Liebe Leser und Leserinnen,
selten ist die Welt so eindeutig, wie rechte Parolen und politische Schnellschüsse glauben machen wollen. Nach dem Messerangriff in Solingen Ende August ließen die politisch Verantwortlichen keine Zweifel aufkommen, was jetzt zu tun sei. Nur wenige Tage danach legte die Regierung ein sicherheitspolitisches Maßnahmenpaket vor, zu dem die Erleichterung von Abschiebungen gehörte. Kurz darauf hob ein Flugzeug mit 28 Afghanen und hoher symbolischer Bedeutung für die deutsche Innenpolitik nach Kabul ab – der erste Abschiebeflug seit der Machtübernahme der Taliban vor drei Jahren. Im Fahrwasser des Entsetzens über das vermutlich islamistisch motivierte Verbrechen von Solingen und im Vorfeld der Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen setzte die Regierung zügig um, was rechte Demagog:innen lauthals fordern. Genützt hat es ihr nichts, wie die Wahlergebnisse zeigen.
Was der zunehmende Einfluss der extremen Rechten in Deutschland für die Außenpolitik und das Kriegsregime bedeutet, lesen Sie im Leitartikel. Auch die Entwicklungszusammenarbeit ist längst im Visier extrem rechter Parteien, Denkfabriken und Medien. Der Journalist Ulli Jentsch geht daher in diesem Heft der Frage nach: Was müssen wir tun, um humanitäre Hilfe und Menschenrechtsarbeit dauerhaft gegen Attacken von rechts zu schützen? Timo Dorsch und Jan Schikora zeigen in ihrem Beitrag, was man von der Gegenwehr zivilgesellschaftlicher Organisationen in der Zeit der rechtsautoritären Bolsonaro-Regierung lernen kann. Gegen Vereinzelung und soziale Kälte setzten sie weiterhin auf Kollektivität und Solidarität und haben dadurch viele Sympathien gewonnen. Doch auch wenn die rechtsextreme Regierung inzwischen abgewählt wurde: Solange sich an den prekären Lebensverhältnissen vieler Menschen nichts ändert, droht die Rückkehr des Autoritarismus mit seinen schlichten Antworten auf die vielschichtigen Probleme des Landes. Die USA stehen bereits in wenigen Wochen vor einer vergleichbaren Wahl: Zurück zu dem rechtspopulistischen Zyniker und Menschenfeind Donald Trump oder weiter mit den Demokrat:innen, nun unter Kamala Harris? Katja Maurers Streifzug durch New Yorker Museen und ihr Einblick in die US-amerikanische Antikriegsbewegung ist nicht nur erhellend im Vergleich zum Umgang mit Erinnerung und Gaza-Krieg in Deutschland. Er zeigt auch Dilemmata des aktuellen Wahlkampfes auf.
In Polen ist es vor einem Jahr Donald Tusk gelungen, eine rechte Regierung abzulösen und damit zum Hoffnungsträger für den Schutz der Demokratie vor weiteren autoritären Deformierungen zu werden. Katarzyna Czarnota berichtet von der polnischen EU-Außengrenze zu Belarus und der auch unter Tusk fortgesetzten brutalen Abweisung von Schutzsuchenden. Weder Harris noch Tusk noch die deutsche Bundesregierung können sich offenbar eine Demokratie vorstellen, die auch die Rechte und die Partizipation von Schutzsuchenden gewährleistet. Allen gemeinsam ist es, Menschen auf der Flucht und in der Migration das Leben immer schwerer machen zu wollen. Flüchtlinge und Migrant:innen zahlen – nicht selten mit ihrem Leben – den Preis für die falsche Hoffnung demokratischer Kräfte auf einen Burgfrieden mit den Rechten. Gegen die fortgesetzte Entrechtung von Flüchtlingen und Menschen, die ihnen zur Seite stehen, schafft medico einen Bewegungsfonds. Auf den Seiten 31 und 32 erklären wir, warum es diesen Fonds braucht und was wir gegen die Kriminalisierung von Flucht und Hilfe an Europas Grenzen tun.
Mario Neumann und Riad Othman beschreiben in ihrer eindrücklichen Reportage aus der Ukraine, wie mit der Reduzierung von Solidarität auf die Frage von Waffenlieferungen eine Vereindeutigung eingefordert wird, die der komplexen Realität vor Ort schon lange nicht mehr gerecht wird. Überhaupt ist das Heft ein Hoch auf den Zweifel und die Zwiespältigkeiten. Dafür steht auch das Titelbild mit seinem wackligen Stuhlstapel. Auch wenn es zwischen allen Stühlen unbequem ist: Genau dort ist manchmal der einzig richtige Ort.
Für mich war medico viele Jahre lang der einzig richtige Ort zum Arbeiten. Nun zieht es mich beruflich weiter. Ab Oktober werde ich mich mit Armut in Deutschland beschäftigen, aber medico und Fragen globaler Gerechtigkeit weiterhin eng verbunden bleiben. Dazu wird selbstverständlich die Lektüre des medico-rundschreibens gehören, die ich auch Ihnen und Euch – heute wie in Zukunft – von Herzen empfehle.
Solidarisch und herzlich,
Ramona Lenz