Nahostkonflikt

Zurück auf der politischen Agenda

01.07.2021   Lesezeit: 7 min

Der israelisch-palästinensische Konflikt eskaliert, weil seine Ursachen kontinuierlich ignoriert werden. Von Hasan Ayoub.

Mit der jüngsten Welle der Wut und Auflehnung haben die Palästinenser:innen seit langem zum ersten Mal wieder ihr Widerstandspotenzial gegen eine fortgesetzte und vielfältige israelische Unterdrückung demonstriert. Die jüngsten Ereignisse erinnerten in ihrer Bedeutung an die erste Intifada.

Damit ist deutlich geworden, dass alle Ansätze zur Beendigung des Konflikts, die seine Kernprobleme nicht ansprechen, fehlschlagen werden. In diesen letzten Auseinandersetzungen hat sich die Realität eines einzigen Staates in aller Deutlichkeit gezeigt. Er kontrolliert das gesamte Gebiet und praktiziert ein doppeltes Herrschaftsregime: Innerhalb der Grenzen Israels handelt es sich dabei um einen diskriminierenden Staat und in den besetzten Gebieten um eine Mischung aus militärischer Besatzung und Siedlerkolonialismus.

Die seit 1993 herrschende Idee, der Konflikt könne irgendwann rund um eine Zwei-Staaten-Lösung geregelt werden, ist so infrage gestellt. Die Politik beider Konfliktparteien hat sich zudem in den letzten zwei Jahrzehnten mit internationaler Unterstützung der Aufrechterhaltung des Status quo verschrieben. Die jüngsten Proteste proklamieren nun eine Alternative: nämlich eine Politik des Widerstands. Die palästinensische Frage ist damit zurück auf der Agenda.

Die Konfrontation, die in Jerusalem begann, löste einen kollektiven Akt des Widerstands aus, der die Kernfragen des Konflikts anspricht. Die Proteste richten sich mit einem erneuerten Bewusstsein gegen einen fortgesetzten israelischen Kolonialismus und eine Form von Apartheid, wie sie von mehreren vor Ort tätigen Menschenrechtsorganisationen konstatiert wird.

Politikversagen

Die internationale Politik hat in diesem Konflikt auf mehreren Gebieten versagt. Sie hat die Wurzeln des Konflikts, die der Zwei-Staaten-Ansatz weder anerkennt noch löst, ausgeblendet: die Enteignung des palästinensischen Volkes, die bereits 1948 begann, und die kontinuierliche Diskriminierung der Palästinenser:innen durch den israelischen Staat. Die Zwangsumsiedlungen in Sheikh Jarrah und anderen Teilen Jerusalems werden von ihnen als Ausdruck einer anhaltenden Nakba (der Vertreibung von 1948) betrachtet. Zudem hat die internationale Politik die Tatsache einfach ignoriert, dass Israel seit 1967 die Besiedlung und Fragmentierung palästinensischen Landes betreibt und dieses enteignet und in Jerusalem eine Politik der schleichenden ethnischen Säuberung durchführt. Jede in Betracht kommende Lösung muss auf internationalem Recht basieren und nicht darauf, was den mächtigsten Beteiligten genehm ist.

Der israelisch-palästinensische Konflikt eskaliert, weil seine Ursachen kontinuierlich ignoriert werden. Während die zentralen internationalen Akteur:innen, die Palästinensische Autonomiebehörde und Israel es geschafft haben, die für Palästinenser:innen relevanten Fragen zu vermeiden, hat die letzte Konfrontation genau diese wieder in den Vordergrund gerückt. Das Ausmaß der Proteste, die nicht nur das besetzte Ostjerusalem, die Westbank und Gaza erfassten, sondern auch Städte in Israel, hat die Verfechter:innen des Status quo überrascht.

Eine neue Generation

Das Wesen dieser kleinen Revolte widerspricht ihrer Annahme, dass der Status quo beibehalten werden kann, und zeigt, wie sehr die bestehenden politischen Strukturen dem Untergang geweiht und irrelevant sind. Eine neue palästinensische Generation ergreift nun die Initiative. Junge Leute, die den Umgang mit sozialen Medien und Fremdsprachen beherrschen und weltweit Solidarität und die Medien mobilisierten, riefen am 18. Mai in ganz Israel/Palästina einen Generalstreik aus. Diese Bewegung hat ein hohes politisches Bewusstsein und steht für universelle Werte. Ihr Manifest der „Würde und Hoffnung“ entwickelt ein neues Narrativ, das sich um die genannten Kernfragen des Konflikts dreht und in der Lage ist mit diesem neuen Diskurs und Aktivismus, Palästinenser:innen auf beiden Seiten der „Grünen Linie“ zu mobilisieren. Neue politische Gruppen wie „Generation demokratischer Erneuerung“ wollen die Palästinenser:innen vereinen und dekonstruieren die Sprache und Annahmen des politischen Mainstream-Diskurses einschließlich des Mythos von der Koexistenz im „demokratischen Israel“. Hier deutet sich eine politische Transformation an, die fast dreißig Jahre der „Osloer“ Illusionen überwindet.

Das zweite Versagen der internationalen Akteur:innen besteht in dem fehlenden Willen, internationales Recht und UN-Resolutionen durchzusetzen. Es gehört zu ihrer Routine, israelische Rechtsbrüche von Gesetzen und Normen, die sonst international gelten, nicht zu ahnden. Gerade in der letzten Konfrontation wurde dies wieder deutlich.

Demgegenüber zeigte sich gleichzeitig eine weltweite Solidarität zur Unterstützung der palästinensischen Anliegen. Und das gerade in den Städten westlicher Länder, deren Regierungen für die andauernde Tragödie der Palästinenser:innen mitverantwortlich sind. Hinzu kommt die Unterstützung durch Black Lives Matter (BLM). Im ersten politischen BLM-Manifest und in den nachfolgenden Debatten nimmt die palästinensische Frage einen wichtigen Raum ein. Es zeigt sich, dass der Kampf gegen Rassismus, Diskriminierung, Ungleichheit und Kolonialismus unteilbar ist.

Auch wenn die palästinensische Frage wieder zurück ist auf der politischen Agenda, ist auch klar, dass Israel ohne Interventionen internationaler Akteure weder das Völkerrecht noch palästinensische Rechte respektieren wird. Rashid Khalidi, ein angesehener US-amerikanisch-palästinensischer Professor für arabische Studien der Moderne an der Columbia-Universität empfahl dem UN-Sicherheitsrat in einem Briefing, Israel unter Androhung von Sanktionen aufzufordern, die Einschränkungen für die Menschen in Gaza aufzuheben und die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse frei von politischen Erwägungen zu gewährleisten. Die kollektive Bestrafung von rund zwei Millionen Menschen müsse beendet werden. Er forderte die Unterstützung der palästinensischen Einheit auf demokratischer Basis, möglicherweise durch UN-mandatierte und -kontrollierte Wahlen. Der Status quo der heiligen Stätten in Jerusalem müsse von allen Beteiligten strikt respektiert werden. „Die einzig mögliche Grundlage für eine gerechte und dauerhafte Lösung“, so Khalidi als einer der anerkanntesten Nahost-Experten der USA, können nur die „grundlegenden Bausteine der internationalen Ordnung“, „die Unzulässigkeit der gewaltsamen Aneignung von Territorium und […] die Illegalität der Besiedlung besetzten Territoriums durch Bürger des Besatzers“ sowie „das Recht der Flüchtlinge auf Rückkehr und Entschädigung […] und die Notwendigkeit einer internationalen Rolle bei der Lösung der Jerusalem-Frage“ festschreiben.

Die Bedeutung der Asymmetrie

Der Oslo-Prozess hat die Machtasymmetrie zwischen Israel und den Palästinenser:innen und das Gleichheitsprinzip ignoriert. Im Gegensatz zur Rolle, die einige internationale Akteur:innen in anderen Kontexten gespielt haben, wie z.B. die USA beim Erreichen des Friedens in Nordirland, haben sie im palästinensisch-israelischen Konflikt die Asymmetrien noch vertieft. Dies ist das dritte Versagen. „Oslo“ war für Israel eine Nebelwand, um die Palästinenser:innen politisch irrelevant zu machen, ihre Bindungen an ihr Land zu kappen und sie in fragmentierte und getrennte Gruppen von staatenlosen, rechtlosen und unterwürfigen Gruppen in Bantustan-ähnlichen Zonen zu verwandeln.

Die jüngsten Proteste haben die tieferen Ursachen des Konflikts und seine Asymmetrie offenbart. In Sheikh Jarrah versuchen israelische Behörden, Palästinenser:innen aus ihren Häusern zu vertreiben, weil sie Palästinenser:innen sind. Dies geschieht vor dem Hintergrund der langen Geschichte von Israels ethnic engineering in der gesamten Stadt. In Gaza setzt die Sprache internationaler Akteure Israel und die Palästinenser:innen gleich, während sie die Zahl der Opfer ignorieren und damit den Besatzer mit den Besetzten auf eine Stufe stellen. Besonders das schwere menschliche Leid in Gaza spricht Bände über die Asymmetrie, die tief in diesen Konflikt eingegraben ist. Der Gleichsetzung in vermeintlich liberalen Formulierungen, in denen „beide Seiten“ beschuldigt werden, liegt die stillschweigende Annahme zugrunde, dass beide Parteien militärisch gleichwertig sind und vor allem die gleichen moralischen Rechtfertigungen genießen.

Diese Gleichsetzung ignoriert das Wesen des israelischen Regimes über die Palästinenser:innen. Es behandelt sie seit Jahrzehnten als das Überbleibsel einer bedeutungslosen Gruppe mit minderwertigem Status, als Sicherheitsbedrohung oder demographisches Problem. Dass die palästinensische Frage zu einem unlösbaren Problem und Israel zu einem Apartheidstaat geworden ist, hat eben auch damit zu tun, dass die Internationalen dieses Überlegenheitsdenken stets ignorierten. „Wenn diese falsche Äquivalenz beibehalten wird“, meinte Khalidi vor dem Sicherheitsrat, „und wenn man zulässt, dass das einseitige Kräfteverhältnis zwischen den beiden Völkern die Ergebnisse diktiert, kann es niemals ein Ende […] der Unterdrückung geben, und der Sicherheitsrat wird für den Rest des 21. Jahrhunderts weiterhin wirkungslose Resolutionen herausgeben, so wie er es in den letzten Jahrzehnten getan hat.“

Dr. Hasan Ayoub

Dr. Hasan Ayoub ist Assistenzprofessor für Internationale Beziehungen an der An-Najah Universität Nablus im besetzten Westjordanland und leitet dort die Abteilung für Politische Wissenschaft.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2021. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


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