Die Gestaltung des Sozialen

19.08.2005   Lesezeit: 7 min

Über Selbstmordattentate, lebensbedrohende Schutzwälle und den Aufbau einer sozialen Infrastruktur – Der Rundschreiben-Kommentar von Thomas Gebauer

Praia Do Forte, Eco Resort & Thalasso SPA, Atividades Saturday, 13.8.2005 – Sports and Leisure Program Children’s Club (8 to 12 years old): 04:00 pm War, 08:30 pm Suicide Bomber, 09:00 pm Delta Command

Krieg, Selbstmordattentäter, Schnelle Eingreiftruppe – Das Animationsprogramm für die Kinder der reichen und superreichen brasilianischen Familien im luxuriösen Tourismusressort Praia do Forte nahe Salvador de Baía ist ebenso bemerkenswert wie aufschlussreich. Schon immer spiegelten sich im Spiel von Kindern neben moralischen Überzeugungen auch die besonderen Konflikte, die Gesellschaften prägen. Ging es im „Cowboy-und-Indianer-Spiel“ des letzten Jahrhunderts noch um das testende Changieren zwischen Gut und Böse im Kontext von voranschreitender Kolonisierung und romantischer Naturverbundenheit, ist von Ambivalenz und prüfender Suche im professionell animierten Spiel der Gegenwart nicht mehr viel zu spüren. Die Fronten scheinen klar. Auf der einen Seite die Privilegierten, die es sich leisten können, Tourist zu sein; auf der anderen die Vagabunden, die auf heimtückische Weise die Privilegien der anderen angreifen. Es herrscht Krieg, und da sind weder Nuancen noch Empathie gefragt. Das ist die Botschaft an die Kinder. Sie sollen lernen, im Gegenüber immer auch den potentiellen Terroristen zu sehen.

Die soziale Ungleichheit, die in Brasilien herrscht, ist alarmierend. Über 30.000 Menschen verlieren dort jedes Jahr bei Gewaltdelikten ihr Leben. Und obwohl die Gewalt vor allem die Mittellosen trifft, sind es die Wohlhabenden, die ideologisch und sicherheitstechnisch aufrüsten. Das gilt übrigens auch für Deutschland. Erst kürzlich konnte man bei Tchibo Nachtsichtgeräte erwerben: Restlichtverstärker zur Aufhellung der Umgebung, die selbst bei völliger Dunkelheit noch Sicht ermöglichen. Ein Hauch von Grenzsicherung, wie sie Europa derzeit entlang der Mittelmeerküste aufbaut, nun auch zu Hause? Der heimische Vorgarten, künftig eingetaucht in das fahle Grün der Bilder, die uns aus den Bagdader Bombennächten so merkwürdig vertraut sind? Die 99 Euro jedenfalls schienen vielen gut angelegt.

Realitätsverlust Die Anzeichen für den Zerfall der Gesellschaftlichkeit sind unübersehbar. Die zutiefst reaktionäre Demontage sozialstaatlicher Integrationsbemühungen hat das Zusammenleben gründlich verändert und das Soziale auf kaum noch erträgliche Weise unter Druck gesetzt. Überall, auch in den prosperierenden Gebieten der Welt, wächst das Gefühl von privater und sozialer Unsicherheit. Die klassischen Normalarbeitsverhältnisse erweisen sich als zunehmend brüchiger, familiäre und nachbarschaftliche Strukturen verlieren ihre Bedeutung und die öffentlichen Einrichtungen, die für Vorsorge und soziale Sicherung zu sorgen hätten, sind inzwischen hoffnungslos überfordert.

Den deutschen Wirtschaftsweisen aber scheint das alles noch nicht weit genug zu gehen. Mit besorgniserregendem Realitätsverlust forderten sie in ihrem Herbstgutachten weitere Einschnitte. Zwar sei Deutschland Exportweltmeister, doch müssten die Lohnkosten erneut gesenkt, der Wohlfahrtsstaat noch weiter abgerissen werden, um das Land endlich auf den globalen Märkten konkurrenzfähig zu machen. Solche Absurditäten bleiben nicht folgenlos. Deutsche Firmen schwimmen im Geld, titelten die Zeitungen im Herbst und verwiesen zugleich auf das zentrale Problem der Wirtschaft, die schwache Binnennachfrage, das niedrige Lohnniveau, die soziale Unsicherheit.

Der Reichtum der einen schafft die Armut der anderen. Das ist die einfache Lehre, die aus der globalen Entfesselung des Kapitalismus zu ziehen ist. Dem politischen Personal aber, das eigentlich für Ausgleich zu sorgen hätte, fällt kaum mehr ein, als weitere Sparpakete zu verabschieden, Ressentiments zu schüren und dabei die Arbeits- und Mittellosen als „Parasiten“ zu denunzieren. Offenkundig leidet der Sozialstaat nicht alleine an finanzieller Austrocknung, sondern auch an der gedanklichen Armut seiner politischen Träger. Statt darüber nachzudenken, wie vor dem Hintergrund des erreichten gesellschaftlichen Reichtums dem Sozialen ein neues Gerüst zu geben wäre, kreist die Debatte um ein schlichtes Pro und Contra. Die einen verachten den Wohlfahrtsstaat und gefallen sich in der gebetsmühlenhaften Wiederholung der Behauptung, das Private sei dem staatlichen Engagement überlegen. Die anderen setzen auf die Verteidigung des Wohlfahrtsstaates und messen seine Leistungsfähigkeit allein an der Höhe finanzieller Transferleistungen an Bedürftige. Angesichts wachsender Armut und sozialer Unsicherheit ist das Bemühen um die Verteidigung staatlicher Fürsorge zwar verständlich, ein tragfähiges Konzept für die Zukunft des Sozialen aber schafft es noch nicht. Tatsächlich wären strukturelle Veränderungen vonnöten und müsste das Soziale gänzlich neu gedacht werden, wie es kritische Sozialwissenschaftler tun, aber auch katholische Bischöfe.

Soziale Infrastruktur Der Hauptgrund für das Versagen der bestehenden sozialen Sicherungssysteme liegt in ihrer Koppelung an die Lohnarbeit. Wer in einem geregelten Arbeitsverhältnis steht, leistet Sozialversicherungsbeiträge, wer aus solchen Arbeitsverhältnissen herausfällt, kann staatliche Beihilfen beantragen. Nicht erst seit Hartz IV ist die disziplinierende und repressive Absicht solcher Beihilfen klar; sie haben auch schon früher, zu Zeiten von wirtschaftlicher Prosperität, den Charakter bevormundender Armenfürsorge gehabt.

Solche Sozialpolitik gilt es zu überwinden. Sie verträgt sich weder mit den international ratifizierten Menschenrechtspakten noch mit der Art, wie sich die Arbeitsverhältnisse inzwischen entwickelt haben. Das Völkerrecht lässt keinen Zweifel an der Rechtsförmigkeit des Sozialen. „Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates in den Genuss der für seine Würde und die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen“, heißt es in Artikel 22 der „Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte“. Soziale Sicherheit ist nicht Ausdruck paternalistischer oder barmherziger Fürsorge, sondern ein Rechtsanspruch, für den staatliche Institutionen zu garantieren haben.

Und zwar unabhängig von traditioneller Erwerbsarbeit. Die gesellschaftlich notwendige Arbeit erschöpft sich eben nicht in Lohnarbeit. Zu einer würdevollen Existenz und der freien Entfaltung der Persönlichkeit zählen auch Arbeiten, die wie die Hausarbeit, wie Pflege, die Erziehung von Kindern, die Arbeit in Bürgerinitiativen und kulturellen Projekten, die Nachbarschaftshilfe, ja selbst die Eigenarbeit von Heimwerkern in immer größerem Ausmaße außerhalb traditioneller Lohnarbeitskarrieren stattfinden. Zu deren Sicherung bedarf es einer Sozialpolitik, die nicht primär auf den einzelnen ausgerichtet ist, sondern soziale Sicherung als gesellschaftliche Aufgabe begreift. Auch wenn es utopisch anmutet, ist die Idee einer sozialen Infrastruktur, die allen Menschen unentgeltlich zur Verfügung steht und den Zugang zu Bildung, Gesundheit, Wohnen, Verkehr und den anderen öffentlichen Gütern („public goods“) sichert, die einzig realistische.

Gesundheitswissen - ein öffentliches Gut Zu finanzieren ist eine solche soziale Infrastruktur, genauso wie die herkömmliche, z.B. das Verkehrsnetz, nur über Steuern. Aller neoliberaler Staatsverachtung zum Trotz, bleibt das Soziale also staatsbedürftig. Deutlich wird das nicht zuletzt am Beispiel der Sicherstellung des Zugangs zu überlebenswichtigen Arzneimitteln. Das Skandalöse an den heute drohenden Pandemien ist nicht alleine das womöglich millionenfache Leid, sondern auch, dass es keine vorsorgliche Produktion von Impfstoffen gibt, mit denen solchen Seuchen begegnet werden könnte. Der Grund ist einfach und vielsagend: Da noch unklar ist, ob die Vogelgrippe tatsächlich auf den Menschen überspringt, ist auch noch unklar, ob mit solchen Impfstoffen ein Geschäft zu machen ist. Die pharmazeutische Industrie wartet ab. Ähnliches gilt für neue Antibiotika, die aufgrund der voranschreitenden Resistenzentwicklung dringend vonnöten wären. Auch deren Entwicklung stockt, weil sie keine Rendite verspricht. Wenn das Ziel ein menschengerechtes gesellschaftliches Leben für alle sein soll, dann ist unbedingt die Abkehr von einer alleine über den Markt geregelten Gesundheitsversorgung notwendig. Statt die öffentlichen Güter weiter zu privatisieren und dabei zu bloßen Handelswaren zu degradieren, gilt es, das Soziale über seine Verteidigung hinaus neu zu justieren. Es kann nicht hingenommen werden, dass der Zugang zu überlebenswichtigen Medikamenten nur deshalb blockiert ist, weil deren Entwicklung durch fragwürdige Patente, die sich wie Schutzwälle um existierende Marktanteile legen, verhindert wird.

„10:00 pm - Meet the parents“, heißt es im Animationsprogramm im brasilianischen Tourismusressort, den martialischen Tag abschließend. Die prekäre Lage des Sozialen in der Gegenwart verdeutlicht nur, wie notwendig seine politische und rechtliche Gestaltung ist. Die Alternative wäre zunehmende Repression und an deren Ende totalitäre Verhältnisse.


Jetzt spenden!