Auf einer Bühne im palästinensischen Flüchtlingslager Jenin nehmen Jugendliche eine Auszeit aus ihrem tristen und gewalttätigen Alltag. Von Tsafrir Cohen.
Ein junges Mädchen hat die Fähigkeit zu fliegen, doch ein Checkpoint hindert sie daran. Eine Theatertruppe eilt ihr zu Hilfe, spielt spontan vor den Soldaten, die zeigen sich verwirrt, das Mädchen nutzt die Gelegenheit, um hoch hinaus zu fliegen. Wir befinden uns im Proberaum des "Freiheitstheaters" im palästinensischen Jenin.
Asma, ein stilles, schüchternes Mädchen in der Theatergruppe, hat diese träumerische Phantasie eben zu Papier gebracht. Ein richtiger kleiner Einakter, mit offenem Beginn und offenem Schluss, Haupt- und Nebenfiguren. Jetzt trägt sie ihre Szene mit kaum hörbarer Stimme vor. Die Zuhörerinnen ermutigen sie, doch Asma will nicht, dass die Gruppe ihre Geschichte spielt. Die großgewachsene Ghadeer hingegen, selbstbewusst, mit langem, offen getragenem Haar, erzählt ihre Szene ohne Scheu: Ein Mädchen, angezogen wie ein Junge, mischt sich unter eine Jungengruppe und lernt deren ungezwungenes Leben kennen. Dann kehrt sie zu den Mädchen zurück, um mit ihnen die neu gewonnenen Freiheiten zu teilen.
Mädchen und Jungs verbünden sich und stürzen gemeinsam den König, der die Mädchen reglementierte und beide Geschlechter trennte. Das nachzuspielen macht den Mädchen offensichtlichen Spaß, vor allem mal ein Junge zu sein, Raufen und Boxen inbegriffen.
Das Freiheitstheater ist für die Jugendlichen ein Fluchtpunkt aus dem tristen Alltag des Flüchtlingslagers von Jenin. Vom Hügel aus sieht man den Norden Israels. Hier sitzen die Flüchtlinge seit über sechzig Jahren, eine Zukunft haben sie nicht. Über zehntausend Menschen leben im Lager am Rande der gleichnamigen Stadt. Etwa die Hälfte davon sind Kinder. Viele von ihnen haben Schreckliches erlebt. Asma etwa: Als sie acht Jahre alt war, wurden zwei ihrer Brüder durch israelische Schüsse getötet. Beide und ein dritter, jugendlicher Bruder, der noch Jahre in einem israelischen Gefängnis vor sich hat, hatten sich dem gewalttätigen, selbstmörderischen Kampf gegen Israel angeschlossen. Als Strafe riss die israelische Armee das Haus der Familie nieder – zwei Mal. Die zweite Intifada flammte gerade in diesem Flüchtlingslager, in dem etwa ein Drittel der Bevölkerung dieser nördlichsten Stadt der Westbank lebt, besonders heftig auf. Etwa ein Dutzend Selbstmordattentäter stammte von hier. Die israelische Armee ihrerseits besetzte in einer weltweit aufsehenerregenden Aktion das Lager, tötete über 50 Personen und zerstörte ganze Häuserblocks.
Arnas Kinder
Jenin war bereits vor der zweiten Intifada ein elender Ort. 1987 entschloss sich Arna Mer, eine jüdische Künstlerin aus Haifa, die mit einem israelisch-palästinensischen Kommunisten verheiratet war – eine äußerst seltene Angelegenheit in Israel –, hier ein Kindertheater zu gründen. Es war nicht leicht für diese ungewöhnliche Frau, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen, denn bis dahin betraten Israelis das Lager nur als Soldaten. Auch nach dem Ausbruch der ersten Intifada blieb Arna ihren Kindern treu. Ihr Sohn, Juliano Mer Khamis, ein Schauspieler und Regisseur, begleitete seine Mutter immer wieder mit der Kamera. Arna starb 1994 und mit ihr das Theater. Während der zweiten Intifada erkannte Juliano einige der Kinder von damals in den Nachrichten: Aus den lachenden Heranwachsenden waren hartgesottene Kämpfer geworden, die auch vor Attentaten auf Zivilisten nicht zurückschreckten. Er kehrte nach Jenin zurück und beschloss, dem Theater eine zweite Chance zu geben.
Lebenselixier gegen die Gewalt
Im Theatersaal proben Jugendliche, Techniker basteln an der Beleuchtung für ein Gastkonzert, in den Gästezimmern logieren gerade zwei Amerikaner, ein schwedischer Jude, ein israelischer Palästinenser. All das ist eine ungewöhnliche Atmosphäre, eine Mischung aus alternativem Kunstbetrieb, in dem alles durcheinanderwirbelt, palästinensischer Gastfreundschaft und einem suburbanen Jugendzentrum. Im Lager finden das nicht alle gut. Manche raunen von einem schlechten Vorbild für die Jugend, das die ausländischen Freiwilligen, die Kunstinteressierten aus anderen Teilen der Westbank abgeben. Dazu die arabischen und jüdischen Israelis, die mit dem Besuch auch dem Verbot für israelische Staatsbürger, palästinensische Städte zu betreten, trotzen wollen. Auch, dass Mädchen und Jungs zusammen spielen, missfällt vielen.
Das Theater macht Kompromisse: Filme werden nur gezeigt, wenn sie keine nackte Haut beinhalten; die Theatertherapiestunden sind nach Geschlechtern getrennt – gemischtgeschlechtliche Gruppen gibt es nur im neuen Proberaum außerhalb des Lagers in der Stadt Jenin. Für den freigeistigen Juliano ist das bitter: Reaktionäres Denken und aggressives Verhalten gegen sich selbst, wie es besonders auch die Selbstmordattentäter verkörperten, sind für ihn die internalisierten Folgen einer Besatzung, die er für verhängnisvoller hält als die israelische Militärpräsenz selbst.
Theater ist auch Therapie. Zweimal die Woche können Mädchen wie Jungs in dem geschützten Raum ihre im Alltag erlebten Erfahrungen von Gewalt und Ohnmacht aufarbeiten. Das so gewonnene Selbstwertgefühl lässt sie solidarisch sein und tradierte Hierarchien hinterfragen. Die oft ausverkauften Veranstaltungen geben Mut: Die Jugendlichen treten auf, sie werden gehört, gesehen - und gewürdigt.
Projektstichwort
100 Aufführungen und 16.000 Zuschauer in den letzten beiden Jahren, Freundschaften aus vielen Ländern und auch aus Israel: Das Freiheitstheater steht für eine grenzüberschreitende Solidarität im Zeichen der Besatzung. Seine Macher hoffen auf die Ausstrahlungskraft des Theaters. Sie wissen, dass nur die lokale Verwurzelung eine nachhaltige Wirkung zeitigt. Ihr nächstes Ziel ist es, verstärkt die Bewohner von Jenin-Stadt, die das "gefährliche und ärmliche" Flüchtlingslager eher meiden, in die Aufführungen zu locken. Mit Erfolg: Die Hälfte der Mädchen in der Theatertherapie kommt bereits aus der Stadt. Die Bühne am Rande der Welt ist ein kleines Wunder und ein therapeutisches Antidot für Mitmachende und Zuschauer zugleich. Unterstützen Sie das Freiheitstheater in Jenin. Das Stichwort lautet: Israel-Palästina.