Liebe Leser:innen,
bald ist Europawahl. Leider, muss man wohl sagen. Denn Wahlen bereiten dieser Tage eher Angst und Sorge. Was soll aus diesem Europa nur werden?
Es gab mal eine Idee, die einen anderen Weg wies als den nach rechts. Der indische Historiker Dipesh Chakrabarty forderte vor mittlerweile 25 Jahren in seiner weltweit beachteten Aufsatzsammlung „Provincialising Europe“, dass Europa „provinzialisiert“ werden müsse. Der Kontinent sollte aus dem Zentrum der Welt gerückt werden, in dem er sich auch nach Ende des Kolonialismus weiterhin verortete. Denn die Kritik des Kolonialismus sowie die nötige Entkolonisierung bleiben machtlos, so Chakrabarty, wenn sie das Weltbild und den Horizont des europäischen Kolonialismus nicht überschreiten. Indes war sein Gedanke kein Aufruf, den mit Europa verbundenen Ideen von Aufklärung, Zivilisation und Demokratie einfach den Rücken zuzukehren. Im Gegenteil: Die „Provinzialisierung“ sollte an die Ambivalenz der europäischen Demokratie- und Emanzipationsgeschichte anknüpfen, sie aber überschreiten und universalisieren. Schließlich habe Europa Ideen hervorgebracht, die „zur Kritik an sich selbst einluden“.
Die Idee einer „Provinzialisierung Europas“ hat sich in den letzten Jahren tatsächlich verwirklicht – allerdings nicht als das Werk emanzipatorischer Kräfte. Europa hat sich vielmehr und erneut zur Provinz gemacht, indem es sich allen Versuchen seiner Demokratisierung widersetzt hat. Im Wiedererstarken von Wagenburgmentalität, Nationalismus und Militarismus ist Europa nun einem dramatischen und gefährlichen Rechtsruck ausgesetzt, der unsere Welt enger, kleiner und eben provinzieller macht. Dieser Rollback, und das ist kein Zufall, begann wesentlich damit, dass Grenzen geschlossen und schließlich militarisiert wurden. Wie dieser lange Weg nach rechts mit der Migrationspolitik verschränkt ist, lesen Sie im Leitartikel von Ramona Lenz.
medico international hat auch wegen dieser erneuten Abriegelung, die zugleich eine Ignoranz gegenüber der Kolonialgeschichte ist, gemeinsam mit der Rechercheagentur Forensic Architecture neue Kooperationen in Namibia begonnen, dem Land des ersten von Deutschland verantworteten Genozids des 20. Jahrhunderts. Die beiden Geschäftsführer Tsafrir Cohen und Eyal Weizman bereisten das Land im vergangenen Jahr gemeinsam und stellen in ihrem Artikel Überlegungen zu historischer Gerechtigkeit und einer selbstgerechten deutschen Erinnerungskultur an.
Der Gartenzwerg auf unserem Titel ist natürlich als europapolitisches Symbol doppeldeutig, steht er doch typischerweise in deutschen Vorgärten. In Sachen Provinzialisierung ist das Tempo hierzulande jedenfalls rekordverdächtig. Von „Betätigungsverboten“ für schottische Hochschulrektoren und europäische Politiker haben Sie sicher gehört. Auch medico sprang kürzlich für eine kurzfristig abgesagte Lesung mit der Bereitstellung unserer Veranstaltungsräume ein. Einen Tag vor der geplanten Veranstaltung erhielt der eingeladene Autor Nathan Thrall den renommierten Pulitzer-Preis – eine skurrile Wendung. Das Interview zu seinem Roman über die Westbank lesen Sie wie gewohnt am Ende des Heftes.
In den letzten Monaten gab es in gleich mehreren unserer Projektregionen Hochwasser. Kenia, Afghanistan, Indonesien, Brasilien: So wenig die Katastrophen in einem direkten Zusammenhang stehen, so wenig zufällig ist die Häufung von Extremwetterereignissen in Zeiten der Klimakrise. Wanjira Wanjiru vom Mathare Social Justice Centre in Nairobi berichtet beispielhaft über eine Katastrophe, die wieder einmal die Ärmsten besonders hart trifft.
Die Provinzialisierung Europas in einem besseren Sinne, als Ausweitung des Rechts aller auf ein Leben in Würde, Freiheit und mit Rechten, bleibt in diesen trüben Zeiten und allen düsteren Prognosen zum Trotz das Leitbild medicos. Dabei brauchen wir mehr denn je Ihre Unterstützung. Mit einer Fördermitgliedschaft helfen Sie uns, die Unabhängigkeit von medico zu stärken und unsere Partner langfristig zu fördern.
Für Ihre Unterstützung möchte ich mich an dieser Stelle bedanken und wünsche Ihnen eine trotz allem schöne Lektüre.
Mario Neumann