Ein medico-Gespräch mit Delwek Matheus von der brasilianischen Landlosenbewegung MST
ahrzehntelang zielten soziale Bewegungen auf die Erringung der Regierungsmacht. Das brasilianische Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST) aber geht seit seiner Gründung einen anderen Weg. Für die Landlosen ist die Besetzung des Bodens mit der Rückeroberung elementarer Lebensrechte verbunden: Gesundheit, Bildung und soziale Dienste.
medico: Wie ist die gegenwärtige Situation Brasiliens nach der Wiederwahl von Präsident Lula?
Delwek Matheus: Obwohl die Lula-Regierung gerade im Amt bestätigt wurde, herrscht in Brasilien eine umfassende Enttäuschung über ihre Politik. Wir erwarteten von der Präsidentschaft Lulas substanzielle Veränderungen. Bis heute ist es jedoch zu keiner ernsthaften Verbesserung der Verhältnisse gekommen. Die neoliberale Politik der Regierung räumt dem internationalen Schuldendienst erste Priorität ein und orientiert sich an den Interessen der in der Soya- und Zuckerrohrproduktion sowie in der Rindermassenzucht engagierten transnationalen Konzerne. Sie stützt sich dabei auf ein Bündnis mit dem Industrie- und Finanzkapital und dem Großgrundbesitz, das die Technologie und das Land unter seiner Verfügung halten will. Auch die anvisierte Agrarreform blieb bislang nur ein Euphemismus. Die Regierung will 500.000 Familien begünstigen, tatsächlich geht es aber um fünf Millionen Familien. Die Landwirtschaftspolitik wird von zwei Ministerien verwaltet: eines verfügt über 80% Prozent des Budgets und bedient das Agrobusiness, das andere kümmert sich mit den restlichen 20% um die familiäre Kleinproduktion. Die Folgen sind zunehmende Erwerbslosigkeit und die ökologische Verwüstung des Landes durch die Agrochemie. Beides verstärkt die Landflucht.
Aber hätte denn die auch vom MST propagierte kleinfamiliär-genossenschaftliche Landwirtschaft überhaupt eine Chance gegen die globalen Agrar-Multis?
Dieses schwerwiegende Problem kann nur durch ein radikal anderes Entwicklungsmodell gelöst werden: ein Entwicklungsmodell, das gegen das Privateigentum durchgesetzt werden muss und der Selbstversorgung der Leute, dem internen Markt, der genossenschaftlichen und agroökologischen Produktion und der regionalen Verarbeitung und Vermarktung der Produkte den Vorrang einräumt. Das ist unsere Position auch im Dialog mit der Lula-Regierung. Wir fordern von ihr, erste Schritte dazu zu verwirklichen: eine systematische Verbesserung der Infrastruktur der kleinfamiliär-genossenschaftlichen Produktion, umfassende Beratung, ein entsprechendes Kreditsystem.
Ihr haltet also am Dialog mit der Regierung fest?
Zuerst und vor allem halten wir an unserer eigenen Bewegung fest, an den Besetzungen, den Siedlungen und der genossenschaftlich organisierten Produktion. Bisher haben wir für ca. 420.000 Familien Land erkämpft, das ist unser Ausgangspunkt, und von da aus setzen wir den Dialog fort - auch wenn wir nach vier Jahren Lula-Regierung immer weniger Hoffnung haben. Wenn wir uns für ihre Wiederwahl eingesetzt haben, dann weil das für uns ein Mittel, ein Anlass war, unsere eigene Mobilisierung zu verstärken und das Bündnis mit den anderen sozialen Bewegungen zu vertiefen.
Gäbe es nicht die Möglichkeit, die eigenen Anliegen über die Grenzen Brasiliens hinaus zu vernetzen?
Doch, natürlich. Uns geht es ja um einen globalen Widerstand gegen die globale Hegemonie des Neoliberalismus. Deshalb räumen wir dem weltweiten Netzwerk der Landbevölkerungen, der Via Campesina, oberste Priorität ein. Strategisch verbindet uns der Kampf um ein anderes Entwicklungsprojekt, mit radikal anderen Parametern als denen des Profits und des Marktes. Es geht uns um die soziale Entwicklung unserer selbst, der Frauen, Männer und Kinder, um die Möglichkeiten unseres Lebens auf dem Land. Das gegenwärtig herrschende Modell gründet auf Armut und Ausschluss. Wir setzen auf Teilhabe, hier und in globaler Dimension. Und in der internationalen Perspektive fällt unsere Bewertung der Lula-Regierung günstiger aus, weil sie Bündnisse mit den Regierungen Venezuelas, Boliviens, Argentiniens, Kubas sucht.
Das MST kämpft auf dem Land und um Land. Welche Rolle spielen für euch die städtischen Auseinandersetzungen?
Wir wollen überall, auf dem Land und in der Stadt, aktiv sein, denn es geht uns nicht um isolierte Teilinteressen, sondern um eine alternative gesellschaftliche Entwicklung. Deshalb arbeiten wir mit städtischen sozialen Bewegungen, vor allem mit der Obdachlosenbewegung des Movimento dos Trabalhadores Sem Teto (MTST), aber auch mit den Gewerkschaften zusammen. Unser eigener Einsatz aber liegt im Doppel von alternativer landwirtschaftlicher Produktion und autonomer Bewusstseinsbildung. Dabei sind wir nicht industrie- oder technikfeindlich. Uns geht es aber darum, dass die Technik den kleinbäuerlich und genossenschaftlich arbeitenden Leuten angepasst ist, statt ihnen die Lebensgrundlage zu entziehen! Uns geht es um eine Diversifizierung der Produktion und darum, dass den großen Agro-Unternehmen auch die technischen Mittel entzogen werden.
Kannst Du ausführen, was Bewusstseinsbildung praktisch bedeutet?
Das reicht von der Grundausbildung der Kinder und Erwachsenen in unseren Gemeinden bis zur Kooperation mit Universitäten und freien Bildungsinstitutionen. Wir unterhalten eigene Schulen und unsere StudentInnen wechseln zwischen der Gemeindearbeit, dem Studium an der Nationalen Schule und dem Besuch von Universitäten. Es gibt politischen Unterricht ebenso wie Ausbildungen in Agrarökologie und -technologie, die z.T. offiziell anerkannt werden. Wir erstellen zu allem unser eigenes Lehrmaterial, ausgerichtet auf unser Modell einer sozial und ökologisch nachhaltigen Entwicklung.
Mit euren Bildungs- wie mit euren Gesundheitsprojekten deckt ihr im Prinzip genuin staatliche Aufgaben ab. Wollt ihr den Staat durch eure Selbsttätigkeit und Eigeninitiative ersetzen?
Nein, keinesfalls. Wir meinen unbedingt, dass die ganze Gesellschaft, dass der Staat für Gesundheit und Bildung aufkommen muss – das wollen wir ihm nicht abnehmen! Mit unseren Projekten geben wir Beispiele – für die Regierung, aber vor allem für die Leute, die in diesen Projekten arbeiten oder von ihnen profitieren. Wir wollen, dass die Leute gute Erfahrungen mit anderen Gesundheits- und Bildungsprojekten machen und dann dafür kämpfen, dass der Staat das übernimmt und ausweitet. Bei den Bildungseinrichtungen funktioniert das schon, bei den Gesundheitsprojekten stehen wir erst am Anfang. Wir wollen, dass diese Projekte gefördert werden, und wir fordern zugleich mehr Mittel für das staatliche Gesundheitssystem SUS, denn die Egalität und Universalität von Gesundheit muss ebenso gesellschaftlich garantiert werden wie die der Bildung. Übrigens überschreiten wir auch hier die nationalen Grenzen. So beteiligen sich Gesundheitspromotoren des MST am Aufbau eines medizinischen Studiengangs in Venezuela, der Leute für den ganzen Kontinent ausbilden wird.
Wie bezieht sich eure Bewusstseinsarbeit auf die Religiosität der Leute, auf die katholische Kirche und die evangelikalen Kirchen?
Wir lehnen jede Form der Diskriminierung ab, der Hautfarbe, des Geschlechts und auch des Glaubens. Die Mehrzahl der Leute ist katholisch, doch wir haben es auch mit dem Wachstum der Evangelikalen zu tun – in den Siedlungen gibt es oft beide Kirchen. Die Evangelikalen sind für die politische Mobilisierung natürlich der schwierigere Faktor, weil sie massiv mit ihrem jenseitigen Heilsversprechen arbeiten. Sie werden von vielen Leuten anerkannt, weil sie Therapien vor allem für das dramatische Alkohol- und das Drogenproblem anbieten. Aber all das spielt sich eher in den Städten ab, in der Perspektivlosigkeit der Favelas. Womit wir wieder bei der Notwendigkeit einer anderen Entwicklung sind, in der Stadt und auf dem Land, zwischen beiden.
Delwek Matheus ist Mitglied der Nationalen Koordination des MST. Er ist zuständig für die Organisations- und Projektentwicklung im Bundesstaat Sao Paulo und lebt in Itapera, einer der ältesten Siedlungen des MST. Das Gespräch führten Frauke Banse und Thomas Seibert.