Guatemala

Eine einschneidende Erfahrung

09.01.2025   Lesezeit: 7 min  
#demokratie  #lateinamerika 

2023 hatten Massenproteste Indigener den Amtsantritt der progressiven Regierung unter Arévalos ermöglicht. Ein Jahr später zieht Sandra Morán eine erste Bilanz.

Sandra Morán war Mitbegründerin der ersten lesbischen Organisation Guatemalas. 2015 war sie die erste Parlamentsabgeordnete des Landes, die sich als Feministin bezeichnet. Sie ist aktiv in sozialen Bewegungen und Teil der Bewegung für eine konstituierende Versammlung zur Erarbeitung einer neuen, plurinationalen Verfassung. Mit ihr sprachen wir über die Spielräume der neuen Regierung gegenüber dem Pakt der Korrupten und was sich aus der Machtdemonstration der indigenen Bewegungen lernen lässt.

medico: Vor zehn Monaten hat Bernardo Arévalo das Präsidentenamt angetreten. Wie schätzt du die Spielräume seiner Regierung ein?

Sandra Morán: Die neue Regierung von Arévalos Partei Semilla ist im Januar 2024 mit einer sehr breiten Unterstützung aus der Bevölkerung gestartet. Gleichzeitig war das Parlament komplett feindlich eingestellt. Die rechten Kräfte haben sogar noch versucht, den Amtsantritt von Arévalo mit allen legalen und illegalen Tricks zu verhindern. Die Vorgängerregierung hat allerdings einige Hindernisse hinterlassen, die die neue Regierung viel Energie gekostet und Veränderungen nur schwer umsetzbar gemacht hat. Unter anderem war noch den Haushalt verabschiedet, korruptes Personal eingestellt und Verträge mit Bauunternehmen geschlossen worden, die ihren Interessen dienen. Arévalo war damit letztlich sehr erschwert sich gegenüber den Kräften im Land durchzusetzen, die jede progressive Entwicklung behindern. Gleichzeitig waren die Erwartungen in der Bevölkerung sehr groß und die Menschen ungeduldig. So hat die neue Regierung in kurzer Zeit viel Rückhalt eingebüßt.

Gleichzeitig gibt es kleine Fortschritte, die gemacht werden, aber das dauert und geht für viele zu langsam. Die Besetzung der Gerichte verlief beispielsweise demokratischer und transparenter als früher. Die Korrupten konnten zwar viele ihrer Kandidat:innen platzieren, aber es hätte deutlich schlimmer kommen können.

Welche Auswirkungen hat das alles auf den Pakt der Korrupten, das Netzwerk im Hintergrund, das viele Institutionen Guatemalas kontrolliert?

Einige Akteure der korrupten Kräfte haben Macht eingebüßt, Manches ist dadurch für sie komplizierter geworden.  In der vergangenen Legislaturperiode lief es so, dass ab Tag Eins Stimmen gekauft wurden und Fraktionen gegen Bezahlung der Abgeordneten aufgebaut wurden. Der Druck, da mitzumachen, war enorm. Im aktuellen Parlament sind 90 neue Abgeordnete und mit Semilla gibt es mehr Spielräume, sich der Korruption zu verweigern. Die Abgeordneten sind jetzt stärker ihren Wähler:innen als den Korrupten verpflichtet. Und obwohl die Gründung als Fraktion juristisch verhindert und die Partei eventuell verboten wird, ist Semilla mit 23 Abgeordneten, die gemeinsam handeln, zurzeit die mächtigste Fraktion. Das ist neu.

Aber das mafiöse Netzwerk in Unternehmen, Politik, Bürokratie und Kriminalität ist davon nicht wirklich betroffen. Insbesondere die höchsten Gerichte und die Generalstaatsanwaltschaft sind weiterhin kooptiert und ihr stärkstes Werkzeug ist die Drohung mit Strafverfolgung und Gefängnis. Die betrifft uns alle, inklusive der Regierung. Existierende Spielräume drohen so, jederzeit eingeschränkt zu werden.  Deswegen sind selbst unter der neuen Regierung bereits Menschen ins Exil gegangen. Manchmal ist der Druck größer, manchmal schwächer, aber die Drohung bleibt. Die Wiederwahl von Trump verschafft den korrupten Kräften Aufwind. Viele hoffen, ihre US-Visa zurückzubekommen, die die Biden-Regierung ihnen entzogen hat.

Die Regierung Arévalo steht in der Schuld der indigenen Bewegungen, die den Regierungsantritt überhaupt erst ermöglicht hat. Hat sich das Verhältnis zwischen Staat und Bewegungen verändert?

Im ursprünglichen Programm von Semilla stand nichts bezüglich der indigenen Gemeinden, das haben sie erst später nach den Protesten vor allem indigener Bewegungen ergänzt.  Seit Januar finden monatliche Gesprächsrunden zwischen indigenen Vertreter:innen und der Regierung statt. Diese Institutionalisierung eines Austausches ist historisch einmalig. Inzwischen hat die Regierung auch mit den Autoritäten verschiedener indigener Gemeinschaften Verträge geschlossen, in denen ihre Legitimität anerkannt und verschiedene Schritte zur Stärkung ihrer Unabhängigkeit und Entwicklungen vor allem im Bildungs- und Gesundheitsbereich vereinbart werden.

Erstmals in der Geschichte Guatemalas tritt ein gewählter und anerkannter Präsident gewählten und anerkannten indigenen Autoritäten auf Augenhöhe entgegen. Arévalos Reisen in indigene Gemeinden werden sehr genau registriert und geschätzt. Manchen mag das nicht genug sein, aber auf der symbolischen Ebene sind sie enorm bedeutsam und die praktischen Konsequenzen für eine Gemeinde sind nicht zu unterschätzen, wenn sie einen Gesundheitsposten bekommt, von dem sie vorher eine zehnstündige Reise trennte.

Hat sich mit dem monatelangen Generalstreik und der Präsenz der indigenen Bewegungen in der Hauptstadt auch das Verhältnis zu den sozialen Bewegungen des Landes verändert?

Vor dem Streik waren die sozialen Bewegungen Guatemalas in einer tiefen Krise. Wir hatten keine Räume des Austauschs und schon gar keine gemeinsame Strategie. Klar, die Bewegungen der Bäuer:innen, der Studierenden, Frauen und Feministinnen waren immer da und haben ihre Aktionen gemacht, aber isoliert. Im Zuge der Proteste 2015, die die damalige Regierung stürzten, institutionalisierte sich eine Versammlung der Bewegungen, in der ein strategischer Austausch begann und gemeinsame Aktionen vorbereitet wurden. Schon bald aber verlor sie an Stärke, unsere Initiativen waren nicht in der Lage eine tatsächliche Wirkung zu entfalten.  Im Gegensatz zu der historischen Initiative, die die indigenen Bewegungen im Herbst 2023 ergriffen. Sie kamen als organisierte Gemeinden, mit der ganzen Autorität und Legitimität ihrer Geschichte und sie hatten einen Plan. Dem mussten wir uns anschließen.

Die Initiative der indigenen Gemeinschaften hat vollkommen verändert, wer in der ersten Reihe steht. Ihre Autoritäten waren es, die den Protest angeführt haben und ein für uns neues Verständnis des sozialen Kampfes implementiert haben. Die bisherigen Bewegungsakteure wurden in die zweite Reihe oder ganz verdrängt. In den Protesten 2023 hatten wir keine eigene Stimme, sondern haben den Generalstreik solidarisch begleitet – und enorm viel gelernt. Hinzu kommt die ganz normale Bevölkerung, die wie schon 2015 auch 2023/2024 eine große Rolle gespielt hat. In den sozialen Bewegungen Guatemalas sind nicht sonderlich viele Menschen organisiert. Es waren deshalb die unorganisierten Bürgerinnen und Bürger die die Situation dominiert haben. Wie bei den Wahlen: Die unorganisierte Jugend des Landes hat mit ihrem individuellen Wahlverhalten einen entscheidenden Unterschied gemacht.

Die Frage der sozialen Bewegungen ist ja immer, wie wir die unorganisierte Bevölkerung erreichen. Wer ruft sie auf und kommt sie? In diesem Fall waren es die indigenen Autoritäten, die gerufen haben und die Leute sind gekommen. In einem absolut rassistischen Land ist das ein beeindruckender Wandel. Die indigenen Bewegungen und ihre Autoritäten haben sich damit als politisches Subjekt konstituiert.

Und die Linke?

Das Verhältnis zwischen indigenen Bewegungen und der guatemaltekischen Linken ist zwiespältig. Die sozialen Bewegungen und die Linke stehen vor enormen Herausforderungen. Natürlich waren sehr viele Linke beim Generalstreik dabei, aber der Generalstreik wurde nicht von der Linken getragen und sie haben darin auch keine führenden Rollen eingenommen,  denn das hätte die Realität verzerrt. Die indigenen Gemeinschaften sind sehr vielfältig und heterogen zusammengesetzt: natürlich gibt es auch dort Linke, aber eben auch Fundamentalist:innen, Konservative und so weiter. Linke verstehen und sehen das oft nicht.

Was bedeutet die Erfahrung des Generalstreiks für den Vorschlag einer konstituierenden Versammlung, die eine neue, plurinationale Verfassung für Guatemala erarbeiten soll?

Der Vorschlag, Guatemala eine neue Verfassung für einen plurinationalen Staat zu geben, in dessen Kern die Gemeinden gestärkt werden, ist sehr abstrakt. Die Erfahrung des Generalstreiks hat diese Vorstellung aber konkret werden lassen und in gewisser Weise eine Art Tür in diese Richtung geöffnet. Die indigenen Gemeinschaften sind in Erscheinung getreten und damit das Potential dessen, was ein plurinationaler Staat sein könnte. 

Menschenrechte und Demokratie sind bereits die Basis für die jetzige Verfassung, die in einem solchen Prozess weiter vertieft werden würden. Aber der plurinationale Staat ist keine Idee, die schon morgen versucht werden sollte, in die Tat umzusetzen. Die Rechte bekämpft nicht nur diesen Prozess, sondern die Werte der Verfassung als solcher. Und das Kräfteverhältnis ist schlecht für uns. Würde morgen eine konstituierende Versammlung einberufen, bekämen wir eine schlechtere Verfassung als die, die wir haben. Also konzentrieren wir uns im Moment darauf, über den Vorschlag zu sprechen und die Basis auszubauen.

Guatemala ist eine Ausnahme in der politischen Gegenwart Zentralamerikas. Haben die Geschehnisse hier einen Einfluss auf politische Bewegungen in den Nachbarländern, die in unterschiedlichem Ausmaß autoritär regiert werden?

Sicher wird das, was hier passiert ist, in den indigenen Gemeinschaften der Region wahrgenommen. Sie leben, wie wir Frauen erzogen wurden: Ohne Macht. Jetzt sehen sie, welchen Handlungsmacht sie als indigene Gemeinden entfalten können. Die Gewalt, der sie permanent ausgesetzt sind, soll verhindern, dass ein Bewusstsein der eigenen Stärke entsteht. Aber genau darum geht es: Der Gewalt trotzen und sich der Stärke bewusst werden, sie erfahren und leben. Wie das geht, zeigt die indigene Erfahrung in Guatemala.

Das Interview führten Jana Flörchinger und Moritz Krawinkel.


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