Zwanzig Jahre lang, von 2001 bis 2021, versprachen internationale, auch deutsche „Sicherheits“-Truppen den über 40 Millionen Afghan:innen die landesweite Durchsetzung von Menschen- und Frauenrechten. Anfang August 2021 verließen sie fluchtartig das Land, ließen dabei tonnenweise Kriegs- und Kampfgerät aller Art zurück. Nur zwei Wochen später übernahmen die Taliban die Macht: ganz so, als sei in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten nichts, aber auch gar nichts geschehen. Zum Jahresende schon hatten die Gotteskrieger fast alles wieder so eingerichtet wie unter ihrer ersten Herrschaft.
Alle höheren Verwaltungsposten, ausnahmslos alle Ämter der Rechtsprechung sind direkt mit Taliban oder engen Mittelsmännern besetzt. Die Frauen des Landes sind in die Häuser und unter die Schleier zurückgezwungen, also in Unsichtbarkeit und Unhörbarkeit. Geändert haben sich aber auch die Kleidung und das Erscheinungsbild der Männer, die sich wieder Bärte wachsen lassen müssen. Elektronische und Printmedien sind entweder gänzlich verstummt oder in Propagandaorgane des „Islamischen Emirats“ verwandelt. Mit Peitschenhieben vor aller Augen, mit willkürlichen Festnahmen und Verschleppungen zu jeder Zeit und an allen Orten wird jedem Journalisten, jeder Menschen- oder Frauenrechtsaktivistin, aber auch allen Beamt:innen, bevorzugt allen Soldaten und Polizistinnen der gewesenen Republik vor Augen geführt, dass Widerspruch jeglicher Art mit brutaler, in wachsender Zahl auch tödlicher Gewalt geahndet wird. Vertreibungen ganzer Gemeinden, zum Teil weitflächiger Landraub und rückhaltlose Ausplünderung durch „religiöse“ Steuern belehren die ethnischen und religiösen Minderheiten, dass die Gewalt der Taliban wie früher schon immer auch eine paschtunische Gewalt ist: erstes und letztes Mittel einer ethnischen Willkürherrschaft über eine multiethnische und multireligiöse Gesellschaft.
Kein Bild, kein Ton
Neu, wenn auch nicht ganz neu, sind nur der Hunger, die schutzlose Aussetzung an die Kälte und die Perspektivlosigkeit der Sorge ums nackte Überleben. Das Elend trifft alle, und es trifft sogar die Taliban: Wie die meisten Afghan:innen haben auch sie seit August 2021 keine Gehaltszahlung mehr erhalten, leiden auch sie unter dem weitgehenden Zusammenbruch des Geldverkehrs. Deshalb ist ihre Gewalt nicht nur eine ethnische und religiöse, sondern auch eine Gewalt des nackten Raubes. Deshalb wächst die Gewalt auch unter den Taliban, kommt es immer häufiger zu Überfällen von Taliban auf Taliban. Zur Ausweglosigkeit der Lage gehört, dass schon im August 2021 eine überlebensgefährdende humanitäre Krise ausgerufen wurde, weil schon damals feststand, dass die nach mehrjähriger Dürre sowieso eher ärmliche Ernte des vergangenen Jahres zum größten Teil verloren war.
Seither ist nichts Neues zu erfahren, weil es keine oder so gut wie keine Berichterstattung mehr gibt. Al Jazeera bestätigt im Mai 2022 ausdrücklich, was im August 2021 schon befürchtet wurde: dass 90 Prozent der Afghan:innen hungern müssen. Zahlen, die mitteilen würden, wie viele der vor dem Winter vom Hunger- und Kältetod bedrohten Menschen zwischenzeitlich an Hunger und Kälte gestorben sind, weiß auch der arabische Sender nicht zu nennen, lässt dafür aber einen Afghanen zu Wort kommen, der sagt: „Alles, was wir tun können, ist, den Hungertod nicht zu sterben.“
Das beredte Schweigen liegt allerdings nicht nur an der Gewalt der Taliban. Afghanistan ist der Welt keine Meldung mehr wert, nicht mal als Randglosse in der Nachrichten- und Bilderflut zum Ukraine-Krieg. Erinnert überhaupt noch jemand das Bild, in dem sich erschütternd verdichtete, was im August 2021 geschah? Jenes Bild, auf dem ein Mensch in die Tiefe stürzt, der sich an ein startendes Flugzeug geklammert hatte? Ein Mensch, der jetzt nur noch ein kleiner, vom Himmel torkelnder Punkt war? Denkt irgendwer noch an all die anderen Bilder aus Kabul, die Bilder von der Menge, die verzweifelt versucht, in den Flughafen zu gelangen? Bemerkt irgendwer, dass die wenigen Meldungen, die uns überhaupt erreichen, Meldungen von Bombenanschlägen sind, die mal fünf, mal sieben, mal zehn, einmal auch 70 Menschen in den Tod reißen?
Raus, nur raus
Zu denen, die im August 2021 Tag und Nacht versuchten, in den Flughafen Kabuls zu gelangen, gehörten auch die Mitarbeiter:innen der medico-Partnerorganisation Afghanistan Human Rights and Democracy Organization (AHRDO). Anders als viele andere brachen sie das sinnlose Unterfangen früh ab und begaben sich auf eine gewagte Reise. Sie scharten nahezu all ihre Angehörigen um sich, mieteten sich Reisebusse und jagten über Nacht quer durch das ganze Land zur pakistanischen Grenze. Mehrmals von Taliban gestoppt, wurde ihnen glücklicherweise stets die Weiterfahrt gestattet, eher aus Unwissenheit denn aus Gnade. Noch in der Nacht gelangten die über 180 Flüchtenden auf die pakistanische Seite, wo Verwandte sie mit einer Flotte von Pkw ins nahegelegene Quetta schafften, die Hauptstadt der selbst schon seit Jahren kriegszerrütteten Provinz Belutschistan. Erste Unterkunft war ein mit zwei Toiletten ausgestatteter Hochzeitssaal.
Noch in der Fluchtnacht hatte Hadi Marifat, Geschäftsführer von AHRDO, das medico-Büro unterrichtet. Von nun an blieben wir über Wochen in täglicher Verbindung, telefonierten oft mehrmals am Tag. Kurzentschlossen widmeten wir die zur Unterstützung der AHRDO-Arbeit in Afghanistan verplanten Mittel in Fluchtgelder um, übernahmen die Kosten für Unterkunft und Verpflegung in Quetta, schließlich die Kosten des wiederum abenteuerlichen Umzugs aller Geflüchteten in die Hauptstadt Islamabad. Zeitgleich begannen Verhandlungen mit der deutschen und der kanadischen Botschaft in Pakistan, an denen sich auch Kolleg:innen der internationalen NGO „Frontline Defenders“ beteiligten. Die Botschaften erreichten die stillschweigende Duldung der pakistanischen Behörden, damit unsere Partner:innen vor der Rückschiebung ins Land der Taliban geschützt waren, die nicht wenige Geflüchtete traf und weiter trifft. Ende des Jahres erklärte sich schließlich Kanada bereit, die AHRDO-Mitarbeiter:innen samt ihren Angehörigen aufzunehmen. Wenige Wochen später trafen alle sicher in Edmonton ein, einer Stadt, von der wir alle zuvor noch nie etwas gehört hatten. Derweil hat die sonst eher entschlossen auftretende deutsche Außenministerin zur Lage in Afghanistan in all diesen Monaten nur zu berichten, dass Deutschland allein solche Afghan:innen aufnehmen wird, die es bis Ende August 2021 auf deutsche Listen geschafft haben. Von denen, das war von der Ministerin zu erfahren, sei die Mehrzahl noch im Land.
Ein Deal mit den Taliban?
Unmittelbar nach der Machtübernahme der Taliban wurden afghanische Vermögenswerte weltweit eingefroren. Allein die USA blockierten Gelder in Höhe von sieben Milliarden Dollar. Schon vor dem Jahreswechsel wurden erste Forderungen laut, die Blockaden und Sanktionen zu lockern, um die humanitäre Krise wenigstens einhegen zu können. Im Land verbliebene Hilfsorganisationen kündigten an, ihre Arbeit fortsetzen zu wollen, verlangten deshalb auch ihrerseits, wieder Geld ins Land fließen zu lassen. Verwiesen wurde dazu auf lokale Unterschiede in der Talibanherrschaft, auf die Bereitschaft einzelner Kommandanten, humanitäre Helfer:innen, aber auch Lehrer:innen weiter ihre Arbeit tun zu lassen.
Lassen die politischen wie die ökonomischen Differenzen unter den Taliban solche Widersprüche zumindest örtlich und zeitweilig zu, gilt allerdings zugleich, dass die bewaffneten Koranschüler im Ganzen doch eine weltweit unvergleichlich radikale Kraft sind. So ließ Mullah Mohammed Hassan Akhund, ihr regierender Premierminister, den Untertanen seines Emirats mitteilen, dass sie sich in den Überlebensfragen des Brotes und der Unterkunft nicht an die Regierung, sondern direkt an Allah wenden sollen: „Wir Taliban haben euch die Freiheit gebracht, das allein war und ist unsere Aufgabe!“ Der Premierminister der Rechtgläubigen sprach damit in aller Offenheit aus, was schon in den nächsten Monaten, gegebenenfalls in der Frist weniger Jahre geschehen kann. Tatsächlich könnte es in Afghanistan mit der humanitären auch zu einer politischen Katastrophe kommen. Zugleich unfähig und unwillig zum Führen von „Regierungsgeschäften“, könnten die Taliban sich willentlich an ihren eigenen glorreichen Untergang machen und diesen Untergang zugleich zur nationalen „Endlösung“ machen wollen: zum wortwörtlich finalen Beweis ihres wahren Glaubens.
Für das Land aber könnte das heißen, ohne Intervention von außen einen Neuanfang zu finden: ein Afghanistan nach den Taliban, das dann versuchen könnte, doch noch und zumindest im Ansatz ein Land des Menschen- und Frauenrechts zu werden. Damit kehrte die Alternative wieder, die durch die Invasion der USA und ihrer Verbündeten 2001 im Keim erstickt wurde. Auch damals waren ein Einsturz der Talibanherrschaft und damit eine innerafghanische Wende zum wie begrenzt auch immer Besseren zumindest nicht auszuschließen.
Die Tiefengrammatik des Konflikts
An dieser Stelle meldet sich die Tiefengrammatik des afghanischen Konflikts. Schon genannt wurde der in der Kolonialgeschichte begründete und in Jahrzehnten des Krieges fortlaufend vertiefte ethnische Konflikt zwischen der paschtunischen Mehrheit und den anderen ethnischen Gruppen. In diesem Konflikt geht es heute allem voran um den Genozid, der den Hazara droht, der traditionell am meisten unterdrückten Minderheit.
Hinzu treten zwei andere Konfliktlinien der inneren Geschichte der afghanischen Moderne: die Linie, in der afghanische Männer gegen die Frauen des Landes kämpfen, und die Linie, in der die Dörfer die Städte und alles Städtische zurückweisen. Soll die Gewalt in Afghanistan jemals ein Ende finden, muss es auf allen drei Linien zu einer Wende, einer Umkehr kommen. Die Chancen dafür stehen so schlecht, dass man der naheliegenden Resignation ebenso gut den Willen entgegensetzen kann, sich gerade für das scheinbar Unmögliche einzusetzen. Das immerhin haben Afghan:innen in den zwanzig Jahren der Republik von 2001 tun können: Sie haben dort auf eigenes Risiko Räume öffnen können, es mit dem Unmöglichen zu versuchen.
Mit von der Partie war der medico-Partner AHRDO, der 2017 – heute kaum noch vorstellbar – eine „Untergrunduniversität“ durchführte, an der im Lauf einer Woche 700 Menschen teilnahmen. AHRDO setzt diese Arbeit jetzt von Kanada aus fort, benennt in Edmonton die Forderungen eines möglichen Übergangs: Menschen-, Frauen- und Minderheitenrechte müssen geschützt werden. Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sollen gelten. Eine inklusive Übergangsregierung soll an die Stelle des Taliban-Regimes treten. Freie Wahlen. Dezentralisierung und Kommunalisierung der Sicherheit. Ins Spiel zu bringen sind diese Forderungen zuerst und vor allem, wenn es um die Freigabe der eingefrorenen afghanischen Ressourcen geht. Verbindlich bleiben sie, solange es trotz alledem Afghan:innen gibt, die sich hinter ihnen versammeln.
Dieser Beitrag ist Teil des medico-Jahresberichts 2021, den Sie hier online lesen und kostenlos bestellen können.