Brasilien: Begegnungen mit der Bewegung der Landlosen

20.08.2004   Lesezeit: 7 min

"Als ich zum MST kam, habe ich in erster Linie Frieden gesucht. Ein Stück Land, ein paar Obstbäume vielleicht, aber Fernsehen oder Kühlschrank, das waren unvorstellbare Dinge für mich; weiter weg als der Mond" Damals, so Cabecinha, ein Veteran der brasilianischen Landlosenbewegung, »hatte ich keine Träume mehr. Ich hatte an der Küste mein Land verloren, war als Goldsucher gescheitert und saß buchstäblich auf der Straße, ohne Schulausbildung, ohne feste Adresse, ohne Papiere. Dann traf ich die Leute vom MST. Die ziehen auch durchs Land, aber sie haben eine Richtung, einen Traum … und eine Idee, wie dieser Traum verwirklicht werden kann. Das hat mir gefallen, also habe ich mich gemeinsam mit ihnen auf den Weg gemacht. Damals wusste ich noch nicht, dass mich der Krieg erwartete«.

Hellwach, mit verschmitzter Miene erzählt Cabecinha nun von den Anfängen der brasilianischen Landlosenbewegung. Die ganze Zeit über, die wir zuvor mit den Gesundheitsverantwortlichen von Palmares über die lokale Situation geredet haben, saß der alte Mann, dessen Name in etwa »schlaues Köpfchen« bedeutet, mit geschlossenen Augen da. Eingenickt, dachten wir, bei 34 Grad und über 90% Luftfeuchtigkeit selbst noch am späten Abend ja auch kein Wunder. Irrtum, so Conchita, die den Leuten im Ort das Lesen und Schreiben beigebracht hat: Cabecinha ist immer hellwach. Zu viele böse Überraschungen hat er in seinem Leben erlebt.

Zeitreise

Palmares, genauer: Palmares II, benannt nach der ersten freien Republik entflohener Sklaven, ist eine der ältesten und bedeutendsten Landbesetzungen des MST. Wie viele andere, liegt sie im Bundesstaat Pará, hoch oben im Norden des Landes. Aber statt eines »revolutionären Camps« vermittelt Palmares II eher den Eindruck einer verschlafenen Vorstadt-Siedlung. Kleine Häuschen mit Vorgärten, zwei Kirchen, ein paar Läden und Kneipen, nur hier und da das Symbol des MST. Aber an Überraschungen haben wir uns auf unsere Reise durch das Brasilien des Ignacio »Lula« da Silva schon ein wenig gewöhnt.

Seit bald zwei Wochen sind wir bereits unterwegs. In den Favelas von Rio de Janeiro, der »wunderbaren Stadt«, haben wir Menschen getroffen, die mit Hip-Hop, Straßentheater und Video-Kunst einen allerdings bewundernswerten Kampf um Selbstbehauptung führen. In Montes Claros, im Bundesstaat Minas Gerais, wären wir beinahe Horst Köhler, dem neuen Bundespräsidenten, bei seiner letzten Amtshandlung als Chef des IWF über den Weg gelaufen: der Verteilung von Milch an die Ärmsten, denen die Milch zuvor durch vom IWF aufgezwungene Strukturreformen entzogen worden war. In Brasilia, dem einst utopischen Projekt für eine neue Stadt, führten wir ernste Gespräche mit Patrus Ananias, dem Minister für soziale Angelegenheiten, der seine Aufgabe mit dem Versuch vergleicht, das Rad eines Wagens während der Fahrt zu wechseln. Und nun also in Amazonien, der grünen Lunge unseres Planeten, wo es uns den Atem verschlägt.

Kilometer um Kilometer fahren wir auf dem Weg nach Palmares II auf einer schnurgeraden Strasse, die weit und breit kein Baum mehr säumt. Nur vereinzelt tauchen noch riesige abgestorbene Baumstümpfe auf, die davon zeugen, dass hier einmal Urwald gewesen sein muss. Dann, inmitten der Einöde, in unmittelbarer Nähe zur Strasse ein Ensemble hochaufragender verkohlter Baumstämme, ganz oben die rote Flagge des MST. Was sich wie ein modernes Kunstwerk ausnimmt, ist das Mahnmal für ein Massaker. Hier, in Carajás, tötete die Militärpolizei 1996 eine Delegation von Landarbeitern, die dem Versprechen der lokalen Regierung auf Nahrungsmittelhilfen und Trinkwasser gefolgt waren. Noch wissen wir nicht, dass Cabecinha Augenzeuge dieses Massakers war. Von Carajás aber kennen wir Bilder. Bilder von unmenschlicher Ausbeutung. Bilder von Menschen, die wie eine Armee von Ameisen in einem Loch graben, das einst ein Berg war. Bilder aus den Arbeitshöllen dieses größten Rohstoff-Extraktionsgebietes des Landes, die der brasilianische Fotograf Sebastiao Salgado aufgenommen hatte.

Die Bilder entstanden 1988, vier Jahre nach dem offiziellen Ende der brasilianischen Militärdiktatur und hundert Jahre nach Abschaffung der Sklaverei. Es war die Zeit, als in Pará ein Goldrausch ausbrach, der Hunderttausende von Glücksuchern in die auf der Suche nach Reichtum völlig entwaldete Hochebene trieb – unter ihnen auch Cabecinha.

»Tagsüber war es unerträglich heiß, aber auch nachts stand das Thermometer immer auf 38«, erinnert sich Cabecinha mit einer Anspielung auf die geläufigste brasilianische Handfeuerwaffe, eine 38er, die in den Zeiten des Goldrausches den Killerkommandos der Großgrundbesitzer ziemlich locker saß. Reich geworden ist wohl kaum einer in dieser Zeit, sieht man vom Rohstoffkonzern Vale do Rio Doce ab, der mittlerweile zu einem der wenigen brasilianischen Global Player avanciert ist, mit eigenem Lobbybüro in Brüssel und einem Umsatz, der 13,8% des brasilianischen Bruttosozialproduktes ausmacht.

Leute ohne Land

Brasilien ist ein riesiges Land mit nur wenigen Bewohnern und dennoch haben viele Menschen kein Land, sagt der MST. Was aus der Ferne noch etwas verwirrend klingt, findet vor Ort sofort seine Aufklärung. Denn in Pará treffen die Widersprüche unmittelbar aufeinander. Auf der einen Seite global agierende Konzerne und semifeudale Großgrundbesitzer samt ihrer paramilitärischen Einheiten, auf der anderen die Landlosen, unterstützt von Kirchen und NGOs. Langsam gewinnen wir ein Bild. Cesar Benjamin, einer der renommiertesten Kritiker der PT und ehemaliger Weggefährte Lulas, nennt es die »brasilianische Option«: »Das Ziel ist eine erfolgreiche Agrarreform. Der Weg dorthin führt über die Aneignung von Land, über den Aufbau sozialer Strukturen, über Bildung, Gesundheit, Kleinkredite, Infrastruktur, Technologie. Wichtigster Motor dieser Entwicklung ist das MST.«

Mit dieser Einschätzung steht Cesar Benjamin nicht alleine. In all den Gesprächen, die wir auf unserer Reise führen, fallen immer wieder die drei Buchstaben: MST. Der Lula-Regierung aber scheint die Option der Landreform aus Rücksicht auf das »Brasilienrisiko«, gehandelt bei den New Yorker Finanzanalysten, weitgehend abhanden gekommen zu sein. Dieser Meinung ist auch Thomas Hourtienne, Professor an der Universität von Belem und Mitbegründer des Berliner Lateinamerika-Institutes. Er sieht das erste Jahr der Lula-Regierung, auf die sich so viel Hoffnung gerichtet hatte, äußerst kritisch. Das MST aber zählt für ihn nach wie vor zu den Hoffnungsträgern auf soziale Veränderung. Wohl auch deshalb hat seine Forschungseinheit zuletzt die wirtschaftlichen Grundlagen der assentamentos, der Landbesetzungen des MST in Pará untersucht.

Frieden und Krieg

Es sieht so aus, dass Cabecinhas viele Nachfolger finden wird, »schlaue Köpfchen«, die auf ein Leben in Würde hoffen, auch wenn sie dafür erst einmal in den Krieg ziehen müssen. »Ja, ich habe mein Häuschen, ich habe einen Kühlschrank, und vor nicht allzu langer Zeit habe ich mir sogar einen Fernseher leisten können. Es bedurfte eines langen Weges um in Frieden zu leben, und eines kann ich Ihnen versichern, wenn das MST mich ruft, dann werde ich erneut zu einem Marsch auf die Städte aufbrechen, Hunderte, wenn es sein muss auch Tausende von Kilometern lang. Wir alle haben das Recht auf eigenen Grund und Boden, auf eine menschenwürdige Existenz.«

Vier Millionen Menschen sind unter dem Banner des MST in Brasilien unterwegs. »Das ehrenvollste, was Brasilien in den letzten Jahren hervorgebracht hat, ist das MST«, so Lula kurz vor seinem Amtantritt.

Am Ende unserer Reise verabreden wir mit dem MST die Unterstützung beim Aufbau einer gesundheitlichen Versorgungsstruktur. So groß die Bedeutung des MST ist, so sehr fehlt es ihm im Bereich der Gesundheit. Neben der Unterstützung von medizinischer und zahnmedizinischer Assistenz, wird sich medico um die Ausbildung von Gesundheitsverantwortlichen kümmern, die darauf pochen werden, dass das in der brasilianischen Verfassung exemplarisch verankerte Recht auf Gesundheit nicht eine Worthülse bleibt.

Für medico bedeutet dies einen weiteren Schritt in einem Land, dessen soziale Kämpfe mit über die Zukunft Südamerikas entscheiden werden. Nicht die Präsidentschaft von Lula bewegt uns dazu, dieses Experiment einer neuen Kooperation einzugehen, sondern die Erkenntnis, dass die neoliberalen Weltverhältnisse emanzipatorische Antworten verlangen, die die Krise der politischen Repräsentanz überwinden und die zunehmende Ethnisierung des Sozialen zurückweisen. Das MST ist bewusst weder Partei, noch ist es eine politisch-militärische Frente klassischer Couleur. Die Besetzung des Bodens ist die Rückeroberung elementarer Lebensrechte – ohne den Staat aus seiner politischen Verantwortung zu entlassen. Damit geht das MST einen Weg sozialer Aneignung, der private Güter vergesellschaftet und sie damit in Sphären einer neuen Ökonomie der Bewegung zurückführt – und das quadratmeterweise.

Christoph Goldmann / Thomas Gebauer

medico will diese brasilianische Option demokratischer Partizipation begleiten. Kommen Sie mit! Das Stichwort dafür lautet: »Brasilien«


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