität ihrer Stadt und Region empfunden. Die Bevölkerung von Agadez etwa hat sich seit 2015 verdoppelt, manche sagen sogar verdreifacht, weil so viele Menschen dort blockiert sind und es gleichzeitig viele Abschiebungen aus Algerien und Libyen gibt. Ein Abrücken von der Kooperation mit Europa in der Migrationspolitik wäre daher absolut begrüßenswert.

Was sollte jetzt geschehen?

Ein Putsch ist immer eine Niederlage von Politik und Zivilgesellschaft. Aber Sanktionen oder gar Gewaltandrohung werden das Problem nicht lösen. Eilig durchgesetzte Wahlen würden dazu führen, dass die Elite wieder in die Ämter kommt, die ja maßgeblich mitverantwortlich ist für die schwierige Situation im Niger und dafür, dass der Staat in den letzten Jahren an Legitimität und Zustimmung verloren hat. Es bedarf vielmehr einer echten Transition – so schnell wie möglich, aber auch so ernsthaft wie möglich.

Das Interview führte Ramona Lenz.

medico unterstützt im Niger die Journalist:innen und Menschenrechtler:innen von Alternative Espaces Citoyens, die sich für Ernährungssicherheit und Freizügigkeit einsetzen, sowie das Alarmphone Sahara, das Menschenrechtsverletzungen an Migrant:innen dokumentiert und Hilfe organisiert.

Dieser Beitrag ist auch Teil des medico-Rundschreibens 3/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


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