Liebe Leser:innen,
die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte feiert ihren 75. Geburtstag und eine Frankfurter NGO veröffentlicht zu diesem Anlass ein Heft. Das klingt wie eine Einladung zu einem Kaffeekränzchen. Geht es noch langweiliger? Schon Hannah Arendt warnte vor ähnlichen Konstellationen, als sie sagte: „Die Menschenrechte haben immer das Unglück gehabt, von politisch bedeutungslosen Individuen oder Vereinen repräsentiert zu werden, deren sentimental humanitäre Sprache sich oft nur um ein geringes von den Broschüren der Tierschutzvereine unterschied.“
Keine leichte Aufgabe also. Wir haben es trotzdem versucht. Für medico und damit auch das rundschreiben ist der Jahrestag jenseits aller Sentimentalität ein Anlass zur Beschäftigung mit einer Grundlage unserer Arbeit. Nicht nur wir, sondern auch unsere Partnerorganisationen berufen sich auf die Idee der Menschenrechte, wenn damit das Recht aller auf ein freies und durchaus auch glückliches Leben gemeint ist, an jedem Ort und zu jeder Zeit, weltweit. Doch natürlich hatte Hannah Arendt recht: Soll dieser Kompass etwas taugen, dann muss er mehr meinen als die leicht durchschaubare Mechanik des naiven und permanenten Einklagens einer völkerrechtlich unverbindlichen Absichtserklärung.
Die 30 Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 sind für uns in diesem Sinne mehr als oberflächliche Rhetorik. In ihnen spiegelt sich vielmehr ein Stück Geschichte, genauer: Revolutionsgeschichte wider. Daran erinnert medicos scheidender Menschenrechtsreferent Thomas Rudhof-Seibert im Interview. Trotz ihrer Allgemeinheit fixiert die Erklärung die Errungenschaften von Kämpfen und Revolutionen, so sein Argument. Das gibt allerdings keinen Anlass zur Hoffnung darauf, dass unsere Regierungen sich ihnen verpflichtet fühlen, wenn sie von Menschenrechten sprechen. Rhetorik statt Revolution: Über die inhaltliche Entkernung der Menschenrechte und ihre Instrumentalisierung für westliche, imperiale Politiken schreibt medicos Geschäftsführer Tsafrir Cohen im Leitartikel. In einer Zeit, in der sich die westliche Hegemonie im Niedergang befindet, werden die Menschenrechte vielerorts als ihm zugehöriges rhetorisches Gerümpel mitentsorgt, da sie in der Vergangenheit jede Glaubwürdigkeit verspielt haben. Aktuelles Beispiel hierfür ist der Putsch in Niger – nicht der erste und nicht der letzte in der Region – über dessen Komplexität Olaf Bernau im Interview spricht.
Anstatt das Kind mit dem Bade auszuschütten, geht es heute erneut darum, die Bedeutung der Menschenrechte von unten zu erobern und zu dekolonisieren. Nur so können aus unverbindlichen Werten unveräußerliche, universelle Rechte werden. Dass dies auch in Klimafragen gilt, warum das Völkerrecht ein juristischer Schauplatz von Klimakämpfen sein kann und zunehmend sein wird, darüber schreiben medico-Kollegin Karin Zennig und Miriam Saage-Maaß vom ECCHR.
Im zweiten Schwerpunkt dieses Heftes geht es um die weltweit wachsende Bedeutung von Gefängnissen, insbesondere im Nahen Osten und in Nordafrika. In der MENA-Region stellen sie eine der brutalsten Antworten auf die Revolutionen von 2011 dar. Doch auch in Lateinamerika und Europa ist die Entrechtung durch Lager und Gefängnisse Alltag. Die Beschäftigung mit dieser Kehrseite der Menschenrechte ist Anlass für eine Veranstaltung, zu der Sie herzlich eingeladen sind. Vom 30. November bis zum 2. Dezember organisiert medico gemeinsam mit dem MENA Prison Forum und dem Theater HAU in Berlin die Konferenz „Understanding Prison“.
Ich weiß nicht, ob Hannah Arendt jetzt weitergelesen hätte. Ich würde mich freuen, wenn Sie es tun.
Ihr Mario Neumann