Plädoyer für eine radikale Wende in der globalen Medikamentenpolitik
35.000 Menschen sterben täglich an Krankheiten wie AIDS, Malaria, Tuberkulose, Leishmaniose. Sie sterben an sogenannten vernachlässigten Krankheiten, die Millionen Menschen in den armgehaltenen Weltregionen plagen. Der Begriff "vernachlässigt" verhüllt nur schlecht den eigentlichen Skandal: An Medikamente, die zur Behandlung solcher Krankheiten nötig wären, ist zum Teil seit Jahrzehnten nicht geforscht worden. Der Grund offenbart einen einzigartigen Zynismus: Weil diesen Menschen die Kaufkraft fehlt, fehlt auch der Markt, der Forschungsaufwendungen lohnend erscheinen ließe. Es handelt sich um einen eklatanten Fall unterlassener Hilfeleistung gegenüber Millionen von Menschen. Die dramatischen Folgen aber sind nicht auf die Länder des Südens beschränkt. Weltweit ist die Tuberkulose wieder auf dem Vormarsch. Erst jüngst ist ein TB-Bazillus aufgetaucht, der auf alle bisher existierenden Medikamente resistent reagiert.
Fest steht: Der frühe Tod von jährlich 12 Millionen Menschen wäre vermeidbar, wenn die Staaten und die internationalen Institutionen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) endlich zu einem Umdenken bereit wären: Forschung, Entwicklung und Herstellung von überlebenswichtigen Medikamenten sind als ein globales Allgemeingut zu betrachten. Wer hier nur der Privatisierung von Gesundheit das Wort redet und auf die Selbstheilungskräfte des Marktes setzt, missachtet in sträflicher Weise das Lebensrecht von Menschen.
Die große Camouflage
Das gegenwärtige System zur Forschung und Entwicklung von unentbehrlichen Arzneimitteln hat versagt. Drei Viertel der alljährlich neu auf dem Markt erscheinenden Medikamente bringen keinen zusätzlichen therapeutischen Nutzen. Lediglich ein Prozent ist armutsbedingten Krankheiten gewidmet. Statt lebensrettende Medikamente gegen die Krankheiten der Armut zu entwickeln, werden Lifestyle-Präparate gegen Haarausfall, Übergewicht und Erektionsstörungen erforscht. Sie haben ein zahlungskräftiges Publikum und versprechen entsprechende Gewinnmargen. Zugleich verhindert ein von der Welthandelsorganisation (WTO) überwachtes globales Patentrecht die Produktion von preiswerten Arzneimitteln für die Armen. Statt die Innovation im Sinne kranker Menschen zu gewährleisten, ist das Patentrecht zu einer Art Schutzwall für die Pharmafirmen verkommen, die ohnehin die Marktmacht besitzen.
Patienten zuerst
Dringend ist ein Umdenken in der globalen Medikamentenpolitik notwendig. Dafür setzt sich medico ein. Unbedingt muss der Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln gewährleistet werden. Wie Schulbücher, Zeitungen und Mittel des Nahverkehrs sind Medikamente Teil einer "sozialen Infrastruktur", ohne die Gesellschaften nicht funktionieren. Die Prioritätensetzung bei Forschung und Entwicklung ebenso wie die Sicherstellung eines kostengünstigen Zugangs zu lebensnotwendigen Medikamenten ist eine öffentliche Aufgabe. Es gilt, jenseits des Patentrechts Anreize zu schaffen, die Universitäten und Pharmafirmen zur Entwicklung solcher Medikamente veranlassen. Ein international bindender Vertrag sollte die Staaten dazu verpflichten, die notwendigen Mittel bereitzustellen. Ein Schritt auf dem Weg dahin ist ein globaler Rahmenplan für Forschung und Entwicklung, dessen Erarbeitung die WHO auf ihrer Generalversammlung im Mai 2006 auf Initiative von Kenia und Brasilien beschlossen hat. Im Dezember 2006 wird die erste Arbeitsgruppe tagen, um entsprechende Kriterien festzulegen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich im Rahmen dieser Debatte für Arzneimittel als öffentliches Gut einzusetzen. Gemeinsam mit Gesundheitsinitiativen und NGOs aus aller Welt wollen wir dafür sorgen, dass künftig gilt: Nicht Patente, sondern Patienten zuerst.
Projektstichwort: 75 Prozent der Menschen leben in Entwicklungsländern. Doch nur 8 Prozent des weltweiten Pharmaabsatzes entfallen auf sie. Die technischen und finanziellen Voraussetzungen für die Herstellung und den Vertrieb der nötigen Medikamente sind vorhanden. Gemeinsam mit unseren Partnern wollen wir auch in der Praxis deutlich machen, dass ein gerechter Arzneimittelzugang möglich ist. Wir bitten deshalb alle medico-Unterstützerinnen und Unterstützer uns im Ringen um Arzneimittel als öffentliches Gut zur Seite zu stehen und gemeinsam mit uns die verantwortlichen Politiker an ihren verfassungsmäßigen Auftrag zu erinnern, für das Allgemeinwohl zu arbeiten. Zugleich bedarf es der Unterstützung für die Arbeit der Gesundheitsorganisationen und genossenschaftlich organisierten Arzneimittelproduzenten, mit denen wir in vielen Regionen der Erde zusammenarbeiten. Das Spendenstichwort dafür lautet: Medikamente für Alle