Es ist über 500 Tage her, dass die Regierungen von Südafrika und Indien inmitten der sich ausbreitenden Covid-19-Pandemie einen von globalen Prinzipien geleiteten Antrag an die Welthandelsorganisation (WTO) zur vorübergehenden Aussetzung der Patente gestellt haben. Während mehr als 100 Länder vor allem aus dem Globalen Süden den Antrag unterstützten, verteidigte die Mehrheit der Industrienationen die Interessen der Wirtschaft gegen die gesundheitlichen Notwendigkeiten und lehnte den Antrag ab. Mittlerweile liegt ein Kompromissvorschlag vor, verhandelt von der EU, den USA, Indien und Südafrika. Spoiler: Das Ziel einer globalen Impfgerechtigkeit verfehlt er drastisch.
Zur Erinnerung: Gebraucht wird, so argumentieren Indien und Südafrika in ihrem ursprünglichen Antrag, eine global vereinbarte Verzichtserklärung („Waiver“) für Patente und andere Rechte des geistigen Eigentums auf Covid-19- Medizinprodukte. Diese soll gelten, bis die Pandemie überwunden ist. Verbunden mit einem Technologietransfer könnte so die Produktion massiv ausgeweitet werden, und dies zu viel geringeren Kosten als bisher. Der Waiver böte darüber hinaus Rechtssicherheit vor Klagen der Pharmaindustrie. Der nun vorgelegte „Kompromiss“ bestätigt im Wesentlichen die bisherigen Positionen der USA und der EU. Er ist in mehrfacher Hinsicht unzureichend. Zum einen soll er nur für Impfstoffe gelten, nicht aber für Therapeutika und Diagnostika zur Identifikation und Behandlung von Covid-19-Erkrankungen. Gerade in Ländern, die bis heute nicht flächendeckend mit Impfstoffen versorgt sind, ist das ein riesiges Problem. Eine gezielte Teststrategie könnte gerade in Ländern, in denen fortgesetzte Lockdowns zu Verarmung und Hunger beitragen, helfen. Auch die neu entwickelten Medikamente zur Behandlung von Erkrankten müssen verfügbar und erschwinglich sein, um zu verhindern, dass Menschen sterben, weil sie kein Geld für die durch Patente überteuerten Medikamente haben.
Der Kompromissvorschlag verkompliziert zweitens das bereits im TRIPS-Abkommen vorgesehene Verfahren zur Erteilung von Zwangslizenzen ohne Zustimmung der Patenthalter. Dabei wäre eine schnelle Ankurbelung der Produktion überlebensnotwendig, auch um weitere Mutationen zu verhindern. Bislang haben nur 14 Prozent der Menschen in Ländern mit niedrigem Einkommen eine Impfdosis erhalten. Dort wurden zuletzt weniger Erstimpfungen verabreicht als in Länder mit hohem Einkommen Auffrischungsimpfungen. Die Covid-Pandemie endet aber nicht, nur weil in Europa ausreichend Dosen vorhanden sind. Es ist gut, dass Moderna die Patente freiwillig aussetzt. Angesichts von 17 Milliarden US-Dollar, die in den letzten Jahren aus öffentlichen Mitteln in den Konzern geflossen sind, sollte dies aber auch nicht als große Geste humanitären Handelns überinterpretiert werden.
Besonders bedenklich ist drittens der Vorschlag, demzufolge die Patentaussetzung nicht für alle Länder gleichermaßen gelten soll. Vielmehr soll sie auf sogenannte Entwicklungsländer beschränkt sein, die 2021 weniger als 10 Prozent der weltweiten Impfstoffdosen exportiert haben. Ein erheblicher Anteil der Impfdosen von AstraZeneca wurde in Indien produziert. Und hinsichtlich einer Ausweitung der Produktion und dem gleichberechtigten Zugang zu Impfstoffen wäre es unverantwortlich, Länder mit erheblichen Produktionskapazitäten wie China (hier wurden über 30 Prozent der globalen Exporte hergestellt) und Brasilien auszuschließen.
Im Umgang mit der Pandemie zeigen sich seit zwei Jahren die systemischen Rahmenbedingungen des politischen Arrangements neoliberaler Globalisierung. Um den Wissensvorsprung der Industrieländer unangetastet zu lassen, wird die Verlängerung der Pandemie mit Millionen Toten billigend in Kauf genommen und mit postkolonialer Rhetorik verschleiert. Jetzt sei die „Zeit der Heilung zwischen den beiden Kontinenten“, unterstrich Kommissionschefin Ursula von der Leyen während des EU-Afrika-Gipfels und klammerte einen Atemzug später die Aussetzung von Patenten explizit von dem „Heilungsprozess“ aus. Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa entgegnete: „Was uns aus der Pandemie herausführen wird, sollte als öffentliches Gut betrachtet werden. Wir wollen keine Brosamen von irgendjemandes Tisch erhalten.“
Nun werden die Länder des Südens mit einem Kompromiss, der keiner ist, in die Knie gezwungen. Verbesserungen scheinen kaum mehr möglich, weitere Verschlechterungen durchaus. Das Problem: Hat man einen Whisky einmal mit Wasser verdünnt, lässt sich das nicht mehr rückgängig machen. Der Öffentlichkeit aber wird ein gut gefülltes Glas präsentiert. Genau so hat strategische Befriedungspolitik im Interesse der Wirtschaft immer wieder funktioniert: Nachdem z.B. das Abkommen zum Verbot von Antipersonenminen unterzeichnet war, ließ sich die Ächtung von Antifahrzeugminen nicht mehr auf die politische Agenda setzen. Nach dem Kimberley-Prozess gegen Konfliktdiamanten galt das Problem als erledigt, obwohl es das Papier nicht wert war, auf dem es geschrieben wurde. Jetzt ist der letztmögliche Moment, um öffentlich deutlich zu machen, dass dieser „Kompromiss“ nicht annehmbar ist. Das Politische unserer Zeit muss auf dem Imperativ beruhen, die Welt gemeinsam zu rekonstruieren. Seinen Anspruch, Verteidigerin der Menschenrechte zu sein, kann Europa endgültig auf den Müllhaufen der Geschichte werfen, wenn es nicht endlich beginnt, das Versprechen einer globalen und sozialen Ordnung mit gleichen Rechten für alle zu verwirklichen.
Ein Beitrag aus dem medico-Rundschreiben 1/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!