**Eine Reise durch die Gesundheitswelten der Landlosenbewegung. Von Katja Maurer **
Neusa Buffon ist eigentlich Landwirtin. Die 33jährige Mutter von zwei Kindern gehört zu den nationalen Verantwortlichen für Gesundheitspolitik in der brasilianischen Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra). Die zierliche blonde Frau war zufällig bei einer Landbesetzung dafür zuständig, sich um den prekären Gesundheitszustand der Besetzerinnen und Besetzer zu kümmern. Eher unentschlossen sei sie auf verschiedene MST-Seminare gelangt, die sich mit Notfallmedizin und Möglichkeiten einer Basisgesundheitsversorgung unter ländlichen Bedingungen beschäftigten. Mittlerweile ist Neusa Buffon Mitglied im nationalen Gesundheitskollektiv des MST und dort für den dreijährigen Ausbildungsgang „Educador de Saúde“, den Gesundheitserzieher, verantwortlich. Der Kurs findet bereits zum zweiten Mal statt und für die in fast allen Bundesstaaten dieses Fast-Kontinents agierende Bewegung verknüpft sich damit das strategische Ziel über Fachleute zu verfügen, die ein auf ihre Bedingungen angepasstes Gesundheitsförderungsprogramm durchführen können. Das wäre dann ein Stück andere Welt im Vergleich zu den elenden Gesundheitsbedingungen dort, wo der MST agiert.
Während Neusa uns diesen Sinn des Ausbildungsprogramms erklärt, sitzen wir in der kleinen Kirche der MST-Siedlung „Filhos de Sepé“ im südlichen Bundesstaat Rio Grande do Sul. Der Kurs macht hier ein Praktikum und das Gotteshaus wurde vorübergehend in ein Übernachtungsquartier verwandelt. Zwischen Matratzen, Wäscheleinen und unter dem Bildnis der heiligen Madonna erhalten wir einen Einblick in die eigene Welt des MST.
Generation MST
Im Vorfeld unserer Reise in den Süden Brasiliens hatten wir uns sachkundig gemacht. Der Soziologe Emir Sader bestätigte uns die Bedeutung des MST. Er ist, so Sader, „die bei weitem wichtigste soziale Bewegung Brasiliens“. Er betonte, dass sich im MST bereits eine ganze Generation entwickelt hat.
Die treffen wir bei den künftigen Gesundheitserziehern. Neusa und die 47 Kursteilnehmer gehören ihr an. Der 16jährige Valdemir oder die 18jährige Tainá zum Beispiel. Beide sind in MST-Siedlungen groß geworden. Die unsicheren Lebensumstände in einem Acampamento, auf besetztem Land, sind ihnen ebenso bekannt wie der Alltag in einem Assentamento, einer Siedlung, die bereits über Landtitel und staatliche Anerkennung verfügt. Über den MST eine Ausbildung zu erlangen, kommt ihnen selbstverständlich vor. In einer MST-Welt sind sie die „Generation MST“.
Trotz ihrer Jugend können sie politisieren wie ein langjähriger, gut geschulter Funktionär. Gesundheit, so erklärt der junge Valdemir, werde in erster Linie von anderen Faktoren als medizinischen bestimmt. Die Integration des Gesundheitsthemas, vor allen Dingen von Präventionsstrategien, in die alltägliche Arbeit des MST in den Besetzungen und Siedlungen trage mehr zum Wohlbefinden bei, als der sporadische Besuch eines Arztes in den verstreuten Landgemeinden, meint der junge Mann. Valdemir kann mit seinen 16 Jahren klar die eigene Perspektive formulieren. Er will sich auf das Thema Alkoholismus spezialisieren und später mit den Gesundheitsverantwortlichen der MST-Gemeinden, die er betreuen wird, Programme zu dessen Bekämpfung entwickeln. Tainás und Valdemirs Zukunftspläne gehen aber noch darüber hinaus. Für die Landlosen als Arzt tätig zu werden, ist ihr größter Traum. Auf Kuba studieren bereits 60 MSTler. Die Ärzteausbildung in Brasilien, meint Tainá, würde ein elitäres medizinisches Selbstver-ständnis reproduzieren, das nur teure Gesundheitsversorgung für die Reichen und Verachtung für die Armen anzubieten habe. Da ist der Traum von Kuba eine Alternative, selbst wenn die Ärztelobby in Brasilien die Anerkennung der kubanischen Ausbildung mit aller Macht verhindern will. Nicht alle Kursteilnehmer haben so hochfliegende Pläne. Manche haben selbst längst erwachsene Kinder und wollen keinesfalls noch Jahre auf Kuba verbringen. Aber für alle bedeutet der dreijährige Kurs eine Möglichkeit zur Qualifizierung und eigenen Inwertsetzung, wie sie sie außerhalb des MST niemals erlangen könnten. Hinzu kommt: Wer den Kurs durchsteht, hat am Ende ein staatlich anerkanntes Diplom in Händen.
Staat im Staat?
Das MST mutet manchmal an wie ein Staat im Staat. Schon seine schiere Größe ist beeindruckend. In den 20 Jahren, seit der MST für die Rechte der Landlosen kämpft, erhielten in Brasilien eine halbe Million Familien Land. 250 – 300.000 davon stehen unter der Ägide des MST. Derzeit leben etwa 180 – 200.000 auf besetztem Land, 120 – 150.000 von ihnen sind vom MST organisiert. Die Bewegung bildet nicht nur Gesundheitserzieher aus, sie verantwortet auch Dorfschulen, formiert Landwirte und betreibt Kleinfabriken. Kein Wunder, dass diese soziale Bewegung von der brasilianischen Elite so gehasst wird. Es ist die alte Angst vor der potentiellen Macht der Armen. Die irrwitzige Kluft zwischen Arm und Reich findet in den Konfrontationen der Landlosenbewegung mit den Latifundisten ihren politischen Ausdruck. Darüber hinaus ist der MST eine Alternativbewegung, die andere Lebensformen und soziale Beziehungen realisieren möchte. Es gibt eine Ethik des MST. Etwa in Fragen der Geschlechterbeziehung und des Umgangs mit Alkohol. Es gibt ökologische Landwirtschaften und die Praxis der Alternativmedizin. Es gibt den identitätsstiftenden Faktor der „Mystik“. Je ärmer die Region wird, umso stärker ist dieses quasireligiöse Ritual, das christliche Symbole mit sozialrevolutionären Kampfesliedern und Gedanken auflädt, im Alltag der Gemeinden präsent. Darin zeigen sich die linkskatholischen Wurzeln der Bewegung.
Und doch: Diese Welt ist durchlässig. Das erfahren auch die angehenden Gesundheitserzieher bei ihrem Praktikum im Assentamento „Filhos de Sepé”. Denn dort treffen sie auf eine durchaus gutbestallte Gemeinde. Die 370 Familien sind seit vier Jahren Landbesitzer. Sie verfügen über fruchtbaren Boden, auf dem sie Reis anbauen. Es fällt ausreichend Regen und die Wasserversorgung ist gut organisiert. Alle Familien besitzen Anbaumöglichkeiten direkt an den Häusern. Verzierte Zäune, bunte Kacheln in den Eingängen, hier und da Autos und Traktoren zeugen von dem bescheidenen Wohlstand der Bewohner. Nach Jahren zähen Ringens um Land und Überleben hat die träge Normalisierung, die über dem Dörfchen liegt, etwas beruhigend Unideologisches. In „Filhos de Sepé“ ist man der Realisierung der eigenen Träume relativ nah gekommen, da geht man nicht mehr auf Demonstrationen gegen die Regierung, sondern lebt sein bescheidenes Leben. Für MST-Aktionen wird höchstens noch gespendet.
Aussteigerprogramm für Arme
Wie weit muss sich ein Versuch alternative Lebens– und Wirtschaftsformen zu entwickeln, ein „Aussteigerprogramm“ für Ausgegrenzte sozusagen, von Staat und Gesellschaft abgrenzen? Diese Frage spielt auch in der Gesundheitsdiskussion der Landlosenbewegung eine Rolle. Brasilianische MST- Medizinstudenten auf Kuba – ist das der Versuch ein autarkes Gesundheitssystem aufzubauen? Gislei Siqueira, Mitglied im nationalen Gesundheitskollektiv, verneint nicht, dass solche Überlegungen existierten. Nicht ohne Grund, denn mit kaum einem anderen Dienstleistungsangebot kann man in Brasilien mehr Unterstützung erhalten wie mit kostenlosen ärztlichen Leistungen. Kein Wunder, dass auch mancher MSTler von einer eigenen Ärzteriege träumte. Doch die Gesundheitscrew der Landlosenbewegung hat dazu eine klare Position. Das brasilianische Gesundheitssystem (SUS – Sistema Única de Saúde) sei einer der größten Errungenschaften der sozialen Bewegung aus den 1980er Jahren. Es müsse darum gehen, seine Leistungen zu verbessern und gerade für die Ärmsten der Armen in jeder Hinsicht zugänglich zu machen. Der MST sei mit seiner lokalen Stärke durchaus in der Lage, bessere medizinische Versorgung durchzusetzen, so Gislei. Deshalb lernen die „Educadores de Saúde“ in ihrer Ausbildung nicht nur, wie man Gesundheitsrisiken vor Ort erkennt und Lösungsstrategien entwickelt. Eingebettet in das Ausbildungsprogramm ist auch die Beschäftigung mit dem SUS, den darin verankerten Patientenrechten und Möglichkeiten der Partizipation und gesellschaftlichen Kontrolle, die auf lokaler, bundesstaatlicher und staatlicher Ebene vorgesehen sind. Dagegen steht eine geradezu übermächtige Ärztelobby, die ihre Privilegien und das private Gesundheitssystem mit aller Macht verteidigt. Und das dramatische soziale Gefälle innerhalb Brasiliens selbst.
MST-Welt II
Wir erleben diese Unterschiede bei unserem Besuch im nördlichen Bundesstaat Ceará. Im Gegensatz zu Rio Grande do Sul haben hier die Latifundisten das Sagen. Die Regierung des Staates, erklärt uns der örtliche MST-Sprecher, übernehme nur die schlechten Ideen aus der Hauptstadt. Das Agrobusiness werde mit aller Macht gefördert. Denn aus dem Export von Agrarprodukten zahle Brasilien einen wichtigen Teil seiner Auslandsschulden. Ceará verfüge über 50 Prozent der Wasservorräte des Nordostens. Die für die Gegend typische Wasserknappheit ließe sich beheben. Aber die Infra-strukturmaßnahmen, die durchgeführt werden, dienen nur dem Agrobusiness. Den Kleinbauern und MST-Siedlungen wird der Hahn bewusst abgedreht. Keine Wasserleitung führt in ihre Dörfer.
In der MST-Siedlung „Aguas Claras“ können wir die Folgen dieser „Trockenheitspolitik“ mit eigenen Augen sehen. Das Assentamento, 20 Kilometer vom nächst größeren Ort entfernt, beherbergt 40 Familien. Genauso wie in „Filhos de Sepé“ besitzen die Bewohner seit über vier Jahren Landtitel. Doch das Dorf führt eine Randexistenz. Vor drei Monaten kam zum letzten Mal ein Arzt. Es gibt kaum Verkehrsmittel. Die meisten besitzen höchstens ein Fahrrad oder einen Eselkarren. Ein Bauer verfügt über ein Motorrad. Es kommt selten zum Einsatz. Ihm fehlt das Geld für die Tankfüllung. Die meisten Häuser sind schmucklos, die Ackerflächen an den Gebäuden sind größten Teils überwuchert von Unkraut. Nur am Rande des Dorfes gibt es zwei natürliche Wasserreservoirs, die von Menschen und Tieren gleichermaßen benutzt werden, zum Wäschewaschen, zum Baden, zum Pinkeln. Eine gute Quelle für Krankheiten.
Die 26jährige Liduina Ramos de Pavlo ist die regionale Gesundheitsverantwortliche. Sie zeigt uns stolz das arme Dorf wie eine Errungenschaft, an der nichts zu diskutieren ist. Sie kommt selbst aus einer Familie mit 10 Kindern. Ohne das MST wäre sie Hausangestellte geworden. Die Begegnung mit der Landlosenbewegung sei das Beste gewesen, was ihr habe passieren können. Begeistert erzählt sie, wie großartig es gewesen sei, an einer Demonstration in Brasilia oder am Weltsozialforum in Porto Alegre teilzunehmen. Liduina ist eine glühende Anhängerin. So gut sie kann, versucht sie ihrer Rolle gerecht zu werden. Aber wie bringt man den Bauern in „Aguas Claras“ bei, Zisternen zu bauen, um den Regen aufzufangen? Wie soll sie Menschen, die müde sind von einem langen harten Leben als Landarbeiter, dazu animieren, noch einmal die Kraft für Veränderungen aufzubringen? In „Aguas Claras“ wird deutlich, dass es nicht nur mehrere Welten in Brasilien, sondern auch im MST gibt.
Das bestätigen uns auch die Kollegen des nationalen Gesundheitskollektivs, die wir am Ende der Reise noch einmal treffen. Es fehle, meint Gislei, vielfach die Qualifikation, um Probleme zu erkennen und Lösungsstrategien zu entwickeln. Deshalb plant die Organisation, die Ausbildung von Gesundheitserziehern auszuweiten. Im nordöstlichen Bundesstaat Maranhão wird es noch in diesem Jahr einen Kurs für 60 weitere MSTler geben. Auch medico wird sich an den Kosten des Kurses beteiligen. Geplant ist eine medico-Kooperation mit dem MST in den Bereichen Gesundheitsprävention, Wasserversorgung und Abwasserentsorgung. Denn das Wasser ist ein zentraler krankmachender Faktor in den Siedlungen und Besetzungen. Die Idee: In einer MST-Ansiedlung in Maranhão begleitet der Lehrgang ein Wasser- und Abwasserprojekt. Von der Problemdefinition, über die Diskussion von Lösungsstrategien bis zur Umsetzung.