Brisante Solarzellen

Projekte von medico und der israelischen Organisation Comet-ME in der Westbank von Abriss bedroht

07.03.2012   Lesezeit: 7 min

Wadha An-Najjar stößt den an der Decke hängenden Sack aus gegerbter Ziegenhaut mit kräftigen Bewegungen hin und her. Sie tut dies so lange, bis die flüssige Ziegenmilch im Sack zu Joghurt oder Butter gerinnt. Diese anstrengende, langwierig Tätigkeit ist für sie Routine. Aber seit Frau An-Najjar über Strom in ihrem Zelt verfügt, muss sie das nicht täglich machen, sondern kann die so produzierte Butter und den Joghurt aus Ziegenmilch, den die Familie auf dem Markt verkauft, in den Kühlschrank stellen. Und in den langen Winterabenden schaut sich Frau An-Najjar jetzt die geliebten jordanischen TV-Serien über Beduinenfamilien an, während die Kinder auch nach Sonnenuntergang ihre Hausaufgaben machen können.

Diese einfachen Vorteile einer Stromversorgung konnten Wadha An-Najjar und die anderen Bewohner des kleinen Dorfs Qawawis lange Jahre nicht genießen. Erst seit medico international gemeinsam mit der israelischen Organisation Comet-Me und der finanziellen Unterstützung durch das deutsche Auswärtige Amt in zehn Gemeinden Wind- und Solarenergie installierte, haben 800 Menschen eine Basisstromversorgung. Kaum waren die Anlagen fertig gestellt, erließ die israelische Ziviladministration Abrissverfügungen gegen die alternativen Energieanlagen. Plötzlich befinden sich die von medico geförderten Projekte mitten im Brennpunkt des Nahost-Konflikts. Die Abrissverfügungen haben nicht nur in den deutschen sondern auch in den israelischen und internationalen Medien großes Aufsehen erregt. Es geht um nicht weniger als um die Frage, ob die palästinensische Bevölkerung in den Hebronhügeln in dieser Region bleiben kann oder durch sich ständig verschlechternde Lebensbedingungen zum Abwandern gezwungen ist. Um den Hintergrund zu verstehen, muss man die Besonderheit dieser Region erklären.

Wie mehrere Tausend andere Bewohner palästinensischer Gemeinden in der Wüstenlandschaft der Südhebronhügeln lebten die Familien von Qawawis in bitterster Armut. Ihre Hütten, Zelte und traditionellen Höhlenwohnungen haben weder Strom- noch Wasseranschluss. Im Gegensatz zu den in Blickweite gelegenen jüdischen Siedlungen. Den Anschluss an die Stromtrasse hat die Besatzungsbehörde verboten.

Während sich die palästinensischen Bewohner an das Leben zwischen dem Schutt abgerissener Hütten gewöhnen müssen, wachsen die nahe gelegenen israelischen Siedlungen. Symmetrische Reihen von Einfamilienhäusern, einheitliche rote Ziegeldächer und Vorgärten. Die Straßen zu den Siedlungen sind frisch asphaltiert, die Versorgung mit Wasser und Strom ist auf dem letzten Stand der Technik. Eine hübsche Postkartenidylle. Sauber durch Zäune getrennt von den vielerorts wenige Meter entfernt liegenden palästinensischen Gemeinden.

Die C-Gebiete: Gezielte Rückentwicklung

Die palästinensischen Bewohner in den Südhebronhügeln haben das Pech, wie 150.000 weitere Palästinenser in den C-Gebieten zu leben. Anfang der 1990er Jahren schlossen Israel und die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO die Osloer (Friedens)Verträge. Die besetzten Gebiete sollten - so verstand es die Weltöffentlichkeit jedenfalls - stufenweise an neu zu schaffenden palästinensischen Autoritäten übergeben werden. Die dicht bevölkerten Palästinensergebiete wurden als A- und B-Gebiete deklariert und sind seitdem der palästinensischen Autonomiebehörde zivilrechtlich unterstellt. Fast genau 60% des Westjordanlands wurden als C-Gebiet deklariert und unterliegen der direkten israelischen Verwaltung. Doch, was in aller Welt als die erste Stufe hin zum Aufbau eines Staats Palästina verstanden wurde, ist zwei Jahrzehnte später zu einer Dauereinrichtung ausgeartet. Mit schwerwiegenden humanitären Konsequenzen.

Da Israel in diesen Gebieten die staatliche Macht darstellt, hätten die israelischen Behörden hier die Verantwortung für das Wohl der Bevölkerung. Doch während sie die israelischen Siedlungen großzügig subventionieren, verknappen sie systematisch den Zugang der palästinensischen Gemeinden zu Wasser und Land, verbieten den Anschluss der Häuser ans Stromnetz oder den Bau von Kindergärten oder Gesundheitseinrichtungen. Mit dieser Politik einer gezielten Rückentwicklung verdrängt die israelische Administration die palästinensische Bevölkerung in die dichtgedrängten städtischen Enklaven, etwa Ramallah oder Hebron. Aber ohne den ländlichen Raum dazwischen ist weder Entwicklung für die Palästinenser, geschweige denn ein lebensfähiger palästinensischer Staat möglich. Das bestätigt ein Bericht der EU, der momentan hohe Wellen schlägt.

Die C-Gebiete, und damit der größte Teil der Westbank, sind zu einem Raum geworden, in dem entlang ethnisch-religiöser Zuordnung zwei Rechtsordnungen für zwei Bevölkerungsgruppen bestehen. Hier setzen medico und seine lokalen Partner an, um grundlegende Hilfe zu leisten und darüber hinaus die politischen, sozialen und ökonomischen Menschenrechte zu verteidigen.

Unerwartete Solidarität

So entstand die Kooperation mit der israelischen Organisation Comet-ME. Gegründet wurde sie von Noam Dotan und Elad Orian, zwei jüdisch-israelischen Aktivisten, die sich mit der israelischen Politik nicht abfinden wollten. Sie kennen die Südhebronhügeln seit langem und wollten mehr tun als nur gegen die unhaltbaren Zustände demonstrieren. Die beiden Physiker gründeten Comet-ME, um den palästinensischen Gemeinden auf den in den C-Gebieten gelegenen Südhebronhügeln mit Strom zu versorgen. Da feste Stromnetze verboten sind, kamen sie auf die Idee mit alternativen Energiequellen zu arbeiten. Mithilfe des Deutschen Auswärtigen Amts, das sich stark für das Vorhaben engagierte und bislang etwa 600.000€ zur Verfügung stellte, konnten Comet-ME und medico in zehn Gemeinden Wind- und Solaranlagen installieren. Diese haben die beiden Aktivisten aus Hunderten von Einzelteilen selber gebaut, um Geld zu sparen. Tage- und nächtelang tüftelten sie an für jede Gemeinde maßgeschneiderten Anlagen. Wochenlang übernachteten sie in den Dörfern. Zu Hilfe kamen palästinensische Studenten aus einer technischen Fachhochschule in Hebron, die gleichzeitig gelernt haben, wie Solar- und Windanlagen funktionieren und wie diese zu warten seien. Auch einige der Dorfbewohner wurden ausgebildet, damit sie künftig die Anlagen warten können.

Der Zugang zu Strom hat in den Gemeinden noch ganz andere Dinge bewegt. Die Projekte boten den Menschen die Möglichkeit, nicht nur sich selbst zu helfen sondern wieder als eine Gemeinde zu agieren. Sie könnten diese Entwicklung auch langfristig sichern. Solar- und Windanlagen sind nachhaltige, umweltschonende Energiequellen, doch sie sind pflegebedürftig. Alle Nutzer müssen deshalb für ihren Strom zahlen. Das Geld fließt in eine gemeinsame Kasse, mit deren Hilfe künftige Reparaturen gedeckt werden. Damit hat jede Gemeinde weiterhin ein Projekt, an dem sie gemeinsam arbeiten kann.

Das alles ist von der Abrissorder der israelischen Ziviladministration bedroht. Wenn aber bei Wadha An-Najjar und ihrer Familie der Abriss kommt, so gehen nicht nur bei ihnen die Lichter aus. Dann wird gezielt daran gearbeitet, die Palästinenser als Individuen und als Kollektiv aus den C-Gebieten zu vertreiben und diese an Israel anzuschließen. Doch ohne die C-Gebiete, immerhin 60% der Westbank kann es keinen palästinensischen Staat geben, da sind sich Bundesregierung, EU, UN und Weltbank einig. Mit dieser Abrissprozedur würde die israelische Politik einer Zwei-Staaten-Lösung faktisch eine Absage erteilen.

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Internationale Kritik an Abrissabsicht der israelischen Behörden

Über die Absicht der israelischen Behörden das Projekt von Comet-ME und medico abzureißen, das Der Spiegel als „eine kleine Revolution für wenig Geld, ein gutes Beispiel für gelungene Entwicklungshilfe“ beschreibt, berichteten zahlreiche Medien, darunter die ARD, Washington Post und der Londoner Guardian, FAZ und taz, der Zürcher Tagesanzeiger und der Berliner Tagesspiegel. Die Reaktionen waren einhellig kritisch: Israels populärsten Fernsehnachrichten sprachen entsetzt von einem Versuch diese marginalisierten Gemeinden „zurück in die Steinzeit zu befördern“. Der renommierte Publizist Akiva Eldar geht in Israels führender Qualitätszeitung Haaretz mit der israelischen Regierung hart ins Gericht: „Etwa 1.500 Menschen leben in 16 Gemeinden, die in dieser Region seit dem 19. Jahrhundert leben, profitieren jetzt von diesen Anlagen, die Licht und Strom für ihre bescheidene Produktion von Milchprodukten… die zu erwartenden Abrisse werden 500 Menschen dazu verdammen in Dunkelheit zu leben. Kinder werden ihre Hausaufgaben bei dem Licht von Öllampen machen und dabei ihre Augen strapazieren, und die Frauen werden wieder mit blasen bedeckten Händen Milch zu Butter und Käse schlagen.“

Mithilfe konkreter Projekte zielt medico stets darauf, jene politischen Rahmenbedingungen, die erst eine Maßnahme notwendig machen, zu beleuchten, alternative Strategien zu entwerfen und die politisch Handelnden dazu zu bewegen die Spielregeln zugunsten der Menschenrechte zu verändern. Das ist laut der Frankfurter Rundschau durchweg gelungen: Ziel des Projekts sei es, palästinensische Gemeinden dabei zu unterstützen sich nicht verdrängen zu lassen. An dieser Frage würde sich entscheiden, ob es dereinst einen lebensfähigen Palästinenserstaat geben wird: „Der Konflikt um die Solaranlagen und Windturbinen für palästinensische Hirten hat also eine viel größere Dimension und beschäftigt inzwischen Politiker auf höchster Ebene.“

Projektstichwort:

Das expansive israelische Enklavensystem droht einem künftigen Palästina allenfalls umstellte Gebiete zu überlassen. Dagegen verteidigen die lokalen medico-Partner in Tel Aviv, Ramallah und Gaza die politischen, sozialen und ökonomischen Menschenrechte. Dabei geht es immer auch darum Wege zu finden, wie dem fast perfekten System von Aus- und Einschlüssen entkommen werden kann. Das Spendenstichwort dafür lautet: Israel – Palästina


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