WHO

Zwischen Krise und Neustart

12.07.2022   Lesezeit: 7 min

Die Weltgesundheitsversammlung in Genf spiegelte den schwierigen Stand des Mulitlateralismus und seiner Institutionen wider.

Von Dr. Andreas Wulf

Langsam legt sich der Staub, den die Debatten auf der 75. Weltgesundheitsversammlung (WHA) vom 22. bis 28. Mai in Genf aufgewirbelt haben. Es waren vor allem zwei konkurrierende Resolutionen zum Krieg in der Ukraine sowie die Kontroverse um die Strategie gegen HIV, virale Hepatitis und sexuell übertragbare Krankheiten, die die Delegierten bis zum letzten Moment in Abstimmungsrunden im Genfer Völkerpalast festhielten. Bei beiden Themen waren die Konfliktlinien klar gezogen. Aber in beiden Fällen entschied sich eine Mehrheit der Delegierten, an den Abstimmungen entweder nicht teilzunehmen oder sich zu enthalten. So setzte sich bei der Ukraine-Debatte die Resolution „des Westens“ mit seiner klaren Benennung und Verurteilung des Aggressors gegen die kleine Schar von treuen Verbündeten Russlands mit 88 zu 12 Stimmen durch. Aber mindestens ebenso viele Teilnehmende aus dem Globalen Süden kritisierten die Resolution als eine „Politisierung“ der WHA und enthielten sich. Ein schwaches Argument, gibt es doch seit vielen Jahren regelmäßig Resolutionen zu den Gesundheitsfolgen der israelischen Besatzung palästinensischer Gebiete.

Auch bei dem „technischen“ Thema der Strategie zur Bekämpfung sexuell übertragbarer Krankheiten konnten sich die Staaten im Vorfeld nicht auf eine konsensuelle Resolution einigen. Das zeigte, wie sehr nicht nur physische Territorien umkämpft bleiben, sondern auch Körper und Identitäten der Menschen. Eine „progressive“ Ländergruppe wollte Begriffe wie „sexuelle Rechte“ und „sexuelle Identität“ und die explizite Erwähnung wichtiger Zielgruppen dieser Gesundheitsprogramme wie „Männer, die Sex mit Männern haben“ nicht aufgeben und hatte dabei auch die Unterstützung der WHO. Ihr stand eine allerdings ebenso entschlossene Gruppe konservativer Staaten gegenüber, angeführt von Saudi-Arabien, Ägypten und Nigeria, die diese Referenzen als nicht im Einklang mit ihren kulturellen und religiösen Werten erachteten und daher streichen wollten. Nur noch ein Drittel der anwesenden Mitgliedstaaten stimmten der Resolution schließlich zu, der Rest enthielt sich oder nahm an der Abstimmung nicht teil.

Akzente für eine gerechte Gesundheitspolitik

Diese Ergebnisse spiegeln die Realität einer wenig geeinten „Global Health Community“, wie sie bei der WHO angesichts globaler Gesundheitskrisen und besonders bei der aktuellen Covid-19-Pandemie doch so gerne beschworen wird. Allerdings zeigte sich das höchste Entscheidungsgremium der WHO bei anderen wichtigen Themen geschlossen, allen voran bei der Wiederwahl des amtierenden Generaldirektors Dr. Tedros. Dieser konnte stolz verkünden, von allen sechs Weltregionen der WHO zur zweiten (und letzten) fünfjährigen Amtszeit nominiert worden zu sein – trotz deutlicher Versuche von Äthiopien innerhalb der afrikanischen Gruppe, Tedros für seine vermeintliche Positionierung zugunsten der Rebellen in der Provinz Tigray zu beschädigen.

Auch die Resolution zu „Well-being and Health Promotion“ wurde angenommen und bestärkte damit Tedros Prioritätensetzung für seine zweite Amtszeit: Gegenüber der Zersplitterung in einzelne Programme zur Krankheitsbekämpfung will er die Stärkung von Gesundheitssystemen und Gesundheitsförderung in den Vordergrund rücken, um eine kohärentere und gerechtere Gesundheitspolitik durchzusetzen. In der Folge wird es darum gehen, auch den Umsetzungsplan positiv zu beeinflussen und die Idee von „Gesundheit für Alle“, die noch aus den Primary-Health-Care-Konzepten in die Gesundheitsförderung eingeflossen ist, zu stärken.

Ein großer Erfolg war für die WHO auch die Bestätigung eines „nachhaltigen Finanzierungsplans“. Mit diesem verpflichten sich die Mitgliedsländer, ihre Beiträge an die WHO im nächsten Jahr um 20 Prozent und schrittweise bis 2030 um 50 Prozent zu erhöhen. Zwar machen diese flexibel einsetzbaren Mittel aktuell weniger als 20 Prozent des Gesamtbudgets der WHO aus, sodass selbst eine Verdoppelung noch weniger als die Hälfte der Gesamtkosten decken wird. Dennoch ist es ein Durchbruch und eine klare Abkehr von den über lange Zeit eingefrorenen Beträgen, durch die die WHO immer mehr in Abhängigkeit großer zusätzlicher Geberländer und Institutionen wie die Gates-Stiftung gekommen ist. Der deutsche Delegationsleiter Björn Kümmel hatte sich bei der Leitung der entsprechenden Arbeitsgruppe im Vorfeld große Anerkennung für seinen beharrlichen Einsatz für diese Einigung verdient.

Privatisierungsversuche

Nicht weniger präsent war auch diesmal das große Thema Covid-19, auch wenn die Debatte um einen neuen Pandemievertrag schon im letzten November an eine Arbeitsgruppe der Mitgliedsländer ausgelagert worden war. Diese wird erst im Juli einen ersten Entwurf über ein solches neues Instrument vorlegen, das einer stärkeren global verbindlichen Pandemieprävention, -vorbereitung, -erkennung und -bewältigung dienen soll. Hierbei steht auch die Frage im Raum, wie sehr der WHO ihre „führende Rolle“, die sie laut ihrer Verfassung von 1948 bei der globalen Gesundheit spielen soll, tatsächlich zuerkannt wird oder ob sich die Kräfte durchsetzen, die stark auf neue Strukturen und parallele Institutionen setzen. Für solche „Innovationen“ steht wie üblich der Name Bill Gates.

Dieser nahm an der WHA zwar nicht teil, wartete aber nur wenige Tage zuvor mit seinem neuesten Vorschlag auf: einem 3.000 Personen starken „Global Epidemic Response and Mobilization Team“ mit dem passenden Akronym GERM (englisch für Keim oder Bazille). Sogar die Kosten waren schon kalkuliert, die nötig seien, um die „besten Köpfe“ zu rekrutieren. Dieses Team solle zwar bei der WHO angesiedelt sein, aber eigenständig den Pandemiefall ausrufen können und ihn dann global managen. Es ist erst mal ein Vorschlag. Aber es wäre nicht Bill Gates, dessen Vermögen auf 127 Milliarden US-Dollar geschätzt wird, wenn er nicht gleich die für die ersten fünf Jahre von GERM benötigten fünf Milliarden US-Dollar auf den Tisch gelegt hätte. Und wer könnte so einem großzügigen Angebot schon widerstehen?

Feindbild Weltregierung

Mit der gleichen Zwangsläufigkeit, mit der das vergiftete Angebot von Gates kommt, macht auch die „Gegenseite“ mobil. Nach der Weltgesundheitsversammlung sahen konservative und rechtspopulistische Kräfte in den USA ihren Albtraum einer globalen Weltregierung unter Gates und Tedros bestätigt. Unter Präsident Trump war dessen Krieg gegen den Multilateralismus gleich zu Beginn der Pandemie im angekündigten Ausstieg der USA aus der WHO eskaliert. Auch die verabredeten Budget-Mittel wurden nicht gezahlt. Daran knüpfen rechte Kräfte jetzt wieder an und behaupten in ihren Medien, die WHO wolle die Souveränität der Staaten in der Pandemiebekämpfung unterminieren und der Generaldirektor wolle sich mit der Pandemiekeule zum geheimen Herrscher der Welt aufschwingen. Diese Sprache wurde auch von der deutschen AfD und verwandten Welt-Verschwörungskreisen aufgegriffen.

Dabei haben die Erfahrungen der Pandemie gezeigt, dass eine „America First“-Politik und die Blockaden beim Teilen von Wissen und Fähigkeiten zur Ausweitung der Herstellung von wichtigen Gesundheitsgütern wie Masken, Tests, Medikamente und Impfstoffe wirksame globale Antworten behindert haben. Gerade ist eine ausführliche Analyse der langjährigen medico-Partnerorganisation Health Action International erschienen, die die völlig unzureichende globale Koordination von Arzneimittelstudien in der Covid-19-Pandemie aufzeigt. Die Folge: Wichtige Ressourcen wurden vergeudet, geringere Ergebnisse als möglich erzielt.

Die Lehren hieraus liegen auf der Hand: Die Rolle der WHO müsste deutlich gestärkt, ihre fachliche Autorität anerkannt werden. Dem spontanen Impuls „Rette sich, wer kann“ eine verlässliche und rasch handlungsfähige solidarische Pandemiebekämpfung entgegenzusetzen, sollte im gemeinsamen Interesse aller sein. Dagegen ist etwa die Blockade des TRIPS Waivers zur Aussetzung der Patente bei der Welthandelsorganisation (WTO) seit mehr als eineinhalb Jahren deutlich mehr dazu angetan, Misstrauen gegenüber einer „Global Health Governance“ zu schüren, als diese von rechts instrumentalisierten Ängste vor einer vermeintlichen Weltgesundheitspolizei in Genf.

Worüber allerdings auch auf dieser Weltgesundheitsversammlung zu wenig gesprochen wurde, sind die tieferen strukturellen Ursachen der Pandemien: der Raubbau an Naturflächen, die Entwaldung für Rohstoff-Extraktivismus und die industrielle Tier- und Pflanzenproduktion, die sich verschärfende Klimakrise. All das trägt zur Zunahme von potenziellen neuen und für den Menschen bedrohlichen Erregern bei („It’s the economy, stupid!“) und müsste in den laufenden Verhandlungen über einen möglichen Pandemievertrag mit Nachdruck angegangen werden. In den Kämpfen um Klimagerechtigkeit und ein ökologisches Gleichgewicht könnte die WHO eine wichtige Verbündete sein. Noch aber ist sie es nicht.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Andreas Wulf

Andreas Wulf ist Arzt und seit 1998 bei medico international. Er ist Nothilfe-Referent und arbeitet zu Themen globaler Gesundheit.


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