Fördern und Fordern - Gegen eine Hilfe im Dienste des Ausschlusses

20.08.2004   Lesezeit: 5 min

Otto Schily machte es auf seine Weise klar. Inmitten des anwachsenden Protestes gegen die skandalöse Verhöhnung von Arbeitssuchenden als »Sozialschmarotzer« verdeutlichte der gelernte Humanist, dass heutzutage gerade auch die Aktiven zu Verlierern werden können. Statt diese zu fördern, verlangte er deren Ausschluss. Die Rede ist von all den Migrantinnen und Migranten der sich gegenwärtig bildenden Weltgesellschaft, die, so Schily, künftig in Lagern aufgefangen werden sollen.

Dabei müssten doch gerade sie, die sich von Afrika nach Europa auf den Weg machen, zu denen gezählt werden, die die neoliberale Botschaft von Flexibilität und Mobilität am meisten verinnerlicht haben. Sie verlassen Heimat und Familie, geben traditionelle Sicherungssysteme auf, riskieren alles, um den lockenden Versprechungen zu folgen, suchen ihre Chancen, verhalten sich ganz so wie die offiziell gepriesenen unternehmerischen Ich-AGs – und kommen doch nirgendwo an.

Die Migrantinnen und Migranten unserer Zeit aber spielen, anders noch als zu Zeiten der Blockkonfrontation, keine Rolle mehr. Sie bleiben chancenlos und verbannt in die Welt des Ausschlusses, weil sie weder als Produzenten noch als Konsumenten der globalisierten Ökonomie von Nutzen sind und sich auch politisch nicht mehr instrumentalisieren lassen. Sie haben nichts, das sie als Verhandlungsmasse in die Waagschale werfen könnten. Sie sind überflüssig, einfach nur eine Störvariable, die es zu kontrollieren gilt.

Die ganze fürchterliche Wahrheit aber wollte der deutsche Innenminister dann doch nicht eingestehen. Statt von der Errichtung neuer Barrieren sprach er von Lagern, die zum Schutz der Flüchtlinge geschaffen werden. Eine verkehrte Welt, die an Orwells negative Utopie erinnert und zu der auch passt, dass hierzulande die Abschiebegefängnisse nun euphemistisch »Ausreisezentren« genannt werden – so als ginge es nur darum, den Flüchtlingen Service und Hilfestellungen bei ihrer Heimkehr zu erweisen.

Der gesellschaftliche Ausschluss ereignet sich aber nicht nur von den Rändern her; er findet auch aus der Mitte der Gesellschaft heraus statt. Auch hierzulande fallen immer mehr Menschen der sozialen Marginalisierung und ökonomischen Zerrüttung zum Opfer. Selbst wer Hunderte von Bewerbungen schreibt und bereit ist, Familie und Heimat zu verlassen, um am anderen Ende der Republik eine neue Arbeit zu finden, kann zum Verlierer werden, weil es für ihn in dem unseligen Spiel, das kapitalistische Verwertung heißt, keinen gesicherten Platz, keine dauerhafte Möglichkeit der Teilhabe mehr gibt.

Kaum bemerkt gerät bei all dem auch die Hilfe in ihr Gegenteil. Statt weiter um Integration bemüht zu sein, steht sie mehr und mehr im Dienst der Exklusion. Nicht die Streichung der EU-Agrarsubventionen, die endlich eine auf den Weltmärkten konkurrenzfähige afrikanische Landwirtschaft entstehen ließe, steht auf dem Programm, sondern der forcierte Aufbau vorgelagerter Grenzschutzkontrollen entlang der nordafrikanischen Küste. Länder wie Spanien und Italien sehen in solchen Sicherheitsmaßnahmen längst Projekte einer bilateralen Entwicklungszusammenarbeit, die obendrein noch davon abhängig gemacht werden, dass sich die Empfängerländer, Tunesien und Libyen beispielsweise, zur Rücknahme von Flüchtlingen verpflichten.

Den Ausgeschlossenen zu helfen und ihren Ausschluss zugleich zu zementieren, darin liegt die Paradoxie einer Hilfe, die sich auf das notdürftigste Abfedern der negativen Folgen des herrschenden Systems beschränkt. Hilfe für Menschen in Not bleibt unbedingt auch weiterhin notwendig, nicht aber die, die sich nun anheischig macht, das offenbar lukrativ gewordene Feld zu erobern.

Tatsächlich steht zu befürchten, dass nun auch das helfende soziale Handeln flexibilisiert werden soll. Wenn in Brüssler Geberkreisen kürzlich die Forderung »untying the aid« laut wurde, so ist damit nicht gemeint, komplizierte Vergabekriterien den Realitäten im Projektgeschehen anzupassen, sondern öffentliche Entwicklungsgelder künftig auch der Privatwirtschaft anheim zu stellen. Denn das Business hat bereits die Hand nach der Hilfe ausgestreckt. Auch sie soll von allen lästigen Fesseln befreit werden (tie, zu dt.: Band, Krawatte, Fessel, Verpflichtung), so als wären es bislang die solidarischen Helfer gewesen, die mit Schlips und Kragen durch die Welt gegangen seien und nicht die Geschäftsleute. Eine ethisch begründete Verpflichtung zur Hilfe jedenfalls wird es tendenziell immer weniger geben. Und so passt Otto Schilys Idee der vorgelagerten Auffanglager zum erstaunlichen Eingeständnis der deutschen Politik, dass Hartz IV weniger mit Fördern und Fordern zu tun hat, als mit einer angeblich alternativlosen Herabsetzung des Lebensstandards derjenigen, für die es in der eigenen Gesellschaft keinen Platz mehr gibt. Hilfe verkommt zur Absicherung von Spaltung und Ausschluss.

Was aber sind die Alternativen? Die Rückkehr zu einem autoritären Wohlfahrtsstaat, der von der Idee normativer Standard-Biographien getragen wird? Oder die Entfaltung eines emanzipierten Lebens, das nicht unbedingt in lebenslangen Normalbeschäftigungsverhältnissen zum Ausdruck kommen muss? Selbstbestimmtes Leben bedeutet Offenheit für Veränderungen, schließt Brüche ein und so auch Phasen von Unsicherheit. Damit solche Offenheit, in der alleine sich neue Lebensformen entfalten können, nicht zum Zerfall von Gesellschaftlichkeit führt, wie das gegenwärtig der Fall ist, muss Offenheit umso mehr gesellschaftlich abgesichert werden.

In einer künftigen Gesellschaft sollte deshalb niemand mehr von Ausschluss bedroht sein. Ohne die Garantie einer generellen Existenzsicherung sowohl im materiellen wie auch im Sinne gesellschaftlicher Teilhabe wird Gesellschaftlichkeit nicht zu retten sein. Nur wo den sozialen und politischen Rechten der Menschen entsprochen wird, können sich tragfähige eigenverantwortliche Lebensformen jenseits von staatlicher Bevormundung und jenseits von Staatszerfall entwickeln. Diesen Prozess zu unterstützen und die entsprechenden Initiativen von Menschen in aller Welt zu fördern, gehört auch zu den Aufgaben einer Hilfe, die eine andere Welt im Auge hat. Damit bekämen Fördern und Fordern wieder einen emphatischen Sinn.

Thomas Gebauer


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